XXI

Wir hatten nur ein Leben,
es war zu kurz für alles,
was wir von ihm erwarteten.
Waltraud Anna Mitgutsch: Wenn du wiederkommst

Das Dilemma ihrer Beziehung bestand darin, dessen wurde er sich nach den zwei Wochen bewusst, dass er sich zusehends auf sie allein fixiert hatte, während sie immer Aktivitäten und Freundschaften nebenher pflegte. Sie besuchte verschiedene Sprachkurse und entwickelte in diesem Kontext über Jahre hin Kontakte, während er nach anfänglicher unsinniger Eifersucht darauf es allmählich akzeptierte.
Auch Männer werden klüger.
Ihre Auslandstätigkeit war teilweise damit zu begründen, dass sie in ihrem Leben noch einmal einen Kick wollte. Dass es doch nicht alles gewesen sein konnte, einen Mann zu heiraten, ein Kind großzuziehen und dann bis zur Pensionierung oder bis zum Tod business as usual zu betreiben. Das hatte er erst begriffen, als sie aus Wien zurückkam und in das ungeliebte System Graz zurückkehrte. Nur als er versuchte, diese späte Erkenntnis in Bezug auf ihre Beziehung auch zu leben – und das war es, was ihn besonders verbitterte – übernahm eine andere Beziehung dieses Thema. Vermutlich hatte sie auf Grund der früheren Erfahrungen mit einer Rückkehr kein Vertrauen mehr in ihn. Rückblickend wurde ihm bewusst, dass alles, was er damals getan hatte, einen Neuanfang zu suchen, von ihr einfach ignoriert worden war. Sie liebte ihn nicht mehr und warum sollte sie von jemandem, den sie nicht liebte, Hilfe erwarten. Eher erlebte sie seine Versuche, sie wieder aufzunehmen, als Klammern, das sie verabscheute. Sie merkte sehr wohl, dass er in der Zeit ihrer Abwesenheit wenig dazu gelernt hatte, denn er blieb weiter allein auf sie fokussiert und das nahm ihr den Atem, den sie zum Leben brauchte. Warum hatte er nicht in der Zwischenzeit so wie sie Beziehungen aufgebaut?
Ein einziges Mal hatte er in Form eines Zeichenseminars an der Volkshochschule Aktivitäten außerhalb ihrer Beziehung gesucht, wobei dies eher aus Trotz wegen ihrer Auslandstätigkeit geschah und weniger, weil er ein Bedürfnis danach hatte. Er hatte immer schon gezeichnet, aber das Gebiet der Portrait- und Aktzeichnung konnte er nicht aus Büchern lernen. Schließlich war sein einziges Motiv, diese Kurse zu besuchen, ein so guter Porträtist zu werden, um sie zu zeichnen. Auch hier manifestierte sich letztlich wieder die alte Fokussierung auf sie. Als er sie einige Male in Streitgesprächen an beiden Händen festhielt, schrie sie ihn an, dass sie sich nicht wie ein Kind behandeln ließe, das man festhalten muss, um es zu belehren. In diesen zwei Wochen begriff er allmählich, dass man sie nicht festhalten konnte, weder körperlich noch psychisch. Er wusste zwar, dass sie Freiraum brauchte – das wusste er von Anfang an, hatte aber immer Angst, dass in diesem Freiraum etwas Besseres auf sie wartet als er -, hatte aber zuwenig Vertrauen in ihre Liebe. Hier landete er bei dem anderen Dilemma, dass er nie sicher sein konnte, dass sie ihn liebte. Er wusste zwar, dass ihre Liebe zu ihm längst erloschen war – er konnte sich in den zwei Wochen nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal diese Worte gebraucht hatte -, hoffte aber immer noch, dass sie es doch irgendwann einmal sagen würde. Nach den zwei Wochen wird er über seine Naivität lachen.
Es verbitterte ihn, dass er den Zeitpunkt übersehen hatte, als ihre Liebe weniger wurde, als sie schließlich zu Ende war. Warum hatte sie ihm kein Zeichen gegeben, warum hat sie ihn nie darum gebeten, ihr zu helfen, wieder Liebe oder zumindest Gefühle zu entwickeln. Warum hatte sie nie …
Was hatte er getan, um das Erlöschen ihrer Gefühle zu verhindern? Irgendwann hatte sie aufgehört, nach seinen Verletzungen zu weinen. War das der Zeitpunkt gewesen?
In ihrer Frauentrilogie hatte sie die drei Formen der Magie beschworen: Erscheinen – Verwandeln – Verschwinden. Diese drei prägten ihr eigenes Leben, bevor sie ihn kennengelernt hatte. Er wusste nie exakt – sie ließ ihn stets im Ungewissen – wie viele intime Männerbeziehungen sie vor ihm gehabt hatte. Wollte er es wissen? Einige hatte sie ihm nicht verschwiegen, sodass er schätzte, dass es an die zehn bis zwanzig gewesen sein mussten. Eine Zahl, die ihn, der er so lange gewartet hatte, in seiner verklemmten Sexualität erschreckte. Er war am Beginn ihres Beisammenseins immer wieder eifersüchtig auf diese vergangenen Beziehungen, er quälte sie damit. Was er von ihnen wusste, war, dass immer sie die Beziehungen beendet hatte, dass sie einfach aus den Beziehungen verschwand. Und vor diesem Verschwinden hatte er unendliche Angst. Er baute um sie einen Käfig aus Beteuerungen, Beschwörungen und Drohungen – er hätte zwar schon aus Selbstzweifeln heraus nie im Leben Selbstmord begangen, setzte aber diese Drohung immer wieder erfolgreich als Druckmittel ein, da sie Suizid zumindest für möglich hielt. Dass es ihm schließlich gelungen war, sie dreiunddreißig Jahre an sich zu binden und sie am Verschwinden zu hindern, hätte ihm doch schon lange zuvor Ruhe und Gelassenheit vermitteln können. Dass es ihm nicht gelang, lag an einer seltsamen Disparität zwischen ihren individuellen Geschwindigkeiten, wie sie sich einander gegenüber verhielten. Zwar verbreitete sie in beruflichen und manchen privaten Aktivitäten rastlose Hektik, Sprunghaftigkeit und Perfektionismus, ihm gegenüber aber, wenn es etwa darum ging, etwas zu berichten, war sie quälend bedächtig und langsam. Es dauerte sehr lange, bis er sich darauf einigermaßen einstellen konnte, allerdings gelang es ihm nie wirklich, sich ihrer Geschwindigkeit in einer konkreten Situation anzupassen. Wenn sie beisammen waren, erfasste ihn oft eine quälende Ungeduld, wenn sie wieder einmal ausholte, etwas im Detail zu erzählen. Zwar warf sie ihm immer wieder einen dozierenden und abschweifenden Gesprächsstil vor, ihrer war aber vergleichsweise ähnlich. Der Unterschied lag in der Reaktion: während sie geduldig seine Sermone über sich ergehen ließ, unterbrach er sie in seiner Ungeduld, sodass sie wohl zu Recht dachte, er wollte schon wieder den Gesprächsfaden an sich reißen. Seine Ungeduld hatte teilweise die Wurzeln in seiner Unsicherheit und seiner Befürchtung, etwas zu versäumen, etwas für ihn Wichtiges im Gespräch dann zu vergessen. Wahrscheinlich hätte er sich – so wie er es im wissenschaftlichen Diskurs kannte, einen Stift und einen Zettel nehmen sollen, um seine Einwürfe festzuhalten. Wie lächerlich.
Seine Ungeduld ließ ihn zu einem Ablaufperfektionisten werden, der alle Routinetätigkeiten immer wieder danach abklopfte, ob sie nicht noch schneller und rationeller erledigt werden konnten. So optimierte er auch Abläufe, die die Hektik aus seinem Erleben hätten nehmen können, etwa Duschen oder das Zubereiten des Frühstücks. Aus dieser sich allmählich entwickelten Disparität entstanden zahlreiche Situationen, die in beiden Unzufriedenheit auslöste: da er das Frühstück immer schneller zubereitete, war sie noch lange nicht im Bad mit ihrer Morgentoilette fertig, sodass sie sich bedrängt fühlte, wenn er schon ins Bad kam und sie gerade erst den Slip angezogen hatte. Andererseits erlebte er ihre Langsamkeit als Trödeln und Verlust gemeinsamer Zeit. In den zwei Wochen wurde ihm bewusst, dass er sich an sie komplementär angepasst hatte, möglicherweise aus einem inneren Widerstand heraus. In ihrer alltäglichen Betriebsamkeit ähnelte sie ihrer Mutter, während die Langsamkeit im direkten Kontakt von ihrem Vater herrührte, der minutenlang damit beschäftigt war, ein Butterbrot so zu schmieren, dass der Aufstrich überall bis an den Rand gleichmäßig war. Er genoss es auch, dass man ihn bei Tisch dabei beobachtete, wie er hernach genüsslich das Brot in exakt gleich breite Schnitten zerteilte, wobei er mit dem Belag hernach etwa in gleicher Weise verfuhr. Die Langsamkeit ihres Essens war allerdings für ihn kein allzu großes Problem, eher schon für die Kellner in Restaurants, die immer wieder unverrichteter Dinge abziehen mussten, wenn sie das nächste Gericht bringen wollten – erst in den letzten Jahren vor den zwei Wochen, wie er sie nach dem Abschluss der eigenen Nahrungsaufnahme beobachtete – oder wie sie es empfand – anstarrte. Dabei liebte er ihre Art zu essen, ein Stück Fleisch mit Messer und Gabel so zu sezieren, dass keine Flachse oder kein Häutchen mehr daran war. Manchmal klagte sie über die schließlich kalt gewordenen Speisen. Teller hatten bei ihr vorgewärmt zu werden.
Zwar hatte er sich in den letzten Jahren bemüht, sich dem Tempo ihres Essens anzupassen, gelungen war es ihm nur in den seltensten Fällen, am ehesten, wenn sie nur eine Vorspeise bestellt hatte. Können solche Differenzen im Rhythmus eine Beziehung zerstören?
Oder war das Erleben des angestarrt werden nur eine Folge ihrer Trennung gewesen, denn sie hatte ihm immer wieder berichtet, wie schön es war, alleine in ihrer Wohnung für sich ein Essen zu bereiten. War es nach dem Studium, in dem sie alleine gewohnt hatte, das erste Mal wieder, dass sie für sich selber sorgte, dass sie es wieder erlebte, sich selber etwas zuzubereiten, sich selber etwas zu vergönnen und allein mit sich selber zu genießen?
Diese Frage stellte er sich wiederholt nach den zwei Wochen, denn sein Perfektionismus war ihm durchaus nicht in die Wiege gelegt worden, sondern eine Reaktion auf ihren Anpassungsdruck, den sie vor allem in den ersten Jahren ausgeübt hatte. Er war im Grunde genommen eher schlampig und oberflächlich, etwa was die Haushaltsführung anging. Der Putzfimmel seiner Mutter, die täglich den Staub auf allen Möbelstücken aufwirbelte, damit sie ihn am nächsten Tag abermals aufwirbeln konnte, da er sich in Zwischenzeit wieder als matter Schleier auf alles gelegt hatte, was glänzen konnte.
Sie bestand von Anbeginn darauf, dass überall Ordnung herrschen müsse. Der wöchentliche Putztag war vom Beginn ihres Zusammenlebens an ein Wettlauf gegen die Zeit: wer hat schneller seinen Part erledigt. Ihre erste kleine Wohnung in Graz, die sie relativ verwahrlost übernommen hatten, blitzte bei ihrem Weggehen vor Sauberkeit. Vermutlich stellte sich bei ihr erst dann eine gewisse Nachlässigkeit ein, als sie eine Putzfrau beschäftigten. Wenn etwas nicht sauber war, dann war jemand anderer daran schuld und man konnte es der Putzfrau beim nächsten Mal nahe legen, einmal auch die Türrahmen gründlich zu putzen. In der Zeit, in der sie in Strasbourg und in Wien war, beschäftigte er zwar auch eine Putzfrau, übertrug den Perfektionismus aber auf seine alltäglichen Abläufe. Wenn er sich eine Abendessen kochte, dann setzte er sich erst dann zu Tisch oder zum Fernsehapparat, wenn das Kochgeschirr und die weiteren verwendeten Küchenutensilien schon abgewaschen waren. Er bedauerte manchmal, dass er den Teller, von dem er aß, nicht auch vor dem Essen abwaschen konnte. Er bevorzugte in der Folge Pfannengerichte, die er direkt aus der Pfanne aß.


Das meiste auf der Welt geht nicht durch Gebrauch kaputt, sondern durch Putzen.
Erich Kästner