XIII Lebens.Angst

Sie hatte in Strasbourg zu schreiben begonnen. Heimlich zuerst, es vor ihm aber nicht vor anderen verbergend. Wohl auch nicht vor „ihm“, wie er in den zwei Wochen dachte.
Sie begründete es damit, dass sie durch das Schreiben die unerträgliche Situation ihrer irgendwann notwendigen Rückkehr zum verhassten Beruf und wohl schon damals ungeliebten Ehemann bewältigen wollte. Es würde lange dauern, bis er einen Text von ihr lesen durfte. Erst dann, als sie die Zusage von einem kleinen Verlag erhalten hatte, drei Erzählungen als einen Roman zu veröffentlichen. Sie begründete die Heimlichkeit damit, dass sie sich von ihm nichts zerstören lassen wollte.
Für sie war er ein Zerstörer.
Hier war sie wieder, diese Angst. Die Angst vor Zerstörung, ihrer Zerstörung.
Er litt unter diesem Vorwurf. Bitterkeit stieg in ihm hoch, als sie abermals ihre ganze Lebensangst, diese Angst vor Verletzungen, in ihn projizierte. Er, der dreiunddreißig Jahre an ihrer Seite gelebt hatte. Der in den letzten Jahren in einem allmählichen Prozess der Selbsterniedrigung begonnen hatte, all das Selbstbewusstsein und den Stolz, die er nach vielen Niederlagen in seinem Leben mühsam erarbeitet hatte, zu zerstören. Es war ein langsamer Prozess der Selbstzerstörung, die aus ihm einen sentimentalen Idioten gemacht hatte, der er nun in den zwei Wochen war. Sie spottete darüber, dass er in Selbstmitleid zerflösse, wenn wieder einmal in einem Gespräch seine Tränen flossen. Wie wenig verstand sie von Liebe und der Trauer um ihren Verlust. Sie, die Zeit ihres Lebens eine Nehmende war, eine andere Menschen Verschlingende, sie hatte es bei ihm beinahe auch geschafft. Der Zorn in den letzten Jahren rührte teilweise aus ihrer Hilflosigkeit her, dass es ihr nicht gelang, seine Liebe zu ihr oder das, was von dieser noch übrig war, zu zerstören.
Sie fühlte seine Liebe wie eine Krake, die sie festhielt und ihr den Atem nahm.
Warum liebte er sie? Sie, die ihn nicht liebte!
Immer wieder warf sie ihm dieses Faktum an den Kopf, immer wieder wies sie all seine Versuche zurück, sie aus ihrem Gefängnis ihrer Angst zu befreien.
Als sie ihm die drei Erzählungen zum Lesen gab, die als Frauentrilogie erscheinen sollten, versuchte er von seiner Rolle als Partner abzusehen – sofern das überhaupt möglich war – und gab ihr eine sprachliche und literaturwissenschaftliche Rückmeldung. Er hatte vor seinem Psychologiestudium Germanistik studiert und seit seiner Jugend immer wieder Texte veröffentlicht, zuletzt auch im Internet in einem von ihm entwickelten Ezine-Format. Der Höhepunkt seines literarischen Lebens war die eher missglückte Aufführung eines Theaterstückes am Grazer Landestheater, das er für einen Wettbewerb geschrieben hatte und überraschenderweise unter den Siegern war. Damals hatte sie sich mit ihm noch gefreut.
Er versuchte in ihren Texten auch sie zu finden. Nicht nur in dem ruhelosen Erzählstil, der den Leser forderte und der ihrem Wesen entsprach, sondern auch in den Personen, die sie hier inszenierte.
Von den drei Texten fand er nur den zweiten gut gelungen, der erste war zu konstruiert und der letzte zu wissenschaftlich, bei dem man die Recherche in beinahe jedem Absatz bemerkte. In keiner der drei Frauen fand er sie, denn es war häufig dieser sezierende Blick, gerichtet auf das Unglücks anderer Menschen. Sie wanderte in ihren Erzählungen durch fiktive Menschenschicksale der in den letzten Jahren begonnenen Freundschaften zu Frauen, wobei sie diese wie Schachfiguren hin und herschob.
Die drei Texte passten nicht wirklich zusammen – was sie auch selber eingestand – und er hatte Bedenken, dass dieser „Roman“ als Erstling ihr eher die Chancen auf weitere Veröffentlichungen verstellen könnte, allerdings wagte er es nicht, das auch nur anzusprechen. Wenn den drei Frauen etwas gemein war, dann war es der Verlust und die Suche nach etwas, was nicht zu finden war. Hier glich der Duktus ihrer Erzählungen ihrem Leben. Sie war auf der Wanderschaft zwischen Menschenschicksalen, beobachtete diese, sezierte sie, arrangierte sie und zog weiter.
Nur ihm war es gelungen, sie zu halten. Dreiunddreißig Jahre.
Hatte er sie zu wenig festgehalten?
Hatte er sie zu sehr festgehalten?
Nicht von ungefähr schrieb sie zur gleichen Zeit an einem anderen Text über einen Flaneur, den sie für den Wettbewerb einer lokalen Literaturzeitschrift verfasste. Die erste Fassung wies sehr viele holprige Formulierungen und stilistische Bruchstellen auf und verlor an vielen Stellen das Thema. Nach dem Misserfolg beim Wettbewerb – sie war bei der zur Veröffentlichung des Zeitschriftenbandes veranstalteten Lesung anwesend und kritisierte nachher im Gespräch mit ihm heftig die Autoren und Autorinnen, dass ihr Text mindestens genau so gut sei -, verfertigte sie nach seiner betont sachlichen Rückmeldung eine bereinigte Fassung. Diese hat sie abermals bei einem Wettbewerb eingereicht, der während der zwei Wochen noch lief.
Obwohl sie im Gegensatz zu ihm ihre Texte meist mit der Hand vorschrieb, nutzte sie jetzt auch den Laptop, den er ihr vor einem Jahr geschenkt hatte.
Er hatte ihr am Geburtstag eine Homepage auf ihren Mädchennamen – sie wollte ihre Texte ausschließlich unter diesem veröffentlichen – geschenkt, mit der sie ihre schriftstellerische Tätigkeit, die allmählich gegenüber dem Erwerbsberuf in den Vordergrund trat, unterstützen konnte. Vermutlich erlebte sie das ebenfalls als Einmischung.
Während der letzten Zeit – in diese zwei Wochen fiel auch die Verschiebung der Publikation ihres ersten Romans auf das nächste Jahr – arbeitete sie an einer Männertrilogie.
Diese hielt sie vor ihm verborgen und nur hie und da erhaschte er einen Namen. Im Altpapier fand er manchmal einen handgeschriebenen Zettel, den er kaum entziffern wollte und konnte. Soviel war ihm aber klar. Auch hier wurden Menschen aus ihrer Umgebung seziert. Ob er darunter war – ja er wird darunter sein, dessen war er sich sicher, denn er ist wohl das Hauptobjekt ihrer Verarbeitung des Lebens durch Schreiben.
Ob sie auch über den Mann schreiben würde, mit dem sie ihn hintergangen hatte? Ja, auch das würde sie tun.
Er bezähmte seine Neugier, wenn er irgendwo ein offen liegendes Manuskript fand, oder wenn er einmal auf ihrem Laptop kurz arbeitete.
Nein, er würde das Vertrauen nie missbrauchen. Eines Tages würde er es wissen, eines Tages würde er es lesen – als Buch oder als Manuskript.
Würde er dann mehr über sie wissen?
Erst lange Zeit danach wird der Roman über drei Männer erscheinen, worin sie offen den Betrug beschreiben wird. Die Namen der Protagonisten wird sie dabei ganz einfach verschlüsseln, etwa den Namen des Nebenbuhlers durch den Vornamen des Halbbruders, oder seinen Namen durch ihren eigenen, der in der Wortwurzel dem Bruder ihres Vaters entsprach, der eine Tochter gleichen Namens hatte. Mit dieser Cousine hatte sie auch einmal einen wesentlich älteren Liebhaber gemeinsam gehabt.