I Ton.Fälle

Er saß in seinem Arbeitszimmer vor dem Computer und entwickelte ein Konzept für eine Lehrveranstaltung des kommenden Wintersemesters, die er zum wievieltenmaleigentlich an der Universität Graz halten sollte. Da erinnerte er sich, dass er mit ihr, die wie immer am Samstag im Wohnzimmer saß und vermutlich Zeitung las, ins nahe gelegene Cafe Meier gehen wollte. Er stand auf, nahm das geleerte Glas, das er üblicherweise mit Mineralwasser und Orangenjuice gefüllt bei seinem Computer stehen hatte, und machte sich auf, durch das Esszimmer, in welchem sie heute Morgen gemeinsam gefrühstückt hatten, durch das langgestreckte Vorzimmer in die Küche zu gehen. Wie immer an einem Samstag hatte er das Frühstück zubereitet – Espresso mit einer jener klassischen italienischen Espressomaschinen, für sie manuell aufgeschäumte Milch, für sie frisch gepressten Orangensaft mit ein wenig Zitronensaft – während sie unterdessen frisches Gebäck vom nahen Bäcker geholt hatte.
Als er an der geschlossenen Wohnzimmertür vorbeikam, hörte er, dass sie telefonierte. Es musste auf ihrem Mobiltelefon sein, denn das Festnetz in der gemeinsamen Wohnung, die sie seit 27 Jahren bewohnten, war entweder im Vorzimmer oder im Arbeitszimmer zu benützen, aus dem er eben gekommen war. Er blieb stehen, da er das Gespräch nicht unterbrechen wollte. Vermutlich eine ihrer Freundinnen, dachte er – sie hatte ihren, seit einer mehrere Jahre zurückliegenden, einjährigen beruflichen Tätigkeit in Strasbourg, alljährlichen Besuch in Strasbourg Ende des Monats geplant. Hier gab es einigen Koordinierungsbedarf, zumal das übliche Quartier nur zeitweise verfügbar war und eine Übersiedlung für zwei Tage in ein anderes Zimmer notwendig war, was mit Hilfe einer Freundin vor Ort organisiert werden musste. In diesem Ausweichzimmer wird sie sehr schlecht schlafen werden, denn es liegt an einer belebten Hauptstraße im Zentrum von La Petite France. Sie hatte damals während ihrer Arbeit für das Europäische Parlament im früheren Gerberviertel am Ufer der Ill gewohnt, das von mehreren Kanälen durchzogen wird und mit seinen malerischen Fachwerkhäusern, kleinen Gassen und den typischen Dachgauben eine Touristenattraktion ersten Ranges ist. Er hatte sie damals zwar mehrmals besucht und diese Kleinstadt zwischen zwei Kulturen auch schätzen gelernt, sie verbat sich allerdings bei den alljährlichen Reminiszenzreisen seine Begleitung, da sie es als „ihr“ Strasbourg empfand, das alleine ihr gehören sollte. Während der kommenden zwei Wochen wird er allerdings entdecken, dass auch andere Gründe dafür ausschlaggebend gewesen sein könnten.
Sie sprach noch immer. Er wandte sich ab, da es nicht seine Art war, sie zu belauschen. Er ging durch das Vorzimmer in die Küche, und stellte das Glas in die Abwasch und spülte es kurz aus.
Da er nichts mehr hörte, dachte er, das Gespräch wäre nun zu Ende und ging durch das Vorzimmer zu der anderen Türe, die von hier ins Wohnzimmer führte. Sie war nur angelehnt. Sie telefonierte immer noch. Er zögerte kurz, blieb stehen. Da fiel ihm ein seltsamer, fremder Tonfall auf, den sie sonst nie beim Telefonieren hatte. Sie war darin geübt, denn ihr Beruf erforderte lange konzentrierte Telefonate. Für diese hatte sie einen sehr sachlichen Ton entwickelt, den sie auch in Privatgesprächen verwendete. Auch mit ihm.
Er verstand nur wenige Worte wie „Du“, „aber nein“. Sie alle waren mit einer solchen Eindringlichkeit gesprochen, die er schon lange nicht mehr in ihrer Stimme – auch nicht im persönlichen, vertrauten Gespräch – gehört hatte. Hatte er jemals ihre Stimme so gehört? Er war irritiert. Da es schon spät war, klopfte er nach einer Weile des Lauschens kurz an die halb geöffnete Tür und trat ins Wohnzimmer. Sie – die zuvor auf dem Zweiersofa gelegen hatte – richtete sich abrupt auf und sagte in ihr Mobiltelefon, das er ihr zu Weihnachten geschenkt hatte: „Gut, das können wir dann später besprechen!“ Ihre Stimme war bei seinem Eintreten schlagartig in den üblichen Tonfall zurückgekehrt. „Mit wem hast du telefoniert?“ „Mit einer Juristin!“ Die Antwort kam spontan, die Stimme klang aber unsicher. Wie wenn man ein Kind bei einer verbotenen Tätigkeit ertappt hatte.
„Fabian hat mich wegen eines Mietvertrags etwas gefragt“, ergänzte sie, um seinen Fragen zuvor zu kommen.
Fabian war ihr gemeinsamer Sohn, der seit drei Jahren in Wien studierte. Er erinnerte sich, dass sie sich gestern am Freitag mit einer Kollegin – dieser Juristin? – hatte treffen hatte wollen, und dass sie, als er via Email nachgefragt hatte, wo, dieses Treffen stattfände, dieses wegen einer Tennispartie mit Freundinnen abgesagt, und sich mit ihm wie jeden Freitag um die übliche Uhrzeit – 13:30 – im Cafe Meier getroffen. Für die Absage bestand eigentlich keine Notwendigkeit, denn zwischen dem geplanten Treffen zum Mittagessen mit der Kollegin und dem Beginn der Tennispartie lagen vier Stunden. Es hätte ihm nichts ausgemacht, alleine Essen zu gehen, wie er das an Montagen und Freitagen häufig tat. Schließlich war er nicht nur ein Jahr lang während ihres Aufenthalts in Strasbourg Selbstversorger gewesen, sondern auch während der beinahe direkt anschließenden zwei Jahre, die sie in Wien für das Außenministerium tätig gewesen war.
Der Nachmittag im Cafe verlief wie sonst immer – er wollte sprechen und sie las die Zeitung. Der Tonfall des belauschten Telefonats ging ihm auch im Cafe nicht mehr aus dem Sinn. Dabei blickte er sie wohl längere Zeit an.
„Was starrst du mich so an? Ich mag das nicht!“
Ihr Tonfall klang verärgert, obwohl es doch keinen aktuellen Grund gab. Sie hatten in den letzten Monaten im Vergleich zum Frühjahr eine sehr harmonische Beziehung gelebt. Vor allem ein gemeinsamer Urlaub in Österreich hatte ihn glauben machen, dass ihre in den letzten Jahren etwas angespannte Ehe wieder ins Lot gekommen war. Er war glücklich darüber, denn er erlebte auch bei ihr eine größere Zufriedenheit mit der gemeinsamen Lebensführung. Dieser Tonfall ihrer Stimme … Er kannte sie gut und wusste, dass sie spontan während eines Gespräches einen Stimmungsumschwung hatte, der nicht nur ihn sondern auch andere Personen in ihrer Gegenwart irritierte. Ihren Sohn und ihre Mutter, aber auch eine Kollegin, mit der sie in einer Bar gewesen waren.
Er war mit einem Mal argwöhnisch geworden.
Als er später am Nachmittag mit seinem Sohn Fabian telefonierte und er ihn nach dem Problem mit dem Mietvertrag fragte, erfuhr er, dass das nicht ihn beträfe sondern einen Freund, dass das aber schon länger zurückläge und eigentlich nicht so wichtig bzw. schon mehr oder minder geklärt wäre.
Da ihre Antwort auf seine Frage so rasch und spontan gekommen war, musst sie darauf vorbereitet gewesen sein, wird er später schließen.
Sie war professionell.
Auch beim Lügen musste man professionell sein.
Vor allem beim Lügen.