XIV Vater.Suche

Ihm war bei der Lektüre ihrer Texte klar geworden, dass sie auf der Suche war. Auf der Suche nach etwas, das sie vielleicht anfangs bei ihm gesucht hatte. Das sie von ihm erwartet hatte. In der Zeit, in der sie sich von ihm abzuwenden beganng, hatte er zunächst nur eine professionsbedingte Ahnung, die sich allmählich verdichtete. Sie war auf der Suche nach ihrem Vater. Nicht nach ihrem leiblichen Vater, den sie drei Jahre nach ihrer Trennung begraben wird, sondern nach einer fiktiven Vaterfigur, die schon früh in ihren Phantasien entstanden war. Bedrohlich und liebevoll zugleich, ambivalent wie sie selber. In diesen Vater hatte sie ihr Leben projiziert wie in einen Spiegel, um sich endlich selber erkennen zu können. Die zahllosen, rasch wechselnden Beziehungen ihrer Jugend waren ein Abbild jener inneren, rastlosen Suche nach dem Vater, dem männlichen Prinzip in ihrem Leben. Dieses männliche Prinzip spürte sie zugleich als Ziel und als Ort der Flucht. Andeutungsweise war ihr diese Vatersuche in ihrer Frauentrilogie schon bewusst geworden, schreibenderweise zumindest. Nur unklar entdeckte sich ihr diese Sehnsucht nach dem Männlichen, das sie beschützte und zugleich bedrohte, das ihr Schmerz bereitete und zugleich höchste Wonne.
Sie recherchierte zu allen ihren Erzählungen akribisch – von diesen wissenschaftlichen Unterlagen hatte er einiges aufgeschnappt, denn sie passten nicht zu ihrer derzeitigen beruflichen Tätigkeit. Wie schon im Flaneur ging es in den Recherchen um Krankheiten, schicksalhafte Krankheiten, bei denen es keine Heilung gab. Krankheiten, die Väter ihren Kindern weitergeben, als Erbe ihrer eigenen Existenz. Krankheit als Erlösung.
In diesen zwei Wochen dachte er häufig darüber nach, ob sie an einer solchen unheilbaren Krankheit litt, die sie ihm verschwieg. Sie hatte ihm schon vor Jahren von einem Geschwür in ihrer Gebärmutter, nachdem die Gutartigkeit längst abgeklärt war, erzählt. Auch Schmerzen im Bein und im Fuß hatte sie ihm lange Zeit vorenthalten.
Es war immer dasselbe Muster – sie verbarg einen Teil ihres Lebens vor ihm so lange, bis sie es nicht mehr verbergen konnte oder wollte. Sie nahm ihm damit die Chance, an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Als er das bewusst wahrnahm – gefühlt hatte er es schon lange -, erkannte er die Hoffnungslosigkeit, jemals an sie als Mensch heranzukommen. Alle ihre Texte waren auch von der Hilflosigkeit der Akteure gekennzeichnet, an andere Menschen heranzukommen. Gleichzeitig sprach aus ihnen eine unausgesprochene und unaussprechliche Sehnsucht danach, geliebt zu werden. Sie litt unter ihrer Oberflächlichkeit, auch wenn sie es leugnete. Sie hatte es – wohl aus Kalkül – achselzuckend gesagt: „Wahrscheinlich bin ich so oberflächlich!“ War diese Oberflächlichkeit eine Projektion ihrer Suche nach dem Männlichen?
Wie weh hatte ihm diese Herabsetzung ihres Selbst getan, denn er fühlte – manchmal waren dazu auch ziemlich rationale Konstruktionen auf Grund ihres Verhaltens notwendig, um diesem Empfindungen zuzuschreiben – wohl als einziger, dem sie bisher in ihrem Leben begegnet war, wie es in ihrem Inneren aussah, und dass sie alles andere als oberflächlich war.
Wie sie selber in manchen Augenblicken schwer an ihrem Schneckenhaus trug, in das sie sich bei Bedrohung reflexartig zurückzog.
Viel lieber wäre sie eine Nacktschnecke gewesen. Schutzlos dem Leben ausgeliefert, aber dem Leben. Wenigstens dem Leben. Irgendeinem.
Die Illusion, jenes Leben zu leben, das sie erträumt hatte, war in all den Jahren verflogen. Sie war nach ihrem Lebensrausch nüchtern geworden. Sie analysierte ihr eigenes Leben rational und schob ihre Emotionen beiseite, wann immer es ging. Waren die Emotionen – negative in der Mehrzahl – aber zu stark, dann bugsierte sie diese in das Raster ihrer rationalen Ordnung, die sie allmählich in ihr Leben gebracht hatte. Dort konnte man die Emotionen verwalten, abwägen. Auch ihr Schreiben diente dieser Analyse – zu Papier gebracht konnte man die Gefühle besser handhaben, hier und dort ein wenig korrigieren, hier ein wenig mehr Erklärung, dort ein Schlussstrich, ein Punkt.
Wenn sie einen Text abgeschlossen hatte, fühlte sie sich befreit.
Sie hatte in diesem Augenblick das Gefühl, wieder ein Stück des Weges ihrer Suche nach dem männlichen Prinzip weiter gekommen zu sein.
In ihrem Texten wird sie sich diesem Prinzip annähern. Text für Text. Erzählung für Erzählung.
Befreit von diesen drängenden Forderungen in ihr, wachgerüttelt zu werden und zu leben. Wachgerüttelt von einem Mann, dem Mann in ihrer Sehnsucht.
Leben wollte sie, leben und lieben. Zärtlich, schwerelos, geborgen. Mit dem Mann in ihrer Phantasie.
Er war für sie das Hindernis, obwohl sie wohl in manchen Augenblicken fühlen mochte, dass er auch der einzige war, bei dem sie das Gefühl von Freiheit fühlen konnte. Hätte sie nicht um ihre Auslandstätigkeit kämpfen müssen, sondern hätte er ihr freudig zugestimmt – das hatte sie sich gewünscht -, hätte sie sich nicht freikämpfen können, hätte sie wieder nur eine geliehene Freiheit besessen.
Je älter er wurde, desto ähnlicher wurde er diesem Vaterbild, doch er verkörperte nur die negative Seite dieses Männlichen. Er glich äußerlich und innerlich immer mehr dem Bedrohungsbild ihres Vaters, der daran schuld war, dass sie immer wieder die Wurzeln verlor, die sie mühsam in der Fremde geschlagen hatte. Der Vater war es, der ihr das Leben lieh, das sie leben musste. Nicht das Leben, das aus ihr kam, sondern das Leben, das man ihr lieh. Nie hatte sie ein eigenes Leben gehabt.
Ein geliehenes Leben.
Das war ihr Leben.
Geliehen

Strasbourg war das Symbol für ihre Freiheit – sie hatte ihn damals sehr spät davon informiert, dass sie ein halbes Jahr in Strasbourg arbeiten könnte. Erst als alles mit einem ihr wohl gesonnenen Personalchef fixiert war, berichtete sie ihm davon – hatte sie Angst, dass er es ihr verbieten könnte?
Ihr Vorstellungsgespräch in Strasbourg war nicht allzu viel versprechend, da sie sich für die falschen Themen vorbereitet hatte. Wie so oft haben die Ausschreibungen mit der Tätigkeit nur am Rande zu tun. Da er ihr für dieses Vorstellungsgespräch einige Unterlagen und Kontakte verschafft hatte, übertrug sie ihren Ärger über die falsche Vorbereitung auch auf ihn. Dabei hatte er sich auf die Informationen gestützt, die sie ihm gegeben hatte. Später wird sie das vergessen haben und sagen, dass er nicht hilfreich gewesen war.
Sie war auf dem linken Auge blind, mit dem sie das Positive an ihm hätte sehen können. Ihr rechtes Auge war immer mit hochgehobener Augenbraue auf das Negative gerichtet. So zeichnet das Leben jene Spuren ins Gesicht, die in den Gedanken stecken, nicht jene, die offensichtlich sind.
Vor vollendete Tatsachen gestellt begann er einen unwürdigen Kampf gegen ihren Entschluss, mit dem er wohl den letzten Funken an Gefühlen für ihn tilgte. Hatte sie ihn schon damals im Vorfeld dieser Entscheidung, die verhasste Arbeitsstelle auf irgendeine Weise zu verlassen – sie sprach sogar von Kündigung, obwohl sie damit alle Privilegien ihrer Beamtenschaft verloren hätte -, ihren Gegnern zugerechnet, so manifestierte sich in allen Versuchen, ihr dieses halbe Jahr an veranschlagter Freiheit zu nehmen, als Zerstörung der letzten Gefühle. Er fühlte, dass sie sich einen anderen Abschied gewünscht hatte, aber er war dazu in seiner Enttäuschung, nichts davon gewusst zu haben, nicht in der Lage.
Als dann nach kurzer Zeit der Vertrag auf ein ganzes Jahr verlängert wurde – diese Option hatte sie schon vorher angedeutet, worauf er sie bat, nur ein halbes Jahr zu bleiben -, versuchte er es zwar mit Anstand zu akzeptieren, allerdings war es dazu viel zu spät. Auch bei ihrer Arbeit in Wien – hier hatte sie ihn früh vor vollendete Tatsachen gestellt – würde sie ähnlich wie für Strasbourg nicht von Beginn an die lange Dauer berichten, sondern beginnend von einem halben Jahr über ein dreiviertel Jahr bis zu zwölf Monaten erhöhte sie die Zeit ihrer Trennung. Schließlich waren es neunzehn Monate.
Der gemeinsame Urlaub in Frankreich und auch seine Besuche in Strasbourg verliefen von außen betrachtet harmonisch, harmonisch, weil sich beide bemühten, die Langmut des anderen nicht zu sehr zu bemühen. Die von ihm so ersehnte französische Form der Liebe – war das Lokalkolorit? – gewährte sie ihm in diesem Jahr zwei Mal.
Seither nie wieder.
Nach dem Jahr in Strasbourg wurde es zur Tradition, dass sie zu einen jährlichen Treffen mit ihrer schönen Vergangenheit flog. Vor den zwei Wochen kam es wegen Trivialitäten mehrmals zum Streit, wobei er sich fragte, wie sie soviel Energie dafür aufbringen konnte, wenn sie immer wieder beteuerte, ihre Gefühle wären schon seit Jahren tot. Der letzte Anlass war seine Bezeichnung des Nebenbuhlers als Arschloch, was ihm seiner Meinung nach wohl zustünde, zumal dieser ihm die Chance gestohlen hätte, bei ihrer Rückkehr vor einem Jahr nach Graz mit positiven Gemeinsamkeiten zu einen neuen Anfang zu finden. Er nahm übrigens später – nach ihrem Strasbourgbesuch – dieses Wort mit Bedauern zurück, obwohl sich in der Zwischenzeit Sachverhalte offenbart hatten, die dieses Wort als noch viel zu harmlos einstuften.
Sie nahm während und nach ihrer Strasbourgvisite den Kontakt mit ihm wieder auf – er wäre selber schuld daran. Wie weh tat es ihm, wenn er merkte, dass sie ihm täglich Botschaften schickte, Botschaften, die er so dringend gebraucht hätte. Sie schloss sich wie früher im Badezimmer ein und sandte ihm ihre „Brieflein“. Nach Strasbourg tat sie das auch vor dem Einschlafen, wenn sie sich schon verabschiedet hatte. Er hörte beim Vorbeigehen oder im Schlafzimmer die Tippgeräusche an ihrem Mobiltelefon und wusste, dass sie in Gedanken bei einem anderen war. Sollte er über diese Form der SMS-Kontakte nicht froh sein – solange sie SMS schickte, trafen sie einander nicht.
Zumindest versuchte er sich das einzureden.
Sie behauptete einmal sogar, dass er es „ihm“ zu verdanken hätte, dass sie überhaupt nach Graz zurückgekommen wäre. Er empfand diese Behauptung im Augenblick nur noch als grotesk.
Er bat sie am Vortag der Abreise als Symbol für die kleine Chance, nach diesen zwei Wochen wieder zu gemeinsamen positiven Themen zu kommen, das Wappentier des Elsass in irgendeiner Form als Souvenir mitzubringen.
Beim Abschied – er begleitete sie nicht zum Flughafen, weil sie es sich anlässlich der unerfreulichen Szenen am Morgen des Abreisetages verbeten hatte – bat er sie um eine Umarmung, die sie erwiderte, bei der er ihr einen schönen Aufenthalt und eine gute Reise wünschte – wie banal doch das Leben auch an ihren dramatischen Höhepunkten sein konnte. Sie bat ihn, diese Woche für sich zu nützen.
Sie brachte ihm eine metallene Dose mit Mint Sahnetrüffel mit, die lange nach den zwei Wochen auf dem Bücherschrank neben seinem Bett stehen würde, das er nach der Trennung nach Strasbourg nun alleine benutzte.
Nicht nur montags und freitags wie vorher.
Sie sollten so lange dort bleiben, bis sie in das Ehebett zurückkehren würde.
Dann würde er mit ihr gemeinsam die Dose öffnen.
Er war ein durch und durch sentimentaler Mensch.
Er lebte seine Illusionen.