II Bruch.Linien

Er fühlte bei dem für ihren Sonntag üblichen, gemeinsamen Frühstück, dass sie ihn beobachtete, sein Schweigen belauerte. Hatte er gestern etwas gemerkt? Hatte sie sich verraten? Verraten durch die Geschäftigkeit, mit der sie nach dem ersten Telefonat, das er zufällig mitgehört hatte, ein weiteres mit ihrem Sohn zum Mietvertrag geführt hatte. Entgegen ihrer Angewohnheit, sich beim Telefonieren zurückzuziehen oder zumindest leise zu sprechen, hatte sie die Tür zum Nebenraum offen gelassen und so betont deutlich gesprochen, dass er jedes Wort verstehen musste. War das zu offensichtlich gewesen? Ihr Blick schien zu fragen: Verbirgt er vor mir, dass er etwas gemerkt hat? Verbarg sie nun vor ihm, dass sie gemerkt hatte, dass er irritiert und misstrauisch geworden war?
Sie ging nach dem Frühstück wie jeden Sonntag, an dem es das Wetter zuließ, in den Murpark joggen.
Müde von der schlaflosen Nacht und mit dem Wunsch, endlich Gewissheit zu haben, holte er aus ihrer Handtasche, die wie immer im Vorzimmer auf einem Stuhl lag, ihr Mobiltelefon, mit dem sie das von ihm gestern belauschte Gespräch geführt hatte. Er suchte – behindert durch die ihm fremden Begriffe im französischen Menü – das hatte sie seit Strasbourg auf allen ihren Telefonen eingestellt und aus nostalgischen Gründen beibehalten – die Liste der letzten Anrufe. Er hoffte, die Nummer des gestrigen Anrufers zu erfahren, den sie auf seine Frage hin beiläufig als „befreundete Juristin“ bezeichnet hatte. Er landete bei seiner Suche auf ihrem Handy schließlich in der Mailbox mit zwei noch abzurufenden Nachrichten.
Er drückte auf die Wahltaste und hielt das Handy ans Ohr. Eine Frauenstimme buchstabierte zunächst eine Telefonnummer. Er wollte die Nummer notieren, die gleichzeitig auf dem Display aufschien, und ging mit dem aufgeklappten Mobiltelefon noch am Ohr in sein Arbeitszimmer. Auf dem Weg dorthin folgte nach einer kurzen Pause die Nachricht, die in der Mailbox gespeichert war. Er war überrascht und verstand kaum die Worte, die nun eine männliche Stimme sprach, er registrierte nur den Tonfall, jenen sanften, eindringlichen Tonfall, den er gestern auch in ihrer Stimme beim Telefonieren gehört hatte. Dieser Tonfall war es, der ihn gestern schon irritiert hatte, sodass ihn die Erklärung „befreundete Juristin“ misstrauisch machte.
Er war benommen. Er blieb stehen. Ging ein, zwei Schritte. Blieb stehen.
Er wollte schreien, doch nur ein „Nein!“, mehr geflüstert als gebrüllt, brachte er zustande.
Die Nachricht sprach von einem „später nochmals versuchen wollen“ und endete mit einem Klick.
Und schon sprach die Frauenstimme erneut eine Nummer. Dieselbe Nummer wie bei der ersten Nachricht erschien auf dem Display. Er stand schon in seinem Arbeitszimmer, als die zweite Nachricht ablief. Auch sie verstand er unter dem Brausen des Blutes in seinem Kopf und in seinen Ohren kaum. Es war ihm, als wollte sein Körper damit das Hören übertönen. Nur wenige Worte wird er später erinnern: „Schatzi“, „Bussi“, „bis Montag“ und „Vielleicht inzwischen ein Brieflein“. Später wird er mehr spüren als erinnern, dass diese Stimme in einer tieferen Tonlage noch Intimeres angesprochen hatte, aber das hatte er im Sturm der Gefühle nicht mehr gehört.
Er reagierte wie ein Automat, ging langsam zurück ins Vorzimmer, legte das Mobiltelefon in die noch offene Handtasche zurück. Schloss diese, damit sie nichts merkt.
Er lief minutenlang in der Wohnung umher, schwer atmend, er war einer Ohnmacht nahe. Er ging in die Küche, trank ein Glas Wasser, ein zweites, ein drittes.
Nun schrie er – konnte endlich schreien: „Nein! Nein! Nein!“
Er hielt sich an der Abwasch in der Küche fest.
Wieder lief er durch die Wohnung, während sie wohl arglos das Joggen genoss. Er lief durch alle Räume der Wohnung, auch in das Zimmer ihres Sohnes und legte die von dessen Besuch am letzten Wochenende noch zusammengeknüllte Tuchent sorgfältig zusammen. Er klopfte die Polster aus und strich sie glatt. Aus der Küche trug er das schon abgewaschene Geschirr und stellte es in den Geschirrschrank im Esszimmer.
Noch immer dieses Pochen in seinen Schläfen. Diese Schläge. Er zwang sich zur Ruhe. Immer wieder auf und ablaufen, wobei er alle Türen leise und sorgfältig, wie es seine Art war, hinter sich schloss. Es liefen die Routinen des Alltags. Sie beruhigten seine Gedanken.
Er suchte nach Erklärungen. Harmlosen. Vielleicht war es der behinderte Kollege, mit dem sie in letzter Zeit sehr vertraut geworden war, und der sie so abschätzig „Schatzi“ nannte. Nein, dessen Stimme kannte er. Die Stimme aus der Mailbox hatte viel älter geklungen. Weit über fünfzig, sechzig sogar.
Hatte die Stimme eine Dialektfärbung gehabt? Hatte er diese Stimme schon gehört? Da schoss es ihm in den Kopf. Der Klang, der Tonfall war es, der ihn erinnerte. Es war ein aus seiner Jugend geläufiger Tonfall. So klang manchmal die Stimme seines Vaters, der im Vorjahr verstorben war. Nicht die Stimme aus den letzten Jahren, die sich mit der körperlichen Gebrechlichkeit verändert hatte, sondern die Stimme des Vaters seiner Kindheit.
Er spürte mit den Erinnerungen zugleich Wut und Angst. Er wollte nochmals das Mobiltelefon holen, nochmals die beiden Nachrichten abrufen. Er vermochte es nicht, denn trotz allem fühlte er Scham. Er wog kurz die Scham des Vertrauensbruches gegen ihre Scham des offensichtlichen Betruges.
Nach den zwei Wochen wird er denken, dass es sein musste. Wie hatte sie diese Beziehungen leben können, ohne innerlich gespalten zu sein? Ohne ständig auf der Hut zu sein? Hatte sie sich nie eingestanden, dass die zahlreichen Spannungen aus ihrer abweisenden Verteidigungs- und Vertuschungshaltung herrührten, die sie an manchen Tagen gegenüber allem einnahm, was er sagte und tat? War sie davor mit ihm beisammen gewesen? Hatte sie ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen? Hatte sie überhaupt ein Gewissen?
Er hörte die Nachrichten auf ihrem Mobiltelefon nicht noch einmal ab, weil er es nicht ertragen hätte. Vor allem ein Wort rotierte in seinem Kopf: „Schatzi“. „Bussi“ war beiläufig gesprochen. Fast nebenher. Aber „Schatzi“. Sie hatte sich schon am Beginn ihrer nun dreiunddreißigjährigen Beziehung alle Kosenamen verboten und wollte nur mit ihrem Vornamen angesprochen werden. Auch bei Zärtlichkeiten und beim Beischlaf nannte er nur ihren Namen. Ihren vollständigen Namen. Keine Koseform. Nichts Intimes. Nichts Schmutziges. Wann hatte sie ihn das letzte Mal mit seinem Namen angesprochen? Es wurde ihm bewusst, dass sie das wohl schon seit vielen Jahren nicht mehr getan hatte. Nicht einmal, wenn sie ihn rief. Hatte sie ihn nie gerufen?
Namen waren ihr wichtig, das erkannte er auch aus ihren Texten, die sie in den letzten Jahren verfasst hatte. Sie fühlte sich zur Schriftstellerin berufen und hatte drei schon in Strasbourg und Wien begonnene Erzählungen zu einem Roman zusammengefasst. Ihre Frauentrilogie, wie sie diese zunächst genannt hatte. Sie hatte die Namen aller Personen mit Bedacht und Sorgfalt gewählt. Und jetzt ein „Schatzi“, ein Wort, das ihm aus seiner Kindheit und Jugend vertraut war, als er – halbwüchsig schon – von Huren am Strich angesprochen wurde: „Schatzi, mach ma was?“„Schatzi“ nannten auch die Zuhälter ihre „Pferdchen“. Er war in Meidling, einem Wiener Vorstadtbezirk, aufgewachsen, der einige anrüchige Viertel besaß. Sein Schulweg ins Gymnasium führte entlang des auch heute noch belebten Gaudenzdorfer Strichs. Jedes Kosewort hätte er ihr gegeben, dieses aber wäre das Letzte gewesen. „Schatzi“ war das Letzte. Sein Vater, dem er einmal heimlich an der Hand der Mutter gefolgt war, hatte die Huren so genannt, zu denen er ging. Er versuchte das Wort auszusprechen, es kam nicht über seine Lippen. Ihn ekelte vor diesem Wort. Er fühlte nur mehr Schmutz, der alle seine Gedanken verschüttete.
Als sie vom Joggen zurückkam, öffnete er wortlos die Tür, und ging,  während sie sich wie immer zum Duschen ins Bad begab, in sein Arbeitszimmer und setzte sich an den Computer.