XXII

In der Zeit in der sie auf Freundinnenbesuch in ihrem geliebten Strasbourg ist – nach den zwei Wochen und nach einer Woche, in der es ihm schien, es könnte funktionieren, aber es war wie immer schicksalhaft schiefgelaufen – da hatte er versprochen, nicht zu telefonieren und keinen Kontakt zu ihr zu suchen. Er soll zu sich selber finden. Endlich. Die Zeit für sich nützen. Er wird ihr jeden Tag eine SMS schicken, in denen nur Positives steht. Seine erste wird die Sonne Strasbourgs beschwören, die ihr Herz erwärmen sollte. Sie sollte ein wenig dieser Wärme für die Zukunft mitnehmen. Wird sie seine SMS unter denen erkennen, die der andere ihr schreibt? Wollte er in Konkurrenz zu ihm treten, die schöneren Botschaften schicken? Er wusste, dass sie am Tag vor der Abreise wieder Kontakt zu ihm aufgenommen hatte. Es war ihm bewusst, dass er durch sein Verhalten sie beinahe dazu gezwungen hatte. Warum zerstörte er das, was ihm am wichtigsten in seinem Leben war? Er lief am Sonntagmorgen wie ein Besessener durch die Wohnung, um wenigstens irgendetwas zu tun.
Schon am Tag vor ihrer Abreise hatte er abends die Flucht vor sich versucht, ist einfach durch die Stadt gelaufen, an den Menschen vorbei, die nicht seine Tränen sahen und seine Leere. Erscheinen, verwandeln, verschwinden. Er war in ihrem Leben erschienen, hatte sich an ihr verwandelt und nicht bemerkt, dass er sich selber verloren hat. Er brauchte nicht zu verschwinden, denn es gab ihn nicht mehr. Hier erkannte er nüchtern eine Parallelität der Entwicklungen: in dem Ausmaß, in dem sie ihre Liebe zu ihm verlor, war er verschwunden. Er hatte sich ihr zu sehr ausgeliefert, war nicht mehr er selbst gewesen sondern nur mehr ein Geschöpf ihrer Phantasie. Er nahm sich selber nur mehr durch sie wahr, als der Ausbund des Bösen, der Zerstörer, der Masochist.
Wenn sie nicht da war, wie sollte er flüchten? Es stellte sich nicht die Frage nach dem Wohin, sondern die Frage: Wer?
Wer war er? Wer war er gewesen? Wer hatte er sein wollen?
Wie hatte er sich ihr gegenüber nach der Entdeckung ihres Betruges beschrieben? Er hatte sie gefragt: „Weißt du, wie Hunde ausschauen, die von einem Auto überfahren werden?“ „Ja, da kann man nicht hinschauen!“ „Nun, ich bin jetzt von einem Laster mit seinen Zwillingsreifen überfahren worden!“ Sie nahm es als Übertreibung wie alles, was er tat. Er übertrieb maßlos. Wie oft hatte sie über seine Schätzungen ironische Bemerkungen gemacht. Wahrscheinlich dachte sie, es war höchstens ein Radfahrer, der dich gestreift hat.
Er stellte sich diese Fragen ohne Bitterkeit. Es war geschehen und konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wie alles geschehen war, wie es geschehen musste. Er wird in der Woche, während sie fort ist, jeden Abend durch die Straßen laufen, in Bars teilnahmslos einen Drink nehmen, dann in das leere Heim zurückkehren.
Am zweiten Tag wird er denselben Weg nehmen wie am vorigen, wird nur die Differenzen beachten. Ein Kind, das in einem Hausflur von der Mutter geschlagen wird, der Mond über der Hauptstraße, der kaum an Kraft gewonnen hat– der Vollmond wird einen Tag vorüber sein, wenn sie zurückkehrt. Auf dem Hauptplatz sitzt ein alter Mann mit Hut und Brille auf der metallenen Bank vor dem Kaufhaus und starrt teilnahmslos vor sich hin. Er wird nach einer Runde in eine andere Bar gehen, in den ersten Stock, wird zuerst Wasser lassen und wird sich an der Bar bei der Kellnerin ein Bier bestellen, das er langsam austrinkt. Er wird den schwulen Kellner beobachten, der auch bei der Arbeit seine Homosexualität nicht verbirgt. Er wird im Spiegel das Paar neben sich beobachten, das sich rasch näher kommt und sich schließlich küsst, wenn er das Bier fast leergetrunken hat. Und als er in den Spiegel schaut, um sich zu entdecken, wird er sich nicht finden. Der Platz ist leer, er sieht nur das Bild, das hinter ihm hängt. Die Kellnerin sieht ihn zumindest so deutlich, dass er zahlen will und wünscht ein schönes Wochenende. Er verkneift sich eine zynische Bemerkung. Als er an der Bank vor dem Kaufhaus vorbeigeht, ist diese leer. Er setzt er sich an den Platz, an dem der alte Mann gesessen war. Die Menschen gehen vorüber und beachten ihn nicht. Irgendwann, wenn die Kälte langsam von unten aufsteigt, wird er aufstehen und nach Hause gehen. Nach Hause? Sein Zuhause war sie. Und er hat keine Tränen, dass es für ihn kein Zuhause gibt. Keine Bitterkeit, nur Leere.
Warum hatte er sich so an sie gekettet, sich selbst nur mehr durch sie definiert?
Hatte sie es von ihm gefordert? Nein.
Hatte sie es zugelassen? Nein.
Hatte sie es je bemerkt? Nein.
Warum kamen alle Versuche zu spät, dieses Ertrinken in ihr, diese Auflösung seiner Existenz in ein Geschöpf, das allein in ihrem Kopf vorhanden war, zu verhindern? Als sie nach Strasbourg fuhr, war er längst verloren. War es nicht das, was er immer ersehnt hatte? Aufzugehen in einem anderen, der alle Macht über ihn hatte, der über ihn verfügen konnte, der entschied, ob und wie er leben durfte? Nach den zwei Wochen hatte sie diese Macht endgültig erreicht. Hatte sie wohl schon lange besessen. Sie nahm ihn gar nicht mehr wahr, sondern sie kommunizierte nur noch mit dem Bild, das sie sich von ihm erschaffen hatte. Dieses Bild konnte sich nie verändern, denn er hatte keinen Einfluss auf ihre Wahrnehmung, die eine Kommunikation mit sich selber darstellte. Er hatte keine Chance, so sehr er sich bemühte, so sehr er darum kämpfte.
Er konnte nun nicht einmal mehr vor sich selber fliehen, da sie ihn in ihrem Kopf mitgenommen hatte. Seine Existenz war allein in ihren zürnenden, fordernden Blicken, in ihrer Zurückweisung. Er war vollkommen aufgegangen in ihr, sie hatte ihn aufgesaugt, war eine Symbiose mit ihr eingegangen.
Er wird an jenem Tag, an dem sie für gewöhnlich im Wohnzimmer schlief, ein altes Post-It nehmen, das sie ihm vor nicht allzu langer Zeit hinterlassen hatte, und es im Vorzimmer an die Tür zum WC heften. In der für sie schwungvollen Schrift stand darauf lapidar: „Einen guten Morgen! C. PS: Das Klo fließt nicht ab!“ Damals hatte er eine halbe Stunde mit bloßen Händen in ihrer Scheiße gewühlt, um den Abfluss wieder frei zu bekommen. Aber das tat ein telefonisch herbeigerufenes Unternehmen zu Abflussreinigung wohl auch.
Die erste Nacht ohne sie war eine Qual – es war die Hilflosigkeit, zu der er verurteilt war. Nichts tun zu können, um seine Situation zu verändern. Einfach nur abwarten zu können, warten, bis etwas geschieht. Bis sie etwas tut. Es konnte nicht soviel Hausarbeit geben, um die Leere zu füllen. Die Fixierung auf sie hatte solche Ausmaße angenommen, dass er nicht einmal mehr einen Zeitungsartikel lesen konnte, ohne irgendwelche absurden Bezüge zu ihr herzustellen.
Noch nie in seinem Leben hatte er eine solche Abhängigkeit seines Körpers von seinen Gedanken gefühlt – seine Hände begannen immer wieder zu zittern, das Herz begann zu rasen, der Klumpen im Hals ließ ihn kaum atmen. Auch Tränen brachten ihm keine Erleichterung, denn sie versiegten, da er leergeweint war.
Sein Sohn, der am Vortag nach Freistadt zu ihren Eltern gefahren war, hatte ihm beim Abschied angeboten, ihn auch mit dem Auto zu holen, wenn er nachkommen wollte. Am Sonntag Morgen rief er in Freistadt an und bat seinen Sohn, ihn zu holen, denn die Decke fiele ihm auf den Kopf.
Plötzlich wusste er, warum es dieses Mal so anders war – es war die absolute Hoffnungslosigkeit. Es war das Ende. Er war tot, auch wenn er noch atmete.
Auch wenn sie zurückkehrte, seine Liebe war zu Ende. Der Traum war ausgeträumt. Die Illusion zerplatzte in all ihrer Phrasenhaftigkeit.
Er wird ins Bad gehen, duschen, rasieren. Dann wird er auf seinen Sohn warten.