„Ich liebe dich.“ Und er fügte hinzu, zögerlich, leiser: „Noch“. Oder war es ein „Doch“? Er wird sich auch lange danach nicht mehr erinnern können, welches Adverb er nachgeschoben hatte. Und er wird sie nie danach fragen. Er presste sie mit seinem rechten Arm gegen sich, küsste ihren Kopf durch die dichten, blonden Haare hindurch und wandte sich nach links ab, um seine Schlafposition einzunehmen. Sie wandte sich wie üblich in den rechten Teil des zwei Meter breiten Ehebetts ab. Auch sie nahm ihre übliche Schlafposition ein. Beide verzichteten auf das übliche „Gute Nacht“.
Sie werden in dieser Nacht vielleicht wieder einmal Ruhe finden, ein wenig mehr, als die von ihrer Physis eingeforderten Unterbrechungen des Kampfes. Er wird mindestens einmal im Verlaufe der Nacht aufstehen, um Wasser zu lassen. Wenn sie tief schlief, merkte sie es nicht. War ihr Schlaf flach, dann nahm sie einen Schluck Wasser aus dem Glas, das neben ihrem Bett stand. Der alte Parkettfußboden im Schlafzimmer wird bei seiner Rückkehr knarren, die Zimmertür wird begleitet von einem leisen Quietschen vorsichtig geschlossen werden. Er wird versuchen, weiter zu schlafen. Manchmal gelang es ihm, manchmal blieb er ruhig liegen und lauschte ihrem Atmen. Schlief sie? So lag er manchmal drei oder vier Stunden, bis der Radiowecker mit klassischer Musik beide ans Aufstehen erinnerte.
Das Leben nahm wieder sein Tempo und seinen Rhythmus auf. Nach den zwei Wochen.
Autor: admin
-
Prolog
-
I Ton.Fälle
Er saß in seinem Arbeitszimmer vor dem Computer und entwickelte ein Konzept für eine Lehrveranstaltung des kommenden Wintersemesters, die er zum wievieltenmaleigentlich an der Universität Graz halten sollte. Da erinnerte er sich, dass er mit ihr, die wie immer am Samstag im Wohnzimmer saß und vermutlich Zeitung las, ins nahe gelegene Cafe Meier gehen wollte. Er stand auf, nahm das geleerte Glas, das er üblicherweise mit Mineralwasser und Orangenjuice gefüllt bei seinem Computer stehen hatte, und machte sich auf, durch das Esszimmer, in welchem sie heute Morgen gemeinsam gefrühstückt hatten, durch das langgestreckte Vorzimmer in die Küche zu gehen. Wie immer an einem Samstag hatte er das Frühstück zubereitet – Espresso mit einer jener klassischen italienischen Espressomaschinen, für sie manuell aufgeschäumte Milch, für sie frisch gepressten Orangensaft mit ein wenig Zitronensaft – während sie unterdessen frisches Gebäck vom nahen Bäcker geholt hatte.
Als er an der geschlossenen Wohnzimmertür vorbeikam, hörte er, dass sie telefonierte. Es musste auf ihrem Mobiltelefon sein, denn das Festnetz in der gemeinsamen Wohnung, die sie seit 27 Jahren bewohnten, war entweder im Vorzimmer oder im Arbeitszimmer zu benützen, aus dem er eben gekommen war. Er blieb stehen, da er das Gespräch nicht unterbrechen wollte. Vermutlich eine ihrer Freundinnen, dachte er – sie hatte ihren, seit einer mehrere Jahre zurückliegenden, einjährigen beruflichen Tätigkeit in Strasbourg, alljährlichen Besuch in Strasbourg Ende des Monats geplant. Hier gab es einigen Koordinierungsbedarf, zumal das übliche Quartier nur zeitweise verfügbar war und eine Übersiedlung für zwei Tage in ein anderes Zimmer notwendig war, was mit Hilfe einer Freundin vor Ort organisiert werden musste. In diesem Ausweichzimmer wird sie sehr schlecht schlafen werden, denn es liegt an einer belebten Hauptstraße im Zentrum von La Petite France. Sie hatte damals während ihrer Arbeit für das Europäische Parlament im früheren Gerberviertel am Ufer der Ill gewohnt, das von mehreren Kanälen durchzogen wird und mit seinen malerischen Fachwerkhäusern, kleinen Gassen und den typischen Dachgauben eine Touristenattraktion ersten Ranges ist. Er hatte sie damals zwar mehrmals besucht und diese Kleinstadt zwischen zwei Kulturen auch schätzen gelernt, sie verbat sich allerdings bei den alljährlichen Reminiszenzreisen seine Begleitung, da sie es als „ihr“ Strasbourg empfand, das alleine ihr gehören sollte. Während der kommenden zwei Wochen wird er allerdings entdecken, dass auch andere Gründe dafür ausschlaggebend gewesen sein könnten.
Sie sprach noch immer. Er wandte sich ab, da es nicht seine Art war, sie zu belauschen. Er ging durch das Vorzimmer in die Küche, und stellte das Glas in die Abwasch und spülte es kurz aus.
Da er nichts mehr hörte, dachte er, das Gespräch wäre nun zu Ende und ging durch das Vorzimmer zu der anderen Türe, die von hier ins Wohnzimmer führte. Sie war nur angelehnt. Sie telefonierte immer noch. Er zögerte kurz, blieb stehen. Da fiel ihm ein seltsamer, fremder Tonfall auf, den sie sonst nie beim Telefonieren hatte. Sie war darin geübt, denn ihr Beruf erforderte lange konzentrierte Telefonate. Für diese hatte sie einen sehr sachlichen Ton entwickelt, den sie auch in Privatgesprächen verwendete. Auch mit ihm.
Er verstand nur wenige Worte wie „Du“, „aber nein“. Sie alle waren mit einer solchen Eindringlichkeit gesprochen, die er schon lange nicht mehr in ihrer Stimme – auch nicht im persönlichen, vertrauten Gespräch – gehört hatte. Hatte er jemals ihre Stimme so gehört? Er war irritiert. Da es schon spät war, klopfte er nach einer Weile des Lauschens kurz an die halb geöffnete Tür und trat ins Wohnzimmer. Sie – die zuvor auf dem Zweiersofa gelegen hatte – richtete sich abrupt auf und sagte in ihr Mobiltelefon, das er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte: „Gut, das können wir dann später besprechen!“ Ihre Stimme war bei seinem Eintreten schlagartig in den üblichen Tonfall zurückgekehrt. „Mit wem hast du telefoniert?“ „Mit einer Juristin!“ Die Antwort kam spontan, die Stimme klang aber unsicher. Wie wenn man ein Kind bei einer verbotenen Tätigkeit ertappt hatte.
„Fabian hat mich wegen eines Mietvertrags etwas gefragt“, ergänzte sie, um seinen Fragen zuvor zu kommen.
Fabian war ihr gemeinsamer Sohn, der seit drei Jahren in Wien studierte. Er erinnerte sich, dass sie sich gestern am Freitag mit einer Kollegin – dieser Juristin? – hatte treffen hatte wollen, und dass sie, als er via Email nachgefragt hatte, wo, dieses Treffen stattfände, dieses wegen einer Tennispartie mit Freundinnen abgesagt, und sich mit ihm wie jeden Freitag um die übliche Uhrzeit – 13:30 – im Cafe Meier getroffen. Für die Absage bestand eigentlich keine Notwendigkeit, denn zwischen dem geplanten Treffen zum Mittagessen mit der Kollegin und dem Beginn der Tennispartie lagen vier Stunden. Es hätte ihm nichts ausgemacht, alleine Essen zu gehen, wie er das an Montagen und Freitagen häufig tat. Schließlich war er nicht nur ein Jahr lang während ihres Aufenthalts in Strasbourg Selbstversorger gewesen, sondern auch während der beinahe direkt anschließenden zwei Jahre, die sie in Wien für das Außenministerium tätig gewesen war.
Der Nachmittag im Cafe verlief wie sonst immer – er wollte sprechen und sie las die Zeitung. Der Tonfall des belauschten Telefonats ging ihm auch im Cafe nicht mehr aus dem Sinn. Dabei blickte er sie wohl längere Zeit an.
„Was starrst du mich so an? Ich mag das nicht!“
Ihr Tonfall klang verärgert, obwohl es doch keinen aktuellen Grund gab. Sie hatten in den letzten Monaten im Vergleich zum Frühjahr eine sehr harmonische Beziehung gelebt. Vor allem ein gemeinsamer Urlaub in Österreich hatte ihn glauben machen, dass ihre in den letzten Jahren etwas angespannte Ehe wieder ins Lot gekommen war. Er war glücklich darüber, denn er erlebte auch bei ihr eine größere Zufriedenheit mit der gemeinsamen Lebensführung. Dieser Tonfall ihrer Stimme … Er kannte sie gut und wusste, dass sie spontan während eines Gespräches einen Stimmungsumschwung hatte, der nicht nur ihn sondern auch andere Personen in ihrer Gegenwart irritierte. Ihren Sohn und ihre Mutter, aber auch eine Kollegin, mit der sie in einer Bar gewesen waren.
Er war mit einem Mal argwöhnisch geworden.
Als er später am Nachmittag mit seinem Sohn Fabian telefonierte und er ihn nach dem Problem mit dem Mietvertrag fragte, erfuhr er, dass das nicht ihn beträfe sondern einen Freund, dass das aber schon länger zurückläge und eigentlich nicht so wichtig bzw. schon mehr oder minder geklärt wäre.
Da ihre Antwort auf seine Frage so rasch und spontan gekommen war, musst sie darauf vorbereitet gewesen sein, wird er später schließen.
Sie war professionell.
Auch beim Lügen musste man professionell sein.
Vor allem beim Lügen. -
II Bruch.Linien
Er fühlte bei dem für ihren Sonntag üblichen, gemeinsamen Frühstück, dass sie ihn beobachtete, sein Schweigen belauerte. Hatte er gestern etwas gemerkt? Hatte sie sich verraten? Verraten durch die Geschäftigkeit, mit der sie nach dem ersten Telefonat, das er zufällig mitgehört hatte, ein weiteres mit ihrem Sohn zum Mietvertrag geführt hatte. Entgegen ihrer Angewohnheit, sich beim Telefonieren zurückzuziehen oder zumindest leise zu sprechen, hatte sie die Tür zum Nebenraum offen gelassen und so betont deutlich gesprochen, dass er jedes Wort verstehen musste. War das zu offensichtlich gewesen? Ihr Blick schien zu fragen: Verbirgt er vor mir, dass er etwas gemerkt hat? Verbarg sie nun vor ihm, dass sie gemerkt hatte, dass er irritiert und misstrauisch geworden war?
Sie ging nach dem Frühstück wie jeden Sonntag, an dem es das Wetter zuließ, in den Murpark joggen.
Müde von der schlaflosen Nacht und mit dem Wunsch, endlich Gewissheit zu haben, holte er aus ihrer Handtasche, die wie immer im Vorzimmer auf einem Stuhl lag, ihr Mobiltelefon, mit dem sie das von ihm gestern belauschte Gespräch geführt hatte. Er suchte – behindert durch die ihm fremden Begriffe im französischen Menü – das hatte sie seit Strasbourg auf allen ihren Telefonen eingestellt und aus nostalgischen Gründen beibehalten – die Liste der letzten Anrufe. Er hoffte, die Nummer des gestrigen Anrufers zu erfahren, den sie auf seine Frage hin beiläufig als „befreundete Juristin“ bezeichnet hatte. Er landete bei seiner Suche auf ihrem Handy schließlich in der Mailbox mit zwei noch abzurufenden Nachrichten.
Er drückte auf die Wahltaste und hielt das Handy ans Ohr. Eine Frauenstimme buchstabierte zunächst eine Telefonnummer. Er wollte die Nummer notieren, die gleichzeitig auf dem Display aufschien, und ging mit dem aufgeklappten Mobiltelefon noch am Ohr in sein Arbeitszimmer. Auf dem Weg dorthin folgte nach einer kurzen Pause die Nachricht, die in der Mailbox gespeichert war. Er war überrascht und verstand kaum die Worte, die nun eine männliche Stimme sprach, er registrierte nur den Tonfall, jenen sanften, eindringlichen Tonfall, den er gestern auch in ihrer Stimme beim Telefonieren gehört hatte. Dieser Tonfall war es, der ihn gestern schon irritiert hatte, sodass ihn die Erklärung „befreundete Juristin“ misstrauisch machte.
Er war benommen. Er blieb stehen. Ging ein, zwei Schritte. Blieb stehen.
Er wollte schreien, doch nur ein „Nein!“, mehr geflüstert als gebrüllt, brachte er zustande.
Die Nachricht sprach von einem „später nochmals versuchen wollen“ und endete mit einem Klick.
Und schon sprach die Frauenstimme erneut eine Nummer. Dieselbe Nummer wie bei der ersten Nachricht erschien auf dem Display. Er stand schon in seinem Arbeitszimmer, als die zweite Nachricht ablief. Auch sie verstand er unter dem Brausen des Blutes in seinem Kopf und in seinen Ohren kaum. Es war ihm, als wollte sein Körper damit das Hören übertönen. Nur wenige Worte wird er später erinnern: „Schatzi“, „Bussi“, „bis Montag“ und „Vielleicht inzwischen ein Brieflein“. Später wird er mehr spüren als erinnern, dass diese Stimme in einer tieferen Tonlage noch Intimeres angesprochen hatte, aber das hatte er im Sturm der Gefühle nicht mehr gehört.
Er reagierte wie ein Automat, ging langsam zurück ins Vorzimmer, legte das Mobiltelefon in die noch offene Handtasche zurück. Schloss diese, damit sie nichts merkt.
Er lief minutenlang in der Wohnung umher, schwer atmend, er war einer Ohnmacht nahe. Er ging in die Küche, trank ein Glas Wasser, ein zweites, ein drittes.
Nun schrie er – konnte endlich schreien: „Nein! Nein! Nein!“
Er hielt sich an der Abwasch in der Küche fest.
Wieder lief er durch die Wohnung, während sie wohl arglos das Joggen genoss. Er lief durch alle Räume der Wohnung, auch in das Zimmer ihres Sohnes und legte die von dessen Besuch am letzten Wochenende noch zusammengeknüllte Tuchent sorgfältig zusammen. Er klopfte die Polster aus und strich sie glatt. Aus der Küche trug er das schon abgewaschene Geschirr und stellte es in den Geschirrschrank im Esszimmer.
Noch immer dieses Pochen in seinen Schläfen. Diese Schläge. Er zwang sich zur Ruhe. Immer wieder auf und ablaufen, wobei er alle Türen leise und sorgfältig, wie es seine Art war, hinter sich schloss. Es liefen die Routinen des Alltags. Sie beruhigten seine Gedanken.
Er suchte nach Erklärungen. Harmlosen. Vielleicht war es der behinderte Kollege, mit dem sie in letzter Zeit sehr vertraut geworden war, und der sie so abschätzig „Schatzi“ nannte. Nein, dessen Stimme kannte er. Die Stimme aus der Mailbox hatte viel älter geklungen. Weit über fünfzig, sechzig sogar.
Hatte die Stimme eine Dialektfärbung gehabt? Hatte er diese Stimme schon gehört? Da schoss es ihm in den Kopf. Der Klang, der Tonfall war es, der ihn erinnerte. Es war ein aus seiner Jugend geläufiger Tonfall. So klang manchmal die Stimme seines Vaters, der im Vorjahr verstorben war. Nicht die Stimme aus den letzten Jahren, die sich mit der körperlichen Gebrechlichkeit verändert hatte, sondern die Stimme des Vaters seiner Kindheit.
Er spürte mit den Erinnerungen zugleich Wut und Angst. Er wollte nochmals das Mobiltelefon holen, nochmals die beiden Nachrichten abrufen. Er vermochte es nicht, denn trotz allem fühlte er Scham. Er wog kurz die Scham des Vertrauensbruches gegen ihre Scham des offensichtlichen Betruges.
Nach den zwei Wochen wird er denken, dass es sein musste. Wie hatte sie diese Beziehungen leben können, ohne innerlich gespalten zu sein? Ohne ständig auf der Hut zu sein? Hatte sie sich nie eingestanden, dass die zahlreichen Spannungen aus ihrer abweisenden Verteidigungs- und Vertuschungshaltung herrührten, die sie an manchen Tagen gegenüber allem einnahm, was er sagte und tat? War sie davor mit ihm beisammen gewesen? Hatte sie ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen? Hatte sie überhaupt ein Gewissen?
Er hörte die Nachrichten auf ihrem Mobiltelefon nicht noch einmal ab, weil er es nicht ertragen hätte. Vor allem ein Wort rotierte in seinem Kopf: „Schatzi“. „Bussi“ war beiläufig gesprochen. Fast nebenher. Aber „Schatzi“. Sie hatte sich schon am Beginn ihrer nun dreiunddreißigjährigen Beziehung alle Kosenamen verboten und wollte nur mit ihrem Vornamen angesprochen werden. Auch bei Zärtlichkeiten und beim Beischlaf nannte er nur ihren Namen. Ihren vollständigen Namen. Keine Koseform. Nichts Intimes. Nichts Schmutziges. Wann hatte sie ihn das letzte Mal mit seinem Namen angesprochen? Es wurde ihm bewusst, dass sie das wohl schon seit vielen Jahren nicht mehr getan hatte. Nicht einmal, wenn sie ihn rief. Hatte sie ihn nie gerufen?
Namen waren ihr wichtig, das erkannte er auch aus ihren Texten, die sie in den letzten Jahren verfasst hatte. Sie fühlte sich zur Schriftstellerin berufen und hatte drei schon in Strasbourg und Wien begonnene Erzählungen zu einem Roman zusammengefasst. Ihre Frauentrilogie, wie sie diese zunächst genannt hatte. Sie hatte die Namen aller Personen mit Bedacht und Sorgfalt gewählt. Und jetzt ein „Schatzi“, ein Wort, das ihm aus seiner Kindheit und Jugend vertraut war, als er – halbwüchsig schon – von Huren am Strich angesprochen wurde: „Schatzi, mach ma was?“„Schatzi“ nannten auch die Zuhälter ihre „Pferdchen“. Er war in Meidling, einem Wiener Vorstadtbezirk, aufgewachsen, der einige anrüchige Viertel besaß. Sein Schulweg ins Gymnasium führte entlang des auch heute noch belebten Gaudenzdorfer Strichs. Jedes Kosewort hätte er ihr gegeben, dieses aber wäre das Letzte gewesen. „Schatzi“ war das Letzte. Sein Vater, dem er einmal heimlich an der Hand der Mutter gefolgt war, hatte die Huren so genannt, zu denen er ging. Er versuchte das Wort auszusprechen, es kam nicht über seine Lippen. Ihn ekelte vor diesem Wort. Er fühlte nur mehr Schmutz, der alle seine Gedanken verschüttete.
Als sie vom Joggen zurückkam, öffnete er wortlos die Tür, und ging, während sie sich wie immer zum Duschen ins Bad begab, in sein Arbeitszimmer und setzte sich an den Computer. -
III Be.Trug.Schlüsse
Er erledigte Routinearbeiten wie Mailabruf, Statistikkontrolle, Wetterprognose für heute Mittag, um zu wissen, ob sie in ihrem Stammlokal einen Tisch im Freien oder drinnen reservieren sollten. Er erledigte Aufgaben, die man tun konnte, ohne dabei zu denken. Er löschte die Spam-Mails, leitete eine Mail an einen Kollegen weiter. Warf einen Blick auf die Schlagzeilen der ORF-News, blätterte kurz im Sportteil. Registrierte die Kritik einer Opernpremiere am Landestheater. Daran wird er sich nach Monaten noch erinnern. Sogar an den Namen der in der Kritik hervorgehobenen Sängerin der Titelpartie. Und dass sein Fußballverein am Vortag wieder einmal verloren hatte, 0:2.
Gezielte, auf das für ihn unfassbare, undenkbare Geschehen bezogene Reaktionen, werden noch einige Zeit auf sich warten lassen. Manche erst nach Wochen und Monaten auftauchen. Gedanken der Sinnlosigkeit, der Hoffnungslosigkeit, der Angst, Selbstmordgedanken und Verlust des Interesses an sonst in seinem Leben interessanten Dingen. Er wird in den kommenden zwei Wochen nicht mehr den Fernsehapparat einschalten, nicht einmal für die Nachrichtensendungen, die er sonst täglich gesehen hatte. Neben Schlafstörungen, Ängsten und depressiven Symptomen wird er “Flashbacks” erleben, in denen diese Minuten der Entdeckung ihres Betruges wie in einem inneren Film und in sich gewaltsam aufdrängenden Bildern ablaufen, Stimmen und Gedanken sich quälend wiederholen. Dieser innere Film wird ihn auch nach Jahren noch begleiten, irrealer und absurder vielleicht, wird er ihm dann erscheinen. Fremder. Nicht auf ihn bezogen. Aus einer anderen Welt. Manchmal.
Eine gewichtige Rolle spielte in seinem Leben die ihm eigene Treue. Hatte er einmal zu etwas eine tiefere Beziehung aufgebaut – waren es nun Gegenstände oder Menschen -, so hielt er an ihnen fest. Hielt an ihnen fest mit einer ihm ebenso zuzuschreibenden Beharrlichkeit und Sturheit, die ihn auch dann treu sein ließen, wenn ihm dies zum Schaden gereichte. Ein Freund riet ihm, sich eine andere Wohnung zu suchen, seine täglichen Abläufe und Gewohnheiten zu ändern, Neues zu versuchen. Doch er zog es vor, die erst in den Jahren der beruflich bedingten Trennung begonnen täglichen Spaziergänge am Murufer weiter zu führen und dabei den Gedanken und Sehnsüchten von damals nachzuhängen, die ihm anfangs Tränen in die Augen getrieben hatten. Selbstmitleid? Wahrscheinlich. Gewiss. Er litt mit sich selber und genoss es in einem erheblichen Ausmaß. Er blieb sich auch darin treu.
In den Routinearbeiten an seinem Computer kam er doch allmählich zur Ruhe – er reservierte einen Tisch in ihrem Stammlokal in Urfahr, das sie bei schönem Wetter jeden Sonntag besuchten. Seine ersten Gedanken galten der Überlegung, ob er zunächst alles für sich behalten sollte oder ob er sie damit konfrontieren sollte. Der Entschluss war rasch getroffen, denn letztlich blieb ihm keine Wahl. Er wollte ihr eine Chance geben und es indirekt versuchen. Er hörte den Föhn im Bad laufen. Sie hatte also ihre Haare gewaschen und das Föhnen dauerte bei ihren langen Haaren immer sehr lang. Es blieb ihm noch Zeit.
Er tippte die Telefonnummer – die hatte sich durch die Ansage der Frauenstimme in der Mailbox und durch das Aufleuchten am Display in seinem Gehirn menetekelgleich eingebrannt, während er ihre Mobiltelefonnummer bis zu diesem Tag nicht behalten hatte – in sein eigenes Handy. Er drückte nach einem Durchatmen die Ruftaste. Erst nach einigen Sekunden läutete es. Einmal. Zweimal. Er unterbrach die Verbindung. Hatte er Angst? Er drückte die Rufwiederholung. Dieses Mal ließ er es fünfmal läuten, dann eine Frauenstimme: „Diese Nummer ist zur Zeit nicht erreichbar. Bitte … “ Er drückte abermals die Rufunterbrechung. Was hätte er sagen sollen? Wollte er denn überhaupt wissen, mit wem sie es trieb, während sie sich ihm schon seit Monaten verweigerte? Sie schliefen wohl miteinander. Eher, sie ließ es geschehen, dass er mit ihr schlief. Das war alles. Eheliche Pflichterfüllung. Nun fiel ihm auch ein, dass er sie in letzter Zeit häufig telefonisch nicht an ihrem Arbeitsplatz erreicht hatte, sondern sie sich nach Auskunft der Sekretärin einen Urlaubstag genommen hatte. Da sie das früher auch schon einige Male getan hatte, war er nicht wirklich argwöhnisch geworden, denn meist berichtete sie selber davon. Wegen des schönen Wetters wäre sie spontan nach Wien in eine Ausstellung gefahren. Oder nach Salzburg.
In seiner aktuellen Stimmung begann er von seinem wissenschaftlich geschulten, akribisch denkenden und analysierenden Verstand angetrieben, Vieles in der Vergangenheit neu zu interpretieren. Es musste neu interpretiert werden. Vor allem ihre Beziehung. Als sie nach dem Duschen aus dem Badezimmer kam, schlug er ihr vor, einen kleinen Spaziergang noch vor dem Essen zu machen. Sie willigte nur zögernd ein, hätte den Spaziergang lieber nach dem Essen gemacht. Nein, das wollte er nicht. Er fürchtete, keinen Bissen hinunterzubringen. Und in diesem Lokal, in das sie dreißig Jahre fast jeden Sonntag gegangen waren – hatte er da seine Treue ihrem gemeinsamen Alltag aufgezwungen? – , hätte er nie die Sprache darauf bringen können. Es musste vorher geschehen. Es gelang ihm, sie zu überreden.
Gleich nach dem Verlassen des Hauses suchte er ein Gespräch über ihre Beziehung, dass er sich sorge, Gedanken mache. Sie blockte wie immer solche Gespräche im Ansatz ab. Häufig endeten diese Gespräche im Streit, denn sie warf ihm vor, er hätte so wenig Verständnis dafür, dass sie mehr Distanz bräuchte. Besonders seit sie nach dem Jahr in Strasbourg und den beiden Jahren in Wien es wieder gewohnt war, die meiste Zeit alleine zu leben. Er müsse das verstehen. Sie bräuchte es.
Sie gingen bei ihrem Weg zum Mittagessen im Murpark wortlos nebeneinander her. Sie überquerten auf der Eisenbahnbrücke die Mur. Danach fragte er unvermittelt, ob sie diese Telefonnummer kenne. Er zeigte ihr auf seinem Handy die Telefonnummer. Sie warf nur kurz einen Blick darauf und schüttelte spontan den Kopf. Er bemerkte in ihrem Gesicht kein Erstaunen, keine Betroffenheit, obwohl sie diese Telefonnummer doch kennen musste. Das irritierte ihn. Hatte sie diese Frage erwartet? War sie darauf vorbereitet gewesen? Hätte sie nicht wenigstens fragen müssen, was es mit dieser Nummer auf sich hat? Welchen Grund hätte er, sie mit dieser Nummer zu konfrontieren? Sie ging nur neben ihm weiter, als hätte es diese Frage nicht gegeben. Ihr Schritt beschleunigte sich nicht, blieb stetig und ruhig wie ihr Blick, der seinen vermied. Wie meist, wenn er in ihrem Gesicht lesen wollte. Sie hatte nach ihrer Reifeprüfung Schauspielerin werden wollen und hatte auch mehrere Jahre Schauspielschulen in Salzburg und Wien besucht, auch dann noch, als sie schon mit dem Studium der Psychologie begonnen hatte. War sie so gut in der Verstellung, oder kannte sie diese Nummer nicht? Ihre Ruhe irritiere ihn. Oder war es Gleichgültigkeit?
Er las ihr nochmals die Nummer vom Display seines Handys vor. Nein, sie könne damit nichts anfangen.
„Ich kann mir doch nicht alle Nummern merken!“
Sollte sie die Nummer nicht wenigstens in ihrem Telefonverzeichnis prüfen?
„Wozu?“ Sie sah ihm dabei offen ins Gesicht. Nicht ein Zögern, nur ein Anflug von Ärger. Einen Ärger, den er kannte, den sie auf seine Fragen hin oft an den Tag gelegt hatte, obwohl es bei den Fragen nur um Alltägliches ging. Sie hasste es, gefragt zu werden. Vor allem zweimal. Er schwieg und steckte sein Handy wieder ein.
Das Mittagessen verlief wie sonst.
Er spielte Vertrauen.
Am Nachmittag sandte er an das „riesige Arschloch“ mit dieser Telefonnummer eine SMS-Botschaft, in der er diesem empfahl, „sich ins Knie zu ficken“. Und an die Mobilnummer seiner Frau sandte er eine Mail, dass es mit dem „Bussi, Schatzi und den Brieflein“ jetzt vorbei wäre.
Später wird ihm diese Reaktion lächerlich, kindisch erscheinen.
Betrogene machen sich selbst zu Narren.
[Fritz Aigner: Der Betrüger] -
IV Stör.Fallen
Die nächste Nacht verbrachte sie wie üblich im Wohnzimmer, wo sie zwei alten Matratzen aufeinander liegend zu einem bequemen Bett für Gäste eingerichtet hatten. Da er an Montagen nicht an seinem Arbeitsplatz an der Universität arbeiten musste, schlief sie dort, ließ sie ihn morgens schlafen und nahm das Frühstück in einer nahe gelegenen Bäckerei.
Seine Nacht war schlaflos.
Er zählte alle Viertelstunden die Schläge der Repetieruhr im Esszimmer.
Eins, zwei – eins, zwei – halb vier.
Eins, zwei – eins, zwei, drei – dreiviertel vier.
Er stand auf und ging ins Wohnzimmer. Er setzte sich neben sie auf den Boden.
Um vier Uhr vermutete er durch ihr unregelmäßiges Atmen und mehrere Bewegungen ein Wachsein und flüsterte nach einigen Minuten des Abwartens, ob er etwas sagen könne.
Er wusste zwar nicht, was er hätte sprechen sollen, aber er wollte aus dem Karussell seiner Vermutungen, Ahnungen, Befürchtungen ausbrechen.
Ein Wort von ihr hätte vielleicht genügt. Sie stellte sich schlafend, davon war er überzeugt – wie so oft in letzter Zeit, wenn sie gemeinsam im Ehebett schliefen. Da er meist einmal in der Nacht Wasser lassen musste und er dabei hörte, wie sie wach war oder wurde und einen Schluck aus dem Glas nahm, das neben ihrem Bett stand, wusste er, dass sie nicht schlief.
Wenn das nahe der Aufstehenszeit war, machte er ihr dann manchmal den Vorschlag zum Kuscheln – meist lehnte sie ab, aber einmal war sie vor einiger Zeit doch in seinem Arm eingeschlafen.
Jetzt hoffte er an ihrem Bett sitzend auf eine Reaktion. Vielleicht könnte er seine Gedanken durch eine Berührung zum Verstummen bringen. Er legte die Hand auf ihren Rücken. Sie reagierte nicht.
Sie schwieg wie immer. Wollte schweigen. Verschlossen.
Er konnte sie nicht fragen.
Nach einer halben Stunde erhob er sich und ging leise, um ihren Schlaf nicht zu stören – der Schlaf war ihr in den letzten Jahren immer heiliger geworden – zurück ins Schlafzimmer.
Da waren sie wieder, alle die Gedanken, die Stimmen.
Er stand noch vor ihrer üblichen Weckzeit auf und wusch in der Küche das Geschirr vom Vortag. Als sie dann ins Bad kam, eröffnete er ihr, dass er heute ausnahmsweise nicht liegen bleiben wollte, da er einen Kaffee brauche und sie praktischerweise gleich mittrinken könne.
Er war überhaupt sehr praktisch veranlagt. Auch etwas, das sie an ihm allmählich zu hassen begonnen hatte. Er organisierte alles, perfektionierte die Abläufe und verlangte von ihr, das auch zu tun. Indirekt gab er ihr manchmal zu verstehen, dass man für den Abwasch am Sonntag Vormittag nicht eine halbe Stunde braucht, sondern dass das in fünf Minuten zu erledigen wäre. Und er erledigte es in drei. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sie sich absichtlich so lange Zeit ließ, sich in der Küche einfach auf den Stuhl setzte und Radio hörte. Sie täuschte Haushaltsarbeit vor.
Um nicht mit ihm zusammenzutreffen?
In der ersten Zeit ihres Zusammenlebens hatte er sie morgendlich mit klassischer Musik und seinen Kenntnissen dazu beinahe vergewaltigt – sie empfand es zumindest so. Ihr widerstrebte es, beim Musikhören geprüft zu werden. Sie wusste, dass die klassische Musik aus seiner Zeit mit seiner ersten Liebe stammte. Seit ihrer Zeit in Strasbourg nützte sie die Musik, um ein Gespräch zu vermeiden. Eine ihrer ersten Handlungen am Morgen war das Einschalten der Musik. Sie duschte mit Musik. Sie schrieb ihre Erzählungen bei Musik. Sie verwendete Musik als Schutzschild gegen seine Stimme. Gegen ihn.
Schon vor den zwei Wochen hatte er begonnen, selber am Morgen die Musik in der Küche und im Esszimmer, in dem sie gemeinsam das Frühstück einnahmen, anzuschalten. Klassische Musik, die sie in Wien durch Radio Stephansdom lieben gelernt hatte. In Strasbourg war es noch die U-Musik aus ihrer Jugendzeit gewesen – Radio Nostalgie.
Er hoffte, durch das Aufdrehen der Musik, die sie schätzte, ihr wieder näher zu kommen. Musik war doch jetzt etwas, das sie verband.
Nachdem sie die Wohnung verlassen hatte, erledigte er seine übliche Computerarbeit. Routinetätigkeiten gingen ihm leicht von der Hand.
Heute würde er es tun, würde er die Konfrontation suchen. „Bis Montag“ hatte die Stimme gesagt. Heute war Montag. Sie würde wissen, dass er heute hinter ihr hinterher spionieren würde. Sie würde ein geplantes Treffen mit „ihm“ in der Mittagspause absagen.
Sie wusste, dass er wusste. Sie hatte es in seinem Blick gesehen. In seinem Blick, der ihr in all den Jahren immer mehr Angst gemacht hatte, den sie bedrohlich fand. Auch dann, wenn er liebevoll war. Seine Liebe war eine Bedrohung. Eine Bedrohung für das, was sie in den letzten Jahren erkämpft hatte – hatte sie es erkämpft oder war es einfach geschehen? War ihr die Beziehung mit dem anderen Mann nicht auch nur einfach passiert?
Als er um halb zwölf mit Blumen an ihrem Arbeitsplatz auftauchte – früher, als sie noch in der Nähe der Wohnung in der Altstadt gearbeitet hatte, brachte er ihr einmal in der Woche Blumen vorbei, oft nur an die Klinke gesteckt. Wie ein Briefbote war er wieder verschwunden.
Auch in der letzten Zeit vor diesen zwei Wochen und nach ihrer Auszeit im Frühjahr – sie war nach einem Streit für einen Monat in ein Kloster gegangen – hatte er diesen Brauch wieder aufgenommen.
Heute hatte sie damit gerechnet.
Als er eintrat – er lauschte nicht an der Tür – hatte sie mit „ihm“ telefoniert, brach aber das Gespräch genauso sachlich ab wie jenes von vor zwei Tagen. Sie hatte Routine.
Sie musste diese Gespräche nicht nur vor ihm verbergen, sondern auch bei der Arbeit.
Er schlug ihr vor, gemeinsam Mittagessen zu gehen.
Sie wusste, sie konnte nicht ablehnen.
Er setzte sich nach gequältem Smalltalk an den Tisch einer Kollegin, die hier mit ihr das Büro teilte und heute wie fast jeden Montag auf Außendienst war.
Nach kurzer Zeit klingelte das Telefon und als sie zögernd abhob, hörte er deutlich seine Stimme „Geht es jetzt?“
Er hätte schreien mögen: „Nein! Er ist noch da!“
Aber ihm versagte die Stimme, es wurde schwarz vor seinen Augen und sein Puls raste, er atmete schwer wie gestern, als er die Stimme in der Mailbox gehört hatte.
Sie blieb kühl und antworte – was hörte er nicht mehr.
Der Puls dröhnte in seinen Ohren.
Später konnte er sich nur noch daran erinnern, dass sie ihm zweimal Wasser brachte. Und dass er sie anflehte – ohne Tränen, denn in ihm war auch der Schmerz gestorben -, mit dem anderen Schluss zu machen.
Erst später erinnerte er sich daran, dass sie ihm gesagt hatte, dass sie ihn nicht so betrogen hätte, wie er dächte.
In den zwei Wochen würde sie es abermals bekräftigen.
Wollte sie „ihn“ schützen?
Wollte sie ihn schonen?
Wollte sie sich schützen?
Sie, die ihn bisher immer ohne Schuldgefühle belogen hatte, sollte darin die Wahrheit sagen? Er betete abends – das hatte er seit seiner Kindheit nicht aufgegeben – , dass er ihr wieder vertrauen könne. Wie sollte das Leben sonst weitergehen.
Das Mittagessen gemeinsam war schweigend.
Das war kein Thema, mit dem man in der Öffentlichkeit, und war es auch nur ein Schanigarten, auftrat. Hereinspaziert, hier wird ihnen etwas geboten! Hier erleben Sie die tragische Geschichte einer Frau, die nicht lieben kann und eines Mannes, der nichts als Liebe will. Beide lebten glücklich zusammen, bis ein Nebenbuhler auf den Plan trat. Sie werden ein Gemetzel erleben, in dem kein Stückchen Fleisch auf den Knochen zurückbleibt.
Am Nachmittag rief er die Nummer, die noch immer in seinem Gehirn eingebrannt war, an, denn er wollte mit „ihm“ reden. Er wollte mit ihm eine Lösung finden. Aber „er“ hatte sein Mobiltelefon auf Mailbox umgestellt. „Er“ kannte wohl die Nummer. Er bot ein Gespräch an, auch eines unter Beisein der Betrüger und der Betrogenen. Er nahm an, dass auch „er“ verheiratet war. Welche Quartett würde das ergeben. Eintritt sollte man wohl verlangen dürfen.
Später würde er erfahren, dass dieser Telefonanschluss dem größeren Netz einer IT-Firma zuzuordnen war, wobei die Nummern nicht alle fest einzelnen Personen zugeordnet werden. Der Liebhaber seiner Frau würde danach die Nummer wechseln und bei einem Anruf der Nummer eine Sekretärin abheben.
Via Email informierte er sie im Büro von diesem Anruf. Aus Fairness, wie er sagte. Er tat es aber auch, um ihr klar zu machen, dass jetzt eine Entscheidung fallen müsse. Sie müsse sich entscheiden. Diese Lügen müssten ein Ende haben. Und er war sich dessen ganz kühl bewusst, dass er es auch für sie tat. Nicht aus Liebe.
Weil er plötzlich erkannte, wie sehr sie in den letzten Jahren gelitten haben musste, um diese Flucht zu versuchen. Diese Flucht vor ihm und seiner quälenden Einengung. Seiner Gegenwart.
Nach diesem Anruf tat sich vor ihm eine Leere auf, wie er sie noch niemals zuvor gespürt hatte.
Es war ihm, als wäre er überhaupt nicht vorhanden.
Und er konnte sich bei dieser Nichtexistenz beobachten.
Leere, einfach Leere. -
V
Er hatte in der Nacht danach zum ersten Mal wieder Schlaf gefunden. Keinen tröstlichen, keinen der die Gedanken beruhigt hätte. Die Gedanken waren auf seltsame Weise eingeschlafen und gönnten seinem Körper Ruhe.
Als er – in Routinen war er gut, die beherrschte er auch in Krisenzeiten – am Morgen das Frühstück bereitete während sie im Bad war, fühlte er, dass jetzt alles zu Ende war.
Er wird später keine Erinnerung mehr an das Frühstück haben, was sie gegessen haben, was sie gesprochen haben.
Er wird sich nicht mehr erinnern, dass sie sagte, eine schreckliche Nacht gehabt zu haben. Und dass sie sich entschieden habe, zurückzukehren und die Affäre zu beenden.
Sie hatte es sicher nicht so genannt, denn sie fühlte sich auf eine gewisse Weise nicht schuldig. Er wird sich später unscharf daran erinnern, dass sie anfügte, dass sie jetzt nicht wisse, ob es die richtige Entscheidung war, eine Entscheidung für die tristere Alternative.
Sie wusste in diesem Augenblick, dass es noch nicht vorbei war. Dass es noch Szenen geben würde, dass sie erneut drohen würde, ihn zu verlassen, wie sie es in der Auszeit schon einmal getan hatte.
Wie sie es ganz früh in ihrer Beziehung mehrmals getan hatte, einmal als er gegen ihren Willen zu einem Fußballspiel seines Wiener Vereins, für den er in seiner Jugend selber gespielt hatte, hier in Graz gegangen war. Damals war er nach dem Spiel nach Hause gekommen und hatte die gemeinsam eingerichtete Wohnung verlassen vorgefunden. Sie hatte damals noch studiert und schrieb an ihrer Dissertation, die er methodisch unterstützte, indem er ihre Daten auswertete.
Heute würde sie sagen, er hat auch das an sich gerissen.
Er hatte sich an jenem Abend sofort ins Auto gesetzt und war mit allem, was der Wagen hergab, und das waren an die 190 km/h – damals gab es keine Geschwindigkeitsbeschränkungen.
Er war zu ihrer Studentenwohnung in der Burggasse gefahren und fand sie auch dort nicht vor. In dieser Wohnung hatten sie ihre ersten Liebesnächte verbracht. Jeden Tag kam er am Abend zu ihr und blieb bis nach Mitternacht. Gemeinsam hörten sie „Musik zum Träumen“, wenn sie nach dem Geschlechtsverkehr ermattet und glücklich im Messingbett lagen. War die Kennmelodie „Last Date“ von Duane Eddy, die ihre gemeinsamen Abende beschloss, ein schicksalhafter Titel? Er wird nach Strasbourg auf ihrer Homepage eine Seite einrichten, auf der über YouTube diese Kennmelodie in verschiedenen Varianten zu hören ist. Er würde sie am 26. Oktober, am Tag ihrer Verlobung vor dreiunddreißig Jahren bitten, den Laptop einzuschalten und auf ihre Homepage zu gehen. Im Lebenslauf soll sie auf den Link „Wien“ klicken. Wird sie in der Erinnerung an diese Zeit – in der Beschwörung, denkt er – bereit sein, sich noch einmal auf einen gemeinsamen Weg zu machen?
Sie wird am Verlobungstag nach den zwei Wochen wegen des verlängerten Wochenendes einen Trip nach Mallorca machen. Später auf ihrem Amtscomputer werden die YouTube-Videos gesperrt sein. Sie wird die Signation nie mehr hören.
Bei der Schlusssignation der Sendung zog er sich damals in der Anfangszeit an und ließ sich von ihr bis zur Türe begleiten. In dieser Garconniere hatten sie sich verlobt, auf sein Drängen hin. Am Nationalfeiertag, damit sie stets an diesem Tag nicht in die Arbeit mussten. Ein Kalkül, das auch für den Hochzeitstag galt: 1. Mai.
Sie ließ es rückblickend aus Liebe mit sich geschehen. War die telegrafische Reaktion ihres Vaters – beide hatten an jenem Abend vom Westbahnhof aus ein Telegramm an die beiden Familien geschickt – Programm, denn er schrieb, dass sie endlich zur Ruhe kommen könne. Sie waren die Nacht beisammen geblieben, nicht zum ersten Mal. Als seine Mutter es einmal gemerkt hatte, dass er erst am frühen Morgen zurückkam, warf sie ihm vor, „ein Verhältnis zu haben“. Hier reagierte sein Vater nicht wie früher, als er sich meist die Vorwürfe verstärkend auf ihre Seite geschlagen hatte, sondern lapidar. „Er ist alt genug“.
Ja, er war mit siebenundzwanzig Jahren alt genug.
Alt genug für ein Verhältnis.
Da ihre Wohnung im Verbund mit anderen Studentenwohnungen im ersten Stock eines Gründerzeithauses oberhalb einer Fleischhauerei lag – der Besitzer war übrigens der Vermieter, dem sie einmal im Monat die Miete in Bar bringen musste; heute befindet sich dort eine Pizzeria -, gelang es ihm, in die Wohneinheit zu gelangen, da die Tür nur langsam ins Schloss fiel, als einer der Studenten seine Wohnung verließ – war es der Chinese?
Er saß an die zwei Stunden vor ihrer Zimmertür und wartete. Sie kam nicht. Er schrieb eine Nachricht und setzte sich in das Auto und fuhr nach Graz zurück.
Er hätte beinahe einen Unfall gehabt, da er für einen Fuchs, der mitten auf der Fahrbahn saß, bei hundertneunzig Stundenkilometer den Wagen verriss und ihn erst am Pannenstreifen wieder unter Kontrolle brachte, knapp bevor dieser wegen eines engen Brücke endete.
Es war nicht das erste Mal, dass sie nach Wien geflüchtet war. Das erste Mal war er mit dem Wagen sogar vor ihr bei ihrer Wohnung. Beim ersten Mal nahm er sie mit und sie ließ es geschehen.
Beim zweiten Mal kam sie freiwillig zurück. Später hat sie sich oft daran erinnert und nährte ihre Zweifel, ob sie damals die richtige Entscheidung getroffen hatte. So wie an diesem Tag in den zwei Wochen.
Sie wird auch nach Strasbourg zweifeln und in seinem Bemühen, alles richtig zu machen, jene alten Muster erkennen, die sie so verabscheute. Wie oft hatte er sie in seinem Leben wegen eines konkreten Verhaltens kritisiert und zurechtgewiesen, oft auch ungerechtfertigt. Oft empfand sie schon eine einfache Frage wie „War das Mineralwasser schon leer?“, während sie gerade eine Flasche aus der Küche in den Abstellraum trug, als Provokation.
Wenn er aber sah, wie sie nach einer solchen Lappalie unter seiner „Zurechtweisung“ litt und wie verletzt sie war, entschuldigte er sich für gewöhnlich bei ihr. Dieses Muster – sie nannte es „Erst hinpecken und dann entschuldigen“ – würde sie sich ab nun – nach Strasbourg – nicht mehr gefallen länger lassen. Sie begann permanent damit zu drohen, ihn sofort zu verlassen.
Dieses kritisierte Verhaltenmuster hatte allerdings ein Komplement: Da er sich für Kritik entschuldigte, die seiner Meinung nach gerecht war – er hatte sie seiner Erinnerung nach nie bewusst aus Bosheit kritisiert -, blieb das Dilemma, einen Fehler begangen zu haben, an ihm hängen, sodass im Zurücknehmen seine Kritik zurückgewiesen oder noch verstärkt wurde und er erneut einen Anlauf nahm, um seine Frustration über ihr Verhalten los zu werden.
Hätte er sich nicht entschuldigt, wären diese Situationen vermutlich nicht eskaliert. Es hätte zwar eine Verstimmung gegeben, aber es wäre vorbei gewesen und es wäre nicht der Rest geblieben, der dann zu einer Eskalation führen musste.
Besonders irritierte ihn in dieser letzten Zeit, dass sie nach einer Kritik an seinem Verhalten ein Ende der Diskussion postulierte, sich die von ihm geforderte Erklärung zwar anhörte, aber nicht darauf reagierte. Es wäre wohl kein Problem gewesen, wenn sie diese Erklärung als für sie nicht zutreffend zurückgewiesen hätte, aber sie schwieg. Sie war wie ein tiefer Brunnen, in den man einen Stein fallen ließ, man aber das Auftreffen auf der Wasseroberfläche nicht hörte und so im Ungewissen war, ob man getroffen hatte.
Konnte er nach den zwei Wochen aus dieser nun nüchternen Analyse eine Lehre ziehen und sein Verhalten ändern? Er zweifelte wie immer, wollte es aber versuchen. Wie oft hatte er schon versucht … Zuletzt doch nach ihrer Rückkehr aus Wien, in die sich ein anderer gedrängt hatte. Wie konnte er etwas richtig machen, wenn der andere von vorneherein schon richtiger war?
Wie der stieg in ihm der Zweifel an die Möglichkeit, doch einen gemeinsamen Weg zu finden hoch. Der Zweifel machte Angst.
Und die Angst ließ ihn zweifeln.
Es war ein Teufelskreis.
Der Zweifel war auch der Begleiter ihres Lebens.
Daher suchte sie rastlos nach immer Neuem.
Stets auf der Suche nach einer Gewissheit.
Noch etwas, woran sie sich festhalten konnte.
Aber was sie auch suchte, sie fand immer nur sich selbst, ihre Sehnsucht und ihre Angst.
Warum konnten sie beide ihre Ängste nicht in einem gemeinsamen Gefäß des Vertrauens einschließen? -
VI
Ihr Leben sollte leicht sein, nicht so schwer wie seines. Immer, wenn er in den ersten Tagen dieser Zwei Wochen das Gespräch suchte und dabei Tränen in den Augen hatte, wurde sie darob wütend. „Bei dir ist alles so elendiglich schwer!“
Warum verschloss sie sich der immer wieder erlebten Realität, dass „einfach zu Leben“ nicht zu haben war, jenes Leben, das sie sich erträumt hatte. Träume, die zu Illusionen werden, sind ein stärkerer Ballast als die Erinnerung an Enttäuschungen.
Es war das Leben, wie es sich ein Teenager vorstellt, nicht wie es eine erwachsene Frau erleben könnte. Vielleicht war das der Zauber der ewigen Kindheit, der manchmal in ihrem Lächeln lag. Heute seltener als am Beginn. Dieses Kind hatte er auch noch an ihr erlebt, als sie eine reife Frau geworden war. Sie war erwachsen geworden und wollte doch ein Kind bleiben.
Ihm war es in vielen Dingen gelungen, ein Kind zu bleiben. Sie war absolut und ausschließlich erwachsen geworden, denn sie definierte sich über ihren Beruf, oder wie sie sagte, sie liebte ihre Arbeit über alles.
Er liebte Zeit seines Lebens das Spiel, auch die Arbeit war ihm immer mehr zum Spiel geworden. Wer das Spiel liebt, bleibt darin ein Kind, darf es zumindest in diesen Momenten wieder sein. Das hatte er auch seinem Sohn vermittelt.
Sie schüttelte innerlich den Kopf, wenn die beiden Männer – ihr Sohn war zu ihrem Bedauern auch ein Mann geworden – auch jetzt noch mit Stofftieren sprachen und einander damit auch ihre Zuneigung ausdrückten. Sie hatte ihrem Sohn aus Kalkül früh eine Puppe geschenkt, eine mit Schlafaugen, eine, wie sie sie damals als Kind bekommen hatte. Die Puppe liegt heute noch unberührt – jungfräulich? – in einem Kinderwägelchen bei anderem Spielzeug in einem Abstellraum. Es funktioniert nur mehr ein Auge, aber das war eher ein Produktionsfehler als Folge des Spiels mit ihr. Die Puppe fand nie den Weg in das Bett der Männer. Wollte sie mit der Puppe ihre Kindheit in ihm fortsetzen? Sie wählte Geschenke mit Bedacht, verlieh den Gegenständen Bedeutung. Welche Bedeutung hatte diese Puppe?
Auch im Schenken hatte sie versagt.
Das Leben fällt nicht in den Schoß, sondern will erkämpft sein. Auch gegen sich selber, gegen das Faulbett der nachgetragenen Liebe. Hatte er es ihr auch zu leicht gemacht? Von Anfang an?
Warum war sie immer zu ihm zurückgekehrt, trotz immer schwächer werdender Liebe. Warum hatte sie sich jetzt doch wieder für ihn entschieden, auch wenn ihr Begehren tot und die Gefühle für ihn zerstört waren? Für ihn, den sie für all ihr Unglück verantwortlich machte, für das, was ihr widerfahren war und das, das noch auf sie wartete.
Auch als sie seinen Ring ablegte und den Mann verließ, den sie dreiunddreißig Jahre begleitet hatte, blieb sie bei ihm, wenn auch als Gast. Wenn sie ihn doch nicht mehr liebte.
So sehr er auch jetzt noch an eine gemeinsame Zukunft glaubte, so sehr er aus ihrem bloßen Hiersein immer wieder Hoffnung schöpfte, so sehr schmerzte ihn die bei ihr erlebte Desillusionierung, die sie nichts mehr erwarten ließ. Sie begann erst jetzt, ihre Illusionen zu zerstören, das, woran sie bisher geglaubt hatte. In ihren Augen lag in diesen Tagen soviel Müdigkeit, dass er ihr wieder seine Schulter zum Ausruhen geboten hätte, wenn sie es gewollt hätte.
Er erlebte es, als ob sie in einem tiefen, dunklen See versänke und er mit ihr.
Schweigen kann schmerzen.
Warum schrie sie nicht um ihr Leben, warum bettelte sie nie um Liebe?
Warum öffnete sie nicht ihren Schmerz. Schrie ihren Schmerz hinaus. Er hätte ihn gehört.
Warum waren es stets nur Wut und Zorn?
Früher hatte sie noch weinen können, wenn er sie verletzt hatte. Jetzt verletzte er sie nicht mehr, denn er könne sie nicht verletzen. Trotzig schleuderte sie ihm diesen ihren Triumph entgegen.
Er hatte in den ersten Tagen nach der Entdeckung niemanden, mit dem er darüber sprechen konnte. Der gemeinsame Sohn, der während ein paar Tagen in ihre zwei Wochen eingedrungen war, bemerkte die Stimmung, die ihm aus den letzten Jahren vertraut war, die er flüchtete, da er mit beiden litt.
Wie weh tat es ihr, dass sie in den letzten Jahren immer mehr erkennen musste, dass sich ihr Sohn, den sie doch auch gewollt hatte und über alles liebte, immer weiter von ihr entfernte. Sie hatte ihm doch niemals weh getan, ihn vor seinem manchmal all zu strengen Vater geschützt.
Manchmal hatte er in der Kindheit des Sohnes das Gefühl, dass sie versuchte, das Kind seinem Vater zu entfremden. Es tat ihm weh, denn er liebte seinen Sohn inniglich. Und er liebte sie. Sie warf ihm Eifersucht vor und bemühte sich noch mehr, das Kind an sich zu binden. Er hatte ihrem Werben nichts entgegenzusetzen, vor allem, da er das Kind nicht als Unterpfand ihrer verlöschenden Liebe missbrauchen wollte. Er kämpfte nicht um das Kind, denn er fühlte, dass es ihn trotz seiner allzu oft seelisch schmerzhaften und auch verletzenden Erziehung liebte. Sie sah nie, dass die manchmal für sie so offensichtlichen Demütigungen des Kindes auch stets die Entschuldigung und Versöhnung zur Folge hatten.
Auch er litt unter den Verletzungen seines Sohnes – auch er erhielt Schläge, die sie nicht sah, und auch er musste lernen, mit diesen umzugehen. Sie sah nicht die realen und gefühlten Umarmungen, die die beiden aneinander banden. Die beiden lebten wohl jene symbiotische Beziehung, die sie so sehr ersehnte und an die sie in manchen Augenblicken mit ihrem Sohn auch geglaubt hatte.
Sie glaubte manchmal, jetzt zu besitzen, für immer zu besitzen.
Sie wusste nicht, dass er die Radausflüge, die sie mit dem Sohn unternahmen, bewusst nicht durch seine Begleitung stören wollte. Er hätte sie mit dem Auto begleiten können, hätte ihr Quartiermacher sein können.
Er konnte warten.
Sie erlebte jede dieser Verletzungen des Kindes durch ihn als ihren Triumph. Innerlich fühlte sie sich in solchen Situationen ihrem Sohn so nahe wie noch nie einem Menschen zuvor.
Wie glücklich war sie damals gewesen, als sie sah, dass er eher ihr nachgeriet als dem Vater. Wie stolz war sie auf alles was er tat, zuletzt auf sein erfolgreich verlaufendes Studium.
Warum hatte sie ihn dennoch verloren? Sie suchte nach rationalen Erklärungen – wie immer. Als sie nach Strasbourg gegangen war, lebten die beiden Männer beinahe ein Jahr zusammen, haben gemeinsam die Wohnung seiner Eltern in Wien – seine Mutter war schon lange tot, der Vater im Vorjahr gestorben – für die erste Studienzeit vorbereitet. Er hatte sich dabei einen Bandscheibenvorfall beim Versiegeln des Fußbodens zugezogen. Dafür liebt man seinen Vater. War es in dieser Zeit geschehen? Als er ihr einmal erzählte, dass sich ihr Sohn vor Jahren, als sie nach Strasbourg gegangen war, zum einsamen, weinenden Vater ans Bett gesetzt und ihn wortlos aber inniglich getröstet hatte, empfand sie nur Zynismus. „Wie schön für Dich!“
Hass, Zorn und Wut brauchen keinen Trost.
Besonders nach der Zeit in Strasbourg schmerzte es sie, wenn sie die Vertrautheit der Gespräche der beiden Männer fühlte – sie hatten so viele gemeinsame Themen. Welche Themen hatte sie mit ihm?
Nicht die bedingungslose Liebe band die beiden Männer aneinander, sondern der Kampf, der erlebte Schmerz, die gegenseitigen Verletzungen, die Versöhnungen, das aus Enttäuschungen wieder erstandene Vertrauen.
Einmal warf sie ihm vor, dass sie doch nichts von ihrem Sohn wüsste. Er fühlte, wie weh es ihr tat. Sein Trost half nichts. Seine Worte erreichten sie nicht, denn sie lebte in einem Schneckenhaus oder der Vorstellung davon, das keine Verletzungen zuließ, in das man jederzeit flüchten konnte.
Wie viele Jahre hatte sie schon dieses Schneckenhaus nicht mehr verlassen? Am Beginn ihrer Beziehung hatte er ihre Verschlossenheit – wieder diese Symbolik eines Namens: ihr Name bedeutete aber nicht nur „Verschlossene“ sondern auch „Hinkende“; war es ihr Schicksal, in ihrem Leben immer nur zu versuchen, ihre Behinderung zu überspielen, statt sich dem gebotenen Arm – sein Name symbolisiert den wehrhaften Krieger, aber auch den Beschützer – anzuvertrauen – zwar gespürt, doch in seiner grenzenlosen Naivität und auch Stärke hatte er geglaubt, irgendwann ihren mit der Zeit noch gewachsenen Panzer durchbrechen zu können.
Für ihn war es Liebe, sich dem anderen ohne Schutz und Waffen auszuliefern, auch wenn man dann verletzlich war, sogar dann, wenn man wusste, dass man verletzt werden würde.
Sie nannte das schlicht Masochismus.
Warum hatte sie aus dem Kampf mit ihm in den ersten Jahren ihrer Beziehung nicht die Bedingungslosigkeit der Liebe kennen gelernt? Kann Liebe denn Schmerz und Kampf sein, nicht Bitten sondern Fordern, nicht sich Hingeben sondern Nehmen, nicht Zärtlichkeit sondern Gewalt, nicht Streicheln sondern auch Schlagen. Fühlte sie nie, dass wenn er sie an den Händen, an den Schultern, am Kopf packte und sie zwang, sich ihm zu stellen, aus ihr nicht ein Kind machte – so bezeichnete es sie -, sondern dass er sie damit aufforderte, Stellung zu beziehen, sich dem Leben zu stellen.
Das war doch nicht das Leben, das Lieben, das sie erträumte.
Das sie seit Anbeginn ihres Lebens erträumt hatte und als ein Licht vor sich hertrug.
Ein Licht, das längst verloschen war.
Illusion. -
VII Wider.Sprüche
Widerspruch war sein Lebenselixier.
Als Kind nannten ihn seine Eltern zuerst trotzig, später einen Oppositionsgeist. Schon in der Volksschule hatte er es mit Pfeifen versucht, während der Lehrer vortrug – er wurde angepasst. Blieb es lange – das trug ihm den Beinamen „Christkind“ ein. Er dachte: Er ließ sich anpassen. Spielte Anpassung. Seine Umgebung war zufrieden, denn er machte auf alle den Eindruck, angepasst zu sein. Er spielte manchmal Überanpassung. Er war beinahe ein Engel. Erst später nach der Pubertät – in ihr hatte er es verstanden, die von allen erwarteten Widersprüche dieses Alters zur eigenen Erbauung nicht zu artikulieren – besann er sich auf seine Bestimmung. So hatte er es selber einmal bezeichnet.
Sein Widerspruch wurde allmählich zwanghaft, brachte ihm immer wieder Schwierigkeiten ein. Sein starkes Beharrungsvermögen ließ ihn unhaltbare Standpunkte – er wusste das – oft bis zur Selbstvernichtung einnehmen. Er wollte seinen Ideen treu bleiben, auch wenn er erkannte, dass sie in eine Sackgasse führten. Er fühlte sich in der Enge seiner Gedanken als Sieger. Besonders wenn andere kopfschüttelnd aufhörten zu Argumentieren.
Sieger sind einsam.
War das ein Grund, dass er Leben und Lieben auch als Kampf sah?
In seiner Beziehung zu ihr war der Widerspruch am Beginn nicht so offensichtlich, denn er hatte nichts zu verteidigen. Sein Widerspruch ereignete sich eher spielerisch – er lernte früh, ihn für Kreatives zu nutzen. Warum nicht einmal den gegenteiligen Standpunkt einnehmen? Eine Dialektik der Beziehung?
Widerspruch kann auch Wege öffnen, aus Sackgassen herauszukommen. Er kann aber auch zur Unzeit daherkommen wie damals, als sie in ihrem Beruf gemobbt wurde – diesen Begriff hat sie erst viel später gebraucht. Hier glaubte er ihr helfen zu können, indem er andere Sichtweisen vertrat, wenn sie sich wieder einmal von Vorgesetzten oder Kolleginnen verletzt und gedemütigt fand. Sie erlebte es, als würde er sich in den Kreis der Verletzer und Demütiger einreihen. Und das verletzte und demütigte sie mehr als die der anderen.
Hätte er das nicht spüren müssen?
Widerspruch regte sich in ihm vor allem dann, wenn jemand breit und überzeugend auftrat. Das war im wissenschaftlichen Bereich zwar innovativ aber zugleich der Grund seines Scheiterns. Seine erste Habilitation fand keine Anerkennung, da sie auch nach einem Jahr beim „Habilitationsvater“ noch ungelesen lag, weil der Druck zu klein war, seine zweite reichte er gegen den Willen des „Habilitationsvaters“ ein. Man war zwar gezwungen, eine Kommission einzurichten, wählte aber eine Zusammensetzung, die ihm keine Chance ließ. Man schickte einen Juristen vor, der ihm nahe legte, seinen Antrag zurückzuziehen. Er tat es, da er wusste, man würde ihm zwar die Habilitation in Graz verweigern, aber man musste ihn pragmatisieren, da er einfach zu gut war. Sie hätten ihr Gesicht und ihren Ruf verloren, wenn sie das nicht getan hätten.
Nachdem er sich einen anderen „Habilitationsvater“ in Wien gesucht und gefunden hatte, geschah dies gegen die dort etablierten Kleingeister. Diese Kleingeister verhinderten es, weil er ihnen in seiner Arbeit den Boden unter den Füßen wegzog, wie es ein Freund einmal nannte. Kann man geliebt werden, wenn man den anderen den Boden unter den Füßen wegzieht? Hatte er manchmal auch ihr den Boden unter den Füßen weggezogen? Damals, als sie bloß Trost und Verständnis wollte? Hat er ihr damals die vielleicht schon kränkelnde Liebe auch noch entzogen?
In jener Zeit – als sie um ihre berufliche Existenz kämpfte – hatte auch er schlaflose Nächte, denn er wusste nicht, wie er an sie herankommen konnte.
Er dachte viel, oft viel zu viel!
Wie in den zwei Wochen.
In diesen zwei Wochen hatte er sie eines Abends gebeten, sich zu ihm zu setzen und nur zuzuhören. Er wollte ihr von dem stets erlebten inneren Widerspruch zu den eigenen Gedanken und Gefühlen, von jenem Zweifel erzählen, der ihn stets begleitet hatte, seit er Beziehungen zu Frauen eingegangen war.
Seine Zweifel galten der Art seiner Liebe. Ob es für ihn eher Liebe wäre, zu lieben oder eher wichtig war, geliebt zu werden. Zwischen diesen beiden Polen sei er Zeit seines Lebens geschwankt und hatte früh an seiner generellen Liebesfähigkeit zu zweifeln begonnen. In einem Augenblick, in welchem er sicher war, zu lieben, erschien ihm seine Sehnsucht, geliebt zu werden, noch viel größer.
Er begann damals, sich selber in seinen Beziehungen zu beobachten. Es war ihm, als stünde er manchmal neben sich, und sähe zu, wie er lebte und liebte. Voyeuristisch und ängstlich zugleich. Er wollte eine Antwort auf die Frage finden, was für ihn Liebe bedeutet. Auch in den zwei Wochen hatte er das Gefühl, dass er immer wieder von außen miterlebte, was mit ihm geschah.
Sie nannte es anschließend an seinen Monolog „einfach krank“.
Aus dieser Krankheit heraus begann er, Zeichen zu setzen. Markierungen, die ihm beweisen konnten, dass er doch liebte, lieben konnte. In diesen zwei Wochen wird er zum Friseur gehen und anlässlich der dreiunddreiunddreißigsten Wiederkehr des Kennenlerntages sich eine lila Strähne in sein schütteres Haar machen lassen – sie nannte es einfach Glatze.
Er schickte ihr SMS – genau abgezählt nach den maximal möglichen Zeichen -, in denen er ihr wieder die Hand reichte, was ihm im realen Leben wohl nur nach einer Bitte um Verzeihung möglich sein würde.
Wie lange würde er nach den zwei Wochen auf diese Worte warten müssen?
Aus seinen Zweifeln heraus überforderte er sie, denn er erwartete in gleichem Ausmaß Zeichen, etwa als er einen äußerst ungenehmen Zahnarzttermin hatte – auch er hatte eines Tages begonnen, sich zu renovieren – und hoffte, sie würde in dieser Zeit an ihn denken und ihm knapp davor eine SMS schicken. Er phantasierte: So wie sie wohl „ihm“ in einem solchen Fall eine geschickt hätte. Er wird im Wartezimmer sitzen und auf eine SMS warten, sie wird keine SMS schicken und er wird abermals enttäuscht sein, seine Zweifel werden wieder ein Stück größer werden.
Wurde er geliebt? Nein, sie hatte es gesagt: sie liebe ihn schon lange nicht mehr. Würde ihn diese Gewissheit beruhigen? Jemand, den man nicht liebt, dem schickt man keine SMS. Er wird selber ein Zeichen setzen und während der Behandlung den Ehering festhalten und drehen. Glaubte er an Magie?
Den Ehering wird er wie sie nach ihrer Strasbourgvisite abnehmen. Sie hat ihn irgendwo verwahrt – nicht in die Ill geworfen, wie er vermutete -, er wird ihn an seine Halskette mit dem Schutzengel – der hatte hier wohl wieder einmal versagt – hängen, so wie es viele Männer tun, die nicht zu ihrer Beziehung stehen. Schutzengel und Ring werden in diesen Tagen immer wieder aneinander stoßen, während des Gehens, während des Schlafs, während des Wasserlassens, während der Vorlesung.
Das leise Klingeln wird ihn an seine Lage erinnern. War es nicht klüger, ihr den Ring zu geben, damit sie ihn zum anderen lege?
Einmal rief er sie nach einem Klingeln an seinem Hals an, allein um ihre Stimme zu hören, die Stimme jener Frau, die ihm diesen Ring vor dreiunddreißig Jahren in der Verlobungsnacht zum ersten Mal an die Hand gesteckt hatte. Sie hatte diesen Ring, der längst seine feine Ziselierung verloren hatte, bei der Hochzeit vor fünfundzwanzig Jahren zum zweiten Mal, dieses Mal an die rechte, Hand gesteckt. Einmal hatte er den Ring weiter machen lassen müssen, da er ihn nicht mehr vom Finger bekam und schon das Blut abschnürte. Einmal hat er seinen Ring verloren – er war einfach vom Finger gerutscht. Das war, während sie in Strasbourg arbeitete, nach seiner Abmagerungskur. Er dachte zuerst, dass er in ihn im Murpark verloren hätte und suchte mit einer Taschenlampe den Weg ab, den er gegangen war. Er suchte in der Wohnung, bis ihm die rettende Idee kam. Der Ring war beim Duschen von seinem Finger gerutscht und im Abfluss der Badewanne gelandet. Dort konnte er ihn mit Hilfe eines Drahtes, mitten in ihren Haaren, die sie beim Haarewaschen regelmäßig verlor und immer wieder den Abfluss verstopft hatten, ertasten und endlich bergen. Das war unmittelbar vor einem Wochenende, an dem sie ihn besucht hatte. Er empfand diesen Verlust und die Art des Wiederfindens ihres Ringes als schicksalhaft.
Sein Glücksgefühl nach dem Wiederfinden des Ringes war unbeschreiblich. Sie kommentierte seine Erzählung: wäre nicht so schlimm gewesen, beim Juwelier kann man ihn nachmachen lassen. Diese lapidare Einstellung wird ihn verletzen, denn der Ring an seiner Hand hatte durch das Weiten und Verengen einen unverwechselbaren Charakter bekommen.
Er wird nach der völlig schmerzfreien Behandlung beim Zahnarzt – sie hatte einige Jahre zuvor eine vergleichbare, aber schmerzvolle – im Cafe Meier sitzen und sie anrufen. Er wird auf ihre Mobilbox sprechen. Sie wird ihn zurückrufen – nein, sie wird nur anklingeln, denn er hat den günstigeren Tarif und er wird sie selber anrufen.
Kann man das Zeichen nennen? -
VIII Hof.Narr
Der Betrug schmerzte ihn besonders, da er in jene Phase ihrer Beziehung fiel, in der er aus den Fehlern der Vergangenheit – vor allem aus der Zeit unmittelbar vor Strasbourg und Wien – Lehren ziehen wollte. Dass er es dieses Mal – wie oft eigentlich schon – besser machen wollte. Seine Verbesserungsversuche waren eine Illusion, denn die letzten Jahre ihre Beziehung waren von diesen Versuchen geprägt, es nach Krisen stets besser machen zu wollen. Er versuchte es.
Seit der Rückkehr aus Wien im Herbst des vorigen Jahres waren es andere Krisen als vor dieser Zeit. Während es früher reale Verletzungen waren, die sie einander zugefügt hatten, Verletzungen, die existenzielle Fragen bei ihr und bei ihm betrafen, waren es plötzlich völlig banale Dinge. Eine Frage nach einem verlegten Papier, eine Erinnerung an einen Termin, ein vergessener Einkauf, eine liegen gebliebene Papierserviette. An diesen Alltäglichkeiten entzündeten sich Auseinandersetzungen, die für einen unvoreingenommenen Beobachter vermutlich bizarr und lächerlich erschienen wären.
Im Nachhinein erklärte er sich diese Veränderung in ihrem Verhältnis zu einem anderen Mann, denn wer braucht sich schon die Frage nach einem weggeworfenen Papier gefallen lassen, wenn man mit einem anderen über die schönen Dinge des Lebens plaudern konnte. Diese Beziehung war nicht belastet von Trivialitäten wie dem Einkauf von Toilettepapier oder Putzmitteln, die schwebte vom ersten Augenblick des Treffens oder Telefonats auf einer Wolke der Innigkeit und Bedeutsamkeit, von der aus man auf den armen Tropf da unten, der sich halt darüber ärgerte, dass sie ein Blatt Papier entsorgt hatte, auf dem er etwas Wichtiges notiert hatte. Sie brauchte sich nicht darum zu kümmern, ob seine Hemden gewaschen und gebügelt sind, da gab es eine Frau. Sie brauchte ihn nicht daran erinnern, nach dem Scheißen auch die Klomuschel nachzuputzen. Sie brauchte sich nicht anhören, dass sie beim Haareauszupfen in der Badewanne darauf achten sollte, dass der Abfluss nicht verstopft wird. Er hatte nämlich in der Zeit, in der sie in Strasbourg und Wien war, das von Kalkablagerungen hässlich gewordene Badezimmer gründlich zu reinigen und mit neuester Nanotechnologie dafür zu sorgen, dass es auch so blieb. Er führte auf Grund des aggressiven Grazer Wassers in den Haushalt den Brauch ein, das Waschbecken nach der Verwendung mit einem bereitliegenden Tuch zu trocknen. Anfangs fand sie das übertrieben – wie sie so vieles übertrieben fand -, allerdings hat sie diese Routine dann auch übernommen, da ihr vermutlich auch klar geworden war, dass es angenehmer ist, eine glänzendes Waschbecken oder eine saubere Badewanne zu benutzen als solche, die von Kalkschlieren und Schimmelpilzen umrandet sind. Wenn sie mit ihm beisammen war, fanden solche Themen keinen Eingang in ihren hoch stehenden oder zärtlichen Diskurs. Er fragte sich oft, worüber sie eigentlich sprachen. Sprachen sie auch über ihn? Das ist die Schmerzfrage aller Betrogenen. Reden sie über mich und was reden sie? Lachen sie über ihn? Oder war er einfach zu unwichtig, als dass sie überhaupt über ihn sprachen. Nein, da ging es sicher um Kunst, Reisen, Träume, Perspektiven …
Was nützten da alle seine Versuche, es besser zu machen?
Sie versuchte nichts. Sie brauchte nichts zu versuchen, denn sie hatte die Wahl.
Er hatte keine.
Der Betrug fand – das stellte er in den zwei Wochen verbittert fest – unter seinen Augen statt, mit seiner tätigen Mithilfe, da er ihr den Freiraum gegeben hatte, den sie in den Jahren immer eingefordert hatte. Jetzt erkannte er – und das raubte ihm auch noch lange nachher immer wieder den Atem –, dass er chancenlos war in seinem Bemühen.
Jetzt erst konnte er sich ihre Teilnahmslosigkeit erklären, die sie in vielen gemeinsamen Unternehmungen erkennen ließ. Es war, wie wenn man einem Millionär einen Euro schenkt. Einem im Meer schwimmenden Fisch einen Liter Wasser.
Er hatte besonders in der Zeit nach ihrer Rückkehr aus Wien, in der sie sich erst wieder in Graz beruflich etablieren musste, versucht, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, ihr zumindest in dieser Hinsicht allen Rückhalt zu geben, den sie nur benötigte.
Wie konnte sie nur mit ihm schlafen, während sie an einen anderen dachte? Sie ließ in den letzten Monaten den Akt stets teilnahmslos über sich ergehen. Sie hätte sexuell keinerlei Bedürfnisse mehr. Wie sehr bemühte er sich, ihre Sexualität mit all seiner Zärtlichkeit wieder zu erwecken, zu der er nur fähig war. Und er war zärtlich, das wusste er. Sie war einst auch zärtlich zu ihm gewesen, doch das lag lange zurück. Nie so zärtlich wie er, aber zärtlich. Jetzt ließ sie einfach das Vorspiel, das Beisammensein über sich ergehen. Am Liebsten war es ihr, wenn sie es ihm nur einmal in der Woche mit der Hand machen konnte. Einerseits war er ohnehin mit der Zeit zufrieden und genoss es allmählich, denn er konnte sich dabei wie nie zuvor in seinem Leben auf sich und seinen Körper konzentrieren. Andererseits bedrückte es ihn nachher, dass sie dabei doch leer ausgegangen war. Allmählich entwickelte er daher auch Schuldgefühle, ähnlich jenen in der Pubertät, als er sich regelmäßig selbst befriedigte.
Wem sollte er jetzt beichten?
In die Zeit nach ihrer Rückkehr fiel auch die Auszeit, die sie in einem Kloster nahm. Der Anlass hätte ihm damals die Augen öffnen müssen, dass ihre Beziehung durch irgendetwas außerhalb gestört war, etwas, worauf er keinen Einfluss hatte. Er hatte ihnen beiden zu Weihnachten – um ihre gemeinsame Sexualität wieder zu erwecken – ein Aufklärungsbuch über Sexualpraktiken geschenkt. Sich eines, wie man eine Frau sexuell glücklich machen kann – er fand darin wenig Neues -, ihr jenes, wie man einen Mann sexuell befriedigen kann – vermutlich war darin für sie doch einiges neu, zumindest dann, wenn man es mit den von ihr gepflegten Formen des Beisammenseins vergleicht. Er hatte auch nach über dreißig Jahren noch immer das Gefühl, dass sie nicht wusste, wie man es einem Mann richtig mit der Hand machen kann. Er versuchte, blaue Stunden zu arrangieren, ein gemeinsames Bad, ein gegenseitiges Massieren mit Bodylotion. Alles zu tun, um einen Funken sexueller Erregung in ihr zu finden.
An diesem Tag – es war ein Sonntag – hatte er geduscht und sie gebeten, ihn nachher mit Bodylotion einzureiben. Sie tat es. Und sie befriedigte ihn mit der Hand, weil er ihre Hand an seinen Schwanz gelegt hatte. Das war in dieser Zeit zu einer Art Signal geworden, dass er es von ihr haben wollte. Sie wollte nichts von ihm. Es war eine einseitige Angelegenheit geworden, das war ihm klar. Aber er hoffte, dass eines Tages ihr Interesse an Körperlichkeit wieder erwachen könnte. In den zwei Wochen wurde ihm klar, warum sie damals von Missbrauch gesprochen hat, ein Wort, dass sie später einmal zurücknahm, das aber dazu führte, dass sie für über einen Monat in ein Kloster zog.
Ihre Auszeit.
Danach war sie zu ihm zurückgekehrt. Er hatte sie angefleht und sie war gekommen. Wieder bemühte er sich nach Kräften, er machte nichts falsch, doch wieder war sie teilnahmslos gegenüber seinen Bemühungen. Nun, nachdem er von ihrer zweiten Beziehung – war die zu ihm überhaupt noch eine? – erfahren hatte, konnte er sich auch jenen aggressiven Ton in manchen ihrer Antworten auf völlig harmlose Fragen erklären, die Schärfe, mit der sie in vielem reagierte.
Er konnte beobachten, dass selbst ihr Sohn, wenn er über ein Wochenende auf Besuch war, bei ihren Reaktionen zusammenzuckte. Bei seinem letzten Besuch vor den zwei Wochen hatte er einige Male sogar verbal reagiert, indem er sie aufforderte, sich zu beruhigen, aber sie hatte seine Bitte nicht einmal registriert. So sehr war sie offensichtlich mit ihren Gedanken in einer anderen Welt, in der alles störte, was nicht ihres war.
Ihre heftigen Reaktionen waren auch Ausdruck der Spannung, mit ihm in einer Welt der Lügen und Heimlichkeiten zu leben. Auch wenn sie bloß diese Nischen, die sie für den anderen eingerichtet hatte – ein Telefonat, eine tägliche SMS, ein kurzes Treffen in einem Kaffeehaus, ein Urlaubstag von der Arbeit -, vor ihm verschweigen musste, war ihr trotz der schon lange vollzogenen inneren Trennung klar, dass dieses Dreieck auf Dauer nicht funktionieren konnte. In manchen Momenten hatte sie vielleicht sogar Mitleid mit ihm, der er nichts ahnte. In dieser Situation der Spannung begannen alle Dinge, die er für sie tat, zur Belastung zu werden. Ihr war klar, dass es unrecht war, bei ihm zu wohnen und mit ihm sogar zu schlafen, gleichzeitig aber an einen anderen zu denken, einen anderen zu lieben. Liebte sie ihn oder war er bloß der Anker, an dem sie ihre Illusion von Liebe festmachte, die mit ihr in einem Meer eines alltäglichen Lebens dahintrieb? Sie brauchte ihn und glaubte, dass er sie brauchte. Die erste Liebe im Leben eines Menschen behält stets eine Aura von Ewigkeit, die irgendwo draußen im Weltall noch leuchtet.
Sie hatte vor einiger Zeit begonnen, in einer Traumwelt zu leben, was vermutlich durch das Schreiben von Erzählungen noch verstärkt wurde, denn dort konnte sie die Welt so gestalten und erklären, wie sie es für richtig hielt. Während die Frauentrilogie – ihr erster Roman, wie sie ihn nannte – nur wenige persönliche Bezüge aufwies, hatte sie sich vermutlich bei der Arbeit an der Männertrilogie in den Erzählungen wesentlich intensiver eingebracht. Rechnete sie hier mit ihm ab? Mit Männern? Sie habe genug von Männern, sagte sie an jenem Tag, an dem sie den Kontakt zum anderen beendet hatte. War das jetzt anders, nachdem sie doch wieder Kontakt zu ihm aufgenommen hatte?
Sie hatte sich – und diese Erkenntnis schmeckte bitter für ihn – seit ihren verschiedenen Rückkehren immer mehr für das Schneckenhaus entschieden – alles andere, dass sie wieder ihrem Beruf nachging, dass sie bei ihm wohnte, ihm beiwohnte, dass sie gemeinsam ins Kino oder ins Musiktheater gingen, war bloße Fassade.Wie war das noch? Der Tod sitzt auf Platz 31
Und er hatte es für eine Chance gehalten, für seine Chance.
Seine Freundin, mit der er nach der „Rückkehr mit leeren Händen“ lange telefoniert hatte, deutete mehr oder minder an, dass er doch nicht so ein Idiot sein sollte, sich wieder von ihr so an der Nase herumführen zu lassen. Sie war äußerst skeptisch, was das Arrangement mit der Wohnung in der Wohnung betraf. Sie verstand, dass es ihm lieber war, sie in der Nähe zu haben, aber ihrer Meinung nach war es kein richtiger Schnitt, wie er notwendig wäre. Sie sollte doch in ein Hotelzimmer ziehen und dort mit der Zeit merken, dass er ihr fehlte. Und genau davor hatte er Angst: dass sie nämlich gerne allein war, seit der Zeit, in der sie in dem einen Jahr in Strasbourg nach den neunundzwanzig Ehejahren aufgeblüht war – er formulierte das so -, war sie wieder auf den Geschmack gekommen. Damals hatte sie ihm die Trennung noch damit schmackhaft machen wollen, dass es danach wieder schöner wäre, gemeinsam zu leben. Dass damit neuer Wind in ihre Beziehung käme. Aber das Gegenteil war der Fall: sie fand es befreiend. In Wien hatte sie dieses Gefühl der Freiheit wohl nicht mehr so empfunden, denn sie litt darunter, eine Wochenendehe zu führen, die sie zwang, am Wochenende Ehefrau zu sein, während sie unter der Woche ungebunden war, tun konnte, was sie wollte. Mit Neid hörte er in ihren Berichten die Konzerte und Veranstaltungen, die sie mit ihren Freundinnen besucht hatte. Was hatte er in dieser Zeit falsch gemacht? Hatte er überhaupt etwas falsch gemacht? War der einzige Fehler der, jemanden dreiunddreißig Jahre festgehalten zu haben, der eigentlich nur in Freiheit leben konnte. Fühlte sie sich trotz des kleinen gemeinsamen Glücks nicht immer eingeschlossen in einen goldenen Käfig?
Sollte er nicht eher stolz darauf sein, dass er sie überhaupt so lange besessen hatte?
Auch wenn ihn seine Freundin warnte, er war dennoch wie immer unbeirrbar und glaubte an die Hoffnung. Er liebte Herausforderungen. Das war eine, die größte in seinem Leben. Die wichtigste. Die Herausforderung war, sein Leben wieder zu erlangen.
Zweimal hatten sie einander die Ringe an den Finger gesteckt.
Aller guten Dinge sind drei.
Einmal ein Narr, immer ein Narr.Jahre danach wird er bei der Suche nach einer Fotografie in den alten Alben auf seinem Computer blättern und entdecken, dass es mindestens sieben Jahre vor den zwei Wochen begonnen haben musste, dass sie ihn mit dem anderen hinterging. Er stellte in den zahlreichen Fotos, die er von ihr gemacht hatte, eine Veränderung fest. Fast schlagartig hatte sich ihr Blick in die Kamera verändert – versuchte sie vorher noch zu lächeln und ihn anzublicken, so begann sie den Blick der Kamera und damit seinen Blick zu vermeiden. Sie kniff beinahe auf allen Bildern die Augen zusammen oder schaute über ihn hinweg. Das war lange davor geschehen, bis sie ihm offen ins Gesicht sagte, dass er sie nicht anstarren sollte, denn das hasse sie. Seinen prüfenden Blick. Er hätte es in ihren Augen erkennen müssen. Dass sie ihm den Blick verweigerte. Die Bilder, auf denen sie gemeinsam abgebildet waren und die ihr Sohn gemacht hatte, begannen erst später diese Verweigerung zu zeien. Die drückte sich eher in der Haltung und Körperspannung aus, die auf diesen Bildern ihr Zurückziehen enthüllten. Er wird Jahre nach den zwei Wochen auch feststellen, dass die Augen der Frauen in seinen neuen Beziehungen etwas enthielten, was er nie in ihren Augen gesehen hatte. Er wird eine tiefe Wärme und Zuneigung in diesen Augen finden und beinahe resignierend all ihre alten Bilder danach durchforsten.
Vergeblich.War es wirklich eine Herausforderung, zum dritten Mal mit ihr eine Beziehung zu beginnen? Zwei Jahre nach den zwei Wochen wird er es weniger als eine Herausforderung sehen denn als Abhängigkeit. Er wird erkennen, dass es ihm niemals gelingen wird, sich von ihr zu lösen, denn dazu hatte sie ihn zu lange in einer Abhängigkeit gehalten. Er er erkannte allmählich, dass sie es mit einer unbewussten Raffinesse über all die Jahre hinweg geschafft hatte, ihn in eine freiwillige Abhängigkeit laufen zu lassen. Wie er aus einer früheren Beziehung wusste, war ihm Hörigkeit nicht fremd. Doch diese Hörigkeit hatte sich aus der Befriedigung der damit verbundenen Sehnsüchte und Wünsche genährt.
Die Abhängigkeit von ihr war anders, hatte einen anderen Weg in sein Innerstes gefunden und sich dort eingenistet.
Die Ursache seiner Abhängigkeit fand er in der von ihr gehegten Unzugänglichkeit, die sie in ihrer Beziehung stets zu bewahren wusste. Dadurch, dass sie nichts von sich als Person preisgab, erzeugte sie eine in dem Zusammenleben mit ihr beinahe notwendigerweise entstehende Neugier, die ihn ewig hoffen aber nie erreichen ließ. Die Hoffnung mochte zu Beginn ihrer Beziehung noch auf recht konkrete Dinge bezogen gewesen sein, aber sie machte sich allmählich selbständig – l’art pour l’art. Er machte sich in dieser Hoffnung zum Narren und vermutlich hatte sie irgendwann an diesem Spiel die Lust verloren. So, wie der Herrscherin die ewig gleichen Scherze des Hofnarren allmählich auf die Nerven gehen bis man sich seiner entledigt.
Kehren Hofnarren je zurück?
Nun erkannte er auch, warum sie solche Macht über ihn besessen hatte und diese auch lange nachdem sie ihn schon verlassen hatte immer noch besaß: Sie hatte Zeit ihrer Verbindung Hoffnungen in ihm erweckt, ohne je daran zu denken, sie irgendwann auch erfüllen zu müssen. Sie tat das nicht bewusst, sondern es ergab sich aus der Art und Weise, wie sie ihr Innerstes vor ihm schützte. Sie machte ihm Hoffnungen auf Veränderungen und blieb doch immer die Gleiche. Ihm schien jede von ihr geschürte Hoffnung wie die weiße Wintersonne, die durch einen grauen Schleier am Himmel von der Möglichkeit des Scheinens und der Wärme spricht, aber doch am Abend am Horizont versinkt, ohne sich gezeigt zu haben.
Eines Tages hat er wohl vergessen, worauf er überhaupt hoffte. Aber es war keine Resignation und keine innere Emigration. In ihm brannte noch immer eine Flamme, die sich von den Alltäglichkeiten nährte, den Selbstverständlichkeiten, auch seiner Aufopferung und seinem Perfektionismus. Er organisierte sich und die Abläufe – insbesondere in der Zeit der beruflichen Tennung – nach diesem Prinzip, alles ihretwegen zu tun. Schließlich überantwortete er alles an eigener Hoffnung ihrer Macht über ihn.
Es wurde ihm mit einmal auch klar, warum das letzte Jahr nach ihrer Rückkehr aus Wien schiefgehen musste, denn er hatte sich in seiner Naivität Objekte der Hoffnung gesucht, Konkretes, auf, das sich seine Sehnsüchte beziehen konnten. Sie hatte sich aber aus Wien gar nicht mitgebracht und verweigerte sich immer mehr, wodurch sie ohne es zu wollen seine Hoffnung noch mehr schürte.
Als er lange nach ihrer Trennung ein Plakat des Serapionstheaters in ihrer Wohnung studierte, das dort seit dem Bezug der gemeinsamen Wohnung wegen des ungewöhnlichen Formates an der Innenseite der Klosetttür hing und das er wohl tausende Male betrachtet hatte, fiel ihm die Prophetie der Darstellung auf: eine Frau hebt vom Boden ab, während ein nur undeutlich im Hintergrund sichtbarer Mann am Boden liegend ihr dabei zuschaut. Und noch mehr berührte ihn die Prophetie des darauf befindlichen Ausspruches von Tankred Dorst :
Einen Schatten halte ich umarmt; einen Wahn habe ich gefreit und einen Traum besessen. -
IX Zweifel.Los
Wo zwei sind, da ist auch schon der Zweifel.
Samuel BeckettWarum gelang es ihm seit jener Entdeckung nicht mehr, ihr zu vertrauen? War er ob seiner Naivität, Arglosigkeit, Sorglosigkeit, Selbstgefälligkeit, Erstarrung in den letzten Jahren so schwer getroffen? War seine Phantasie nun so allmächtig, dass sie ihn hinter jeder Minute der Trennung einen neuerlichen Verrat befürchten ließ?
An einem Tag nach den zwei Wochen wird sie das Auto nehmen, damit sie zu einer Feier anlässlich der Renovierung eines Jugendwohnheimes als Vertreterin der Jugendwohlfahrt, in der sie in der Stabsstelle arbeitete, fahren kann. Sie würde ihm wie immer bei solchen Gelegenheiten abends beim Abendessen vom reichlichen Buffet dort erzählen, dass sie deshalb keinen Hunger habe. Sie wird die üblichen Abläufe erzählen, die bei einer solchen Eröffnung Standard sind. Von den Reden der Politiker, ihrer Abscheu gegenüber deren Floskeln – jahrelang ist sie über einen Politiker, dessen Partei er nahe stand und den er wegen seiner schmallippigen Art zwar nicht mochte, aber objektiv gesehen bewunderte, fast täglich bei der Zeitungslektüre hergezogen, fast schien es, nur um ihn zu provozieren. Und er wird ihrer Erzählung von der Heimeröffnung zuhören und … zweifeln. Hat sie sich wieder mit ihm getroffen?
Das Misstrauen war in den Alltag eingekehrt.
Woher sollte neues Vertrauen kommen?
Wie könnte sie ihm beweisen, dass sie es Ernst mit der Entscheidung meinte, dass sie trotz der tristen Aussichten – wie sie es nannte – weiter mit ihm zusammenleben wird.
Erscheint es ihm so unglaubwürdig, dass sie sich für ihn entscheidet?
Projizierte er seine Selbstzweifel in sie?
Wie weh tat es ihm, wenn sie von seinem Alter sprach, nichts mehr fand sie an ihm, was schön und attraktiv wäre. Er merkte, dass sie sich um so viele Jahre jünger fühlte, dass sie im Gegensatz zu ihm noch jugendlich wäre. Und sie ließ es ihn bei jeder Gelegenheit fühlen. Was nützte es ihm, in den letzten Jahren so viel für sein Aussehen getan zu haben, nachdem sie ihm einmal resignierend gesagt hatte, dass sie es aufgegeben hätte, etwas zu seinem Aussehen zu sagen. Am Ende ihres Jahres in Strasbourg hatte er in einer Gewaltaktion innerhalb von drei Monaten siebenundzwanzig Kilogramm abgehungert, um für sie attraktiver zu werden.
Nach diesen zwei Wochen wird er drei Jahre später genau jenes Gewicht wieder haben. Am Beginn der zwei Wochen brachte er jene vier Kilogramm mehr auf die Waage, die er in diesem Sommer während des gemeinsamen Urlaubs – war dieser nicht harmonisch verlaufen? – zugelegt hatte. Zynisch wird er schließlich denken: Auch eine Methode.
Er hatte sich nach seiner Radikalkur neue Bekleidung gekauft, Kleidung, die jugendlicher war. Doch ihre Reaktion darauf war enttäuschend, denn sie würdigte zwar die Kleidung, befand aber seine hager gewordenen Gesichtszüge als hässlich.
Schon vor den zwei Wochen hatte er begonnen, hie und da Kosmetika zu verwenden, die seine Falten auffüllten. Sie verwendete solche schon lange, wenn auch mit mäßigem Erfolg. Wenn er sich im Spiegel betrachtete und mit ihr verglich – er hatte erst in den letzten Jahren damit begonnen -, wirkten seine Gesichtshaut und auch die Haut seines Körpers wesentlich jünger als ihre. Die Haut ihres Gesichtes und des Halses bis zum Brustansatz war durch ihr exzessives Sonnenbaden irreparabel geschädigt – sie war zeitlebens süchtig nach Sonne, obwohl ihre Augen gegen grelles Licht äußerst empfindlich waren. Sie wusste das, hielt in sich aber immer noch die Illusion aufrecht, jugendlicher als er zu wirken. Wenn sie ihrer beiden Hände verglich, musste sie sich diese Lüge eingestehen. Jugendlich war an ihr ihr gefärbtes Haar, deren natürlichen und jugendlichen Locken sie immer wieder durch Chemie und Brennstäbe vom Friseur auf glatt und somit auf alt deformieren ließ. Er hatte es ihr zwar manchmal gesagt, dass sie dadurch den unzähligen ältlichen Frauen glich, die damit modischen Chic demonstrieren wollen, in Wahrheit aber eine Maske aufsetzten, unter der man ein noch höheres Alter vermutete, als es tatsächlich vorlag.
In diesen zwei Wochen erlebte er eine radikale Wende in seiner Wahrnehmung. Plötzlich sah er nur mehr die Falten im Gesicht und an den Händen, ihre schlaffen und welken Arme, die etwas zu kurz geratenen Finger, die wie die einer Siebzigjährigen wirkten – seine Hände wären übrigens das Schönste an ihm, hatte sie einmal festgestellt -, den verbrannten Hals und das Kinn wie faltiges, abgenutztes Leder. Vor den zwei Wochen waren beide in seiner Wahrnehmung im Einklang gealtert und er hatte immer wieder gedacht und selten auch gesagt, dass sie trotz der Falten schön sei und dass sie sich auch nicht die Haare färben müsste, denn vermutlich wäre ihr das langsam ergrauende wesentlich besser gestanden als das Einheitsblond.
Während der fast zwei Jahre ihrer Berufstätigkeit in Wien – er erlebte es als Fortsetzung Strasbourgs, auch wenn eine Wochenendbeziehung daraus wurde, eine lästige Pflicht für sie, an beinahe allen Wochenenden mit ihm schlafen zu müssen – entdeckte sie plötzlich Pünktchen und Flecken an ihrem Körper. Sie ließ sich einen völlig unscheinbaren winzigen Punkt, den man für eine Sommersprosse halten konnte und der auf den Fotos des letzten Sommers kaum sichtbar war – im Gesicht entfernen, einige Blutschwämmchen am Oberkörper und auch einen kleinen warzenförmigen Auswuchs neben ihrer Scheide, der früher unter ihrem dichten Schamhaar verborgen gewesen war und den nur seine Zunge kannte und liebte. Nachdem sie begonnen hatte, auch ihr Schamhaar zu trimmen, war dieser Makel offensichtlich geworden. Er musste beseitigt werden.
In den zwei Wochen wird er denken, dass sie es nicht für sich oder gar für ihn, sondern allein für „ihn“ getan hätte. Er fühlte den Hass auf den Nebenbuhler, der sich in ihrem Kopf und in ihrem Herzen eingenistet hatte und der sie nun herrichtete wie eine Schaufensterpuppe oder für den sie sich eine uncharakteristische glatte Oberfläche zulegen wollte. War er nicht auch so ein austauschbarer Businessman ohne herausragendes Merkmal? Als er seine Schwiegermutter nach einer Beschreibung fragte – er hatte ihn sich bis zu diesem Zeitpunkt als zwar älteren aber doch recht attraktiven, eleganten, großgewachsenen, eher hageren Typ mit vollem dunklen Haar vorgestellt, von denen er in all den Jahren gemerkt hatte, dass sie diese oft aus den Augenwinkeln beobachtete -, konnte sie sich an keine charakteristische Einzelheit seines Äußeren erinnern, obwohl sie ihn vor nicht allzu langer Zeit getroffen hatte und ihm die Jahre hindurch immer wieder begegnet war. Völlig unauffällig, meinte sie.
Für diesen Mann wurden nun alle Kleinigkeiten, die sie charakteristisch und für ihn auch liebenswert machten, wurden getilgt.
Hatte er ihr denn je vermittelt, dass sie nicht vollkommen wäre?
Hatte er sich in den letzten Jahren nie gefragt, warum sie eine andere sein wollte?
Trauerte sie in allem einem verschwendeten Leben, einer verschwendeten Liebe nach?
Er trug in seiner Brieftasche noch immer ein Bild von ihr aus den ersten Tagen bei sich. Im Büro standen zwei Bilder, eines aus der frühen Zeit, eines aus der Kindheit Fabians, in welchem sie sich beide fröhlich anlachen. Wie sehr hatte er allein ihr Gesicht geliebt – sie war stolz auf ihre hoch stehenden Wangenknochen, die angeblich bis ins hohe Alter erhalten bleiben und stets jünger machen sollten.
Alles war dahin.
Er sah nur mehr die herabhängenden Hamsterbacken und die Tränensäcke unter den Augen, die wie ineinander verschlungene Würmer herabhingen, wenn sie sich über ihn beugte. Selten genug tat sie das. Vor einem Jahr hatte sie beklagt, dass ihre schlaffen Augenlider – ein Charakteristikum ihrer Familie – hässlich wären und auch korrigiert werden müssen.
Fand sie, dass sie für „ihn“ nicht jung genug wirkte?
Kam sie sich als ältliche Geliebte lächerlich vor?
Er hatte es bald aufgegeben, sie davon abzuhalten, sondern hatte sogar ein oder zweimal nachgefragt, wann es denn nun soweit wäre mit der Operation. Ein Jahr danach wird er sie bei einem Treffen genau betrachten, nach Spuren von solchen kosmetischen Korrekturen suchen, und konstatieren, dass sie offenbar darauf verzichtet hatte. Hatte sie resigniert?
Und ein Paradox wurde ihm bewusst: Ein Merkmal ihres Gesichts waren einige etwas schräg gestellte Zähne, die ihrem Lächeln einen besonderen, einen unverwechselbaren Touch verliehen. Vor wenigen Jahren hatte sie eine radikale Korrektur machen lassen, so dass sie jetzt ein uniformes, glattes Lächeln besaß wie viele Menschen in diesem Alter. Wenn sie sprach, wirkte es danach auf ihn wie ein künstliches Gebiss, denn der Ausdruck ihres Gesichtes war geprägt vom Produkt eines Zahntechnikers.
Das war nicht mehr sie, der er einst begegnet war, und die sich an seiner Seite langsam verändert hatte, so langsam, dass man es gar nicht wahrnahm.
War er endlich aufgewacht aus dieser Illusion, dass Liebe ewig dauern kann, dass sie immer dieselbe sein würde, wie damals …