Seit der Zeit im Kloster – Auszeit nannte sie es – war ihre Beziehung deutlich besser geworden. Nüchterner, sachlicher, an den Alltäglichkeiten orientiert. Er war glücklich, wieder mit ihr unter einem Dach zu wohnen, sie war offensichtlich nicht glücklich. Denn sie führte ihr Verhältnis – war es eines? – in dieser Zeit fort. Sie hatte in den zwei Wochen kategorisch zurückgewiesen, mit „ihm“ jemals geschlafen zu haben. Konnte er dieser Antwort vertrauen oder belog sie ihn wie in der Zeit zuvor? Gib nur soviel zu, wie man dir nachweisen kann. Das ist die tradierte Weisheit der Ehebrecher. Alles andere leugne.
Ihre Reaktionen auf seine Fragen wirkten auf ihn wie vorbereitet, abgesprochen, wie im Falle des Falles zu antworten war. Hatten sie es gemeinsam geübt? Er belog seine Frau wie sie ihn belog.
Sie hatte sich in den letzten Jahren häufig mit ihren Freundinnen getroffen, hatte wieder Tennis spielen begonnen, das er wegen Rückenproblemen – bis auf wenige in Urlaubsarrangements enthaltenen Gratisstunden – aufgegeben hatte. Sie war dem Verein des Arbeitsgebers beigetreten und spielte mehr oder minder regelmäßig. Sie hatte ihn recht kurzfristig gefragt, ob er auch Lust hätte, doch wollte er sich das offen halten, da er Angst hatte, seinem inzwischen einigermaßen gesundeten Rücken wieder regelmäßiges Spielen zuzumuten, zumal er recht ehrgeizig war und den Vorsatz, es eher gemächlich anzugehen, im Ernstfall über Bord werfen würde. In diesen zwei Wochen erlebte er die Tennistermine mit Freundinnen mit Argwohn und Zweifeln.
Wie viele dieser Treffen zuvor hatten ihm gegolten? Sie hatte immer in schillernden Farben von ihren Tennispartien erzählt, den wenigen Erfolgen und den anfänglich sehr häufigen Misserfolgen.
Diese zwei Wochen gipfelten in der Frage: Kann er ihr jemals wieder vertrauen? Seine bisher in ihrer Beziehung – vor allem am Beginn des Zusammenlebens – völlig unbegründete und aus mangelndem Selbstwertgefühl beinahe zwanghaft imaginierte Eifersucht war nun einer möglicherweise begründeten gewichen. Sie wog schwer.
Wie gerne hätte er ihr vertraut, hätte er der genannten Vermutung, dass wenn Frauen nach dem Nachhausekommen ihre Höschen waschen, sie die Samenflüssigkeit entfernen müssen, die lange nach dem Verkehr noch aus ihrer Scheide tropft. Und das beobachtete er häufig bei ihr, auch in diesen zwei Wochen. Und er hatte Alpträume davon, vor dem Wäschekorb zu sitzen und alle benutzten Höschen herauszuholen, die sie vielleicht noch nicht gewaschen hatte. Irgendwelche Spuren ihrer Lügen zu entdecken. Und er fand sich in diesen Träumen bedeckt von einem Berg von Höschen, in denen die wohl bekannte Steifheit, die Samen in Unterwäsche hinterlässt, zu greifen war. Überall diese Flecken, diese Besudelung. Jene Besudlung, die man als Jugendlicher manchmal heimlich aus der Hose entfernen musste, falls man unvorsichtigerweise etwa in einem Kino abgespritzt war. Mit seiner ersten Freundin, mit der er über zwei Jahre zusammen war, hatten sie es sich häufig gegenseitig im Kino gemacht, wobei sie sein Glied durch die rechte offenen Hosentasche erregte, während er mit seiner Hand in ihre Scheide eindrang. Dieses Petting mit Höhepunkt in der Dunkelheit eines Kinos – meist gingen sie dazu in die fast leeren Vormittagsvorstellungen, wobei sie manchmal andere Pärchen bei der selben Tätigkeit beobachten konnten – war der Ersatz für ein Hotelzimmer. Sie machten es damals auch in Schönbrunn auf versteckten Parkbänken, im Winter bei eisiger Kälte in leerstehenden Schrebergartenhäuschen.
Und im Traum ekelte ihm vor der Klebrigkeit in ihren Höschen, wenn man diese Stellen befeuchtet und beriecht, rochen sie nach ihr und nach ihm. Diese Flecken begannen sich zu vergrößern und der Samen sprudelte aus ihnen wie bei einem Höhepunkt.
Er versank mit einem Schrei in den sich ausbreitenden Spermien des andern.
Sie schwamm darin herum und sog das Ejakulat des anderen begierig in sich auf.
Kategorie: Allgemein
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X Schmutz.Wäsche
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XI
Vom Dom läuteten wie jeden Tag die Glocken um sieben Uhr morgens, als sie an diesem Freitag – wie immer an einem Freitag, nachdem sie nicht mit ihm gemeinsam im Schlafzimmer sondern im Wohnzimmer geschlafen hatte – , in die Bäckerei Hart ging, um zu frühstücken und die Zeitung zu lesen. Sie würde sich einen Cafe Latte und ein dunkles Gebäck bestellen, das sie dann mit Butter bestrichen verzehrte.
Er hatte in der Nacht davor bis drei Uhr früh wach gelegen.
Trotz seiner tröstlichen Absicht, ihr noch eine Chance zu geben, waren seine Gedanken wie in einem außer Kontrolle geratenen Karroussel gekreist.
Bin ich es, der Chancen vergibt? Das hatte er sich schon öfter gefragt.
Er hatte sie wie beinahe immer an solchen Tagen gehört, als sie ein zwei Minuten vor Sieben das Haus verließ, wie immer die Zeitung, die allmorgendlich vom Zeitungsausträger in den dafür vorgesehenen Zeitungshalter gesteckt worden war, auf den Stuhl im Vorzimmer legte und dann die Wohnungstüre vorsichtig versperrte.
Er wusste, als er die Glocken der Stadpfarrkirche hörte, dass sie in diesem Augenblick über den Domplatz in Richtung Bäckerei ging, die am anderen Ende des Platzes lag. Er hörte ihre Schritte auf dem Kopfsteinpflaster und sah ihre blonden Haare, die dabei im Rhythmus ihrer Schritte auf und niederwippten.
Meist stand er mit dem Siebenuhrläuten des Doms auf.
Als sie an diesem Freitag – dem ersten in den zwei Wochen – das Haus verlassen hatte, war er ebenfalls aufgestanden und fand in der Küche, in die er zuerst ging, um den Kaffee in der Espressomaschine zuzustellen, auf dem in der Mitte des Raumes stehenden Herd wie üblich, den Einkaufszettel liegen. An Freitagen, an denen er nicht an seinem Arbeitsplatz anwesend ein musste, sondern zu Hause an seinem Computer arbeitete, ging er nach neun Uhr, nachdem die Putzfrau eingetroffen war und ihre Arbeit begonnen hatte, am Bauernmarkt am Hauptplatz und in einen nahe gelegenen Supermarkt für das Wochenende einkaufen. Sie hatte neben den benötigten Lebensmitteln, die schon am Vortag fixiert worden waren, ganz unten dazugeschrieben: „Putzerei (bringen)“. Neben dem Herd stand auf dem Küchenstuhl ein Papiersack mit dem weißen Rock, den er in die Putzerei bringen sollte. Es war üblich, dass er diese Besorgung für sie erledigte, denn sie arbeitete meist bis achtzehn Uhr und die Putzerei schloss um siebzehn Uhr. Um ihren einzigen freien Nachmittag in der Woche nicht mit diesem Umweg in die Altstadt – dort lag die naheste Putzerei, nachdem die ums Eck am Domplatz geschlossen hatte – zu belasten, hatte er diese Besorgung übernommen, wobei es immer nur um ihre Bekleidung ging, da seine Kleidungsstücke in der Regel gewaschen werden und nicht in die chemische Reinigung mussten.
Aber an diesem Freitag „danach“ schoss ihm nur ein Gedanke durch den Kopf. Mit jener Viertelstunde, den dieser Umweg ihr an freier Zeit brachte, hatte er ihre Treffen mit ihm finanziert. Eine abgrundtiefe und verzweifelte Wut packte ihn, doch er wollte ruhig bleiben – im Kampf mit seinen widerstreitenden Gedanken atmete er schwer. Er lief ins Schlafzimmer und zog sich in Windeseile an, um sie noch in der Bäckerei, wo sie frühstückte, zu erreichen. Es war kalt draußen und der kühle Wind beruhigte ihn ein wenig.
Was sollte er sagen?
Wie sollte er es sagen?
Wie sollte er diese gefühlte Erniedrigung in Worte fassen?
Er betrat die Bäckerei, erwiderte knapp den Gruß der Verkäuferin, und fand die Gesuchte zeitungslesend im Raum neben dem Verkaufslokal, das mit zahlreichen Devotionalien aus der Kaiserzeit geschmückt war, da der Besitzer der k.k. Hofbäckerei Hart gelegentlich seine Freizeit in einem Erinnerungsregiment an die Kaiserzeit verbrachte. „Guten Morgen! Du hast etwas vergessen!“ Er überreichte ihr den Papiersack mit dem weißen Rock für die Putzerei. Sie war offensichtlich so konsterniert, dass sie ihn automatisch ergriff. „Ach ja!“ war ihre knappe Antwort. Er ging ohne ein weiteres Wort. Er wusste, sie würde ihm deshalb heute nach der Arbeit eine stille Szene machen – kaum mit Worten, ihre Blicke genügten, um jeden Dialog zu ersticken.
Ihr Blick hatte sich in den letzten Jahren radikalisiert. Dieser Blick kannte kein Lachen, sondern nur mehr Spott und Ironie. Wie gedemütigt fand er sich, wenn sie wieder dieses Lächeln aufsetzte: „Ach rede nur, glaub, was du denkst! Mir ist es egal!“
Ihre Augen, die früher so warm und herzlich dreinblicken konnten, waren in den letzten Jahren müde und glanzlos geworden. Zumindest dann, wenn sie ihn anschaute. In Gegenwart von anderen beobachtete er häufig, dass sie im Gespräch mit anderen wesentlich lebendiger wurden, wobei es auf die Vertrautheit ankam, die sie dieser Person gegenüber hatte.
Fremden gegenüber, denen sie zum ersten Mal begegnete, wirkte sie äußerst unsicher und unbeholfen. Sie brauchte sehr lange, bis sie ihre Scheu abgelegt hatte und in einem weniger aufgeregten Tonfall sprach.
Er selber kannte diese Unsicherheit auch aus eigener Erfahrung, denn er musste früh in seiner universitären Tätigkeit, nicht nur als Lehrender, sondern auch als Teilnehmer an Kongressen und Tagungen, vor vielen Menschen sprechen. In den ersten Jahren war auch er voll Nervosität und Unsicherheit, hatte diese Unsicherheit aber bald abgelegt, wobei er beinahe berüchtigt dafür war, dass er bei Vorträgen, die er besuchte, der erste im Publikum war, der eine Frage stellte. Auch heute noch fühlte er manchmal eine gewisse Erregung, wenn er als erster einen Kommentar zu einem Vortrag abgab.Zuletzt bei einer Lesung einer Kurzgeschichte, die sie in einer regionalen Kulturzeitschrift verfasst hatte, konnte er diese Unsicherheit bei ihr wieder beobachten. Sie, die immer souverän und sicher auftreten wollte, wirkte äußerst angespannt und nervös, was zu einer gekünstelten Ausdrucksweise – sie hatte sich absichtlich vorher keine Gedanken darüber gemacht, wie sie ihre Lesung einleiten sollte, denn sie war doch so routiniert im Moderieren – führte.
Diese Unsicherheit in ihrem Blick wird er mehr als ein dreiviertel Jahr später wiederfinden, als sie gemeinsam mit ihrem Sohn an einem kühlen Sommersonntag einen Ausflug zu einer Landesausstellung machen werden. Dreimal sitzt er ihr an diesem Tag bei einem Kaffee oder Essen allein gegenüber, als der Sohn auf die Toilette gehen musste. Dreimal waren sie für wenige Minuten allein am Tisch und schwiegen. Er blickte sie dabei nur an und dieses wortlose, von ihm bewusst freundliche Anschauen genügte, um sie zu verunsichern, sie wieder Fremdheit spüren zu lassen. Er war ihr fremd geworden, sie konnte seine Gedanken nicht mehr lesen wie früher. Und das verunsicherte sie. Sie hatte die Kontrolle über seine Gedanken verloren.
Die Art und Weise zu reden unterschied sie nicht allzu sehr – beide führten ihre Dialoge häufig als Monolog, wenngleich sie es bei sich nicht so erlebte, sondern ihm diesen Vorwurf machte.
Auf Grund seiner Profession war er natürlich geübt, Erklärungen wortreich und auch ein wenig umständlich zu formulieren, sodass sie sich häufig im Gespräch eingeengt fühlte und seinen Monologen widerwillig und ungeduldig folgte.
Dabei setzte sie eben dieses Lächeln der Verachtung auf, das ihn so tief traf.
„Ich komme aus einer Lehrerfamilie und hasse diese Form des Redens,“ hatte sie ihm in den zwei Wochen gesagt.
In diesem Augenblick fühlte er sich – wie so oft in den letzten Jahren – missverstanden. Dieses Mal schwieg er einfach.
Er wusste seit langem von ihrer Aversion gegen diesen Gesprächsstil, denn sie hatte dabei immer das Gefühl, dass er sie in diesem Augenblick klein machte, dass sie wieder zum Kind erklärt wurde, das man belehren muss. So sehr er sich auch bemühte, andere Gesprächsformen zu wählen, zögerliche und schweigende, es war alles gleich: sie erklärte ihn zum Belehrenden.
Er litt auch daran, dass er in den Gesprächen häufig missverstanden wurde. Er begriff nicht, dass sie seine Diskussionen mit ihr über ihre Arbeitsverhältnisse, die oft in Monologen endeten, nicht als Unterstützung – dieses Wort konnte sie, wie sie mehrmals später lautstark verkündete, nicht mehr hören – und Hilfe erleben.
Eher empfand sie, dass er ihr auch noch in den Rücken falle.
Es lag wohl nicht an seinem Gesprächsstil, sondern an ihm.
Darum war er hilflos und flüchtete häufig in Schweigen.
Das wieder wurde als Missachtung und Trotz interpretiert – er reagiere wie ein kleines Kind. Ihre Traumata lagen offensichtlich in der Kindheit. Und diese waren mit Emotionen verknüpft, gegen die er nicht ankam.
Wie oft hatte er auch – viele Jahre vor den zwei Wochen – versucht, mit ihr in ein tieferes, öffnendes Gespräch zu kommen, ihr die Hand hinüber in ihre Kindheit zu reichen, indem er von seiner sprach, den Erlebnissen und den Kränkungen damals. Sie hörte manchmal wortlos zu. Er fühlte, sie verstand sein Angebot nicht. Wovor hatte sie Angst?
Er hatte in den letzten Jahren gelernt, dass es sinnlos war, gegen ihre Emotionen zu argumentieren. Wenn er es nicht schaffte, einfach zu schweigen, war der Streit programmiert. Er genoss diese seltenen Situationen, wenn er gegen seine Gefühle entschieden und geschwiegen hatte, und er litt darunter.
Er, der es gewohnt war, klar und deutlich zu sprechen, wurde dafür von ihr gehasst. -
XII Welt.Schmerz
Er hatte in der Nacht nach den Versen gesucht, die als Lebensmotto sein Leben und vor allem sein Lieben bestimmt hatten. Neben der katholischen Scheiße, die ihm vormals eingetrichtert worden war. Das sechste Gebot. Es hatte seine Jugend ruiniert, hatte ihn zum Sklaven der in diesem Alter natürlichen Triebhaftigkeit gemacht.
In den zwei Wochen wird er erkennen, dass der in der Jugendzeit so heiß ersehnte körperliche Kontakt mit einer Frau ohne sexuellen Part eine Illusion war.
Küsse auf den Körper einer imaginierten Geliebten und ihre Küsse auf dem seinen sollten frei von jedem Begehren sein, reine Liebe, reines seelisches Verlangen.
Ein Jahr nach den zwei Wochen wird er in einer leidenschaftlichen Beziehung zu einer verheirateten Frau ganz nahe dieser reinen, kindlichen Liebe sein, so nahe wie nie zuvor in seinem Leben. Aber diese Liebe wird zugleich schmerzlich sein in ihrer Unmöglichkeit, in ihrer Ausweglosigkeit. Und dennoch süß wie die wiedergewonnene Jugend.
Das war der Auswuchs der katholischen Vorschriften, keinen vorehelichen Verkehr zu haben. Rein zu sein und sich für die oder den einen aufzuheben.
Er hatte nie im Leben eine Jungfrau geliebt – sein großer Lebenstraum war nie in Erfüllung gegangen. Nachdem er zum ersten Mal mit einer Frau geschlafen hatte, war dieser Wunsch ohnehin obsolet, denn wenn, dann hätten beide unberührt sein müssen.
Seine Initiation geschah unspektakulär und von seiner Partnerin unbemerkt, vielmehr erhielt er nachher sogar das Lob, von allen ihren bisherigen Liebhabern der beste gewesen zu sein. Er wird es ihr am Ende ihrer Beziehung gestehen, dass sie seine erste Frau war, aber sie wird es ihm nicht glauben.
Es sollte ihm zu Gute gehalten werden, dass er nach solchen Wachträumen von einer reinen Begegnung mit einem Mädchen nie onanierte – was er in dieser Zeit mehrmals am Tag tat -, sondern gerade die Reinheit eines solchen Beisammenseins als unendliches Glücksgefühl imaginierte. Diese Reinheit wollte er später auch in seiner Sexualität leben, dass ihm nicht der Orgasmus das Wesentliche war, sondern der seelische Gleichklang.
Sie hatte es nie verstanden, wenn er davon sprach.
Sie erlebte später nur seine Triebhaftigkeit, von der sie niemals wusste, wie kontrolliert diese war, wenn er bei ihr zu Werke ging. Sie sollte es schön haben, er selber zählte nicht. Das war das Erbteil jener pubertären Vorstellungen. Nicht selber zählt man, sondern nur das, was der andere fühlte. Dabei fühlte er sich rein, auch wenn er nachher zur Ejakulation kam.
Nicht selten hatte er auf seinen Orgasmus verzichtet und war zufrieden, dass sie einen Höhepunkt hatte. Das lag häufig daran, dass er durch die Länge des Vorspiels und seiner kontrollierten Aktivität die Erektion verloren hatte und in ihrer auf Grund des eingehenden Vorspiels schon fließenden Vagina keinen Widerstand mehr fand, an dem er sich hätte mechanisch erregen können. Sie glaubte, sie hätten Sex miteinander, er zelebrierte ein Hochamt der Reinheit.
Welch Schwachsinn.
Stets, wenn er von den Gefühlen der Kindheit und Jugend – Schuldgefühlen in der Mehrzahl – erzählt hatte, zeigte sie Unverständnis. Sie war eine Evangelische, die keine Beichte und keinen Katechismus kannte, den man einmal in der Woche abarbeiten musste, um seine Sünden anzukreuzen. Der Katechismus war eine Form von einem Fragebogen, wie er ihn später in seinem Beruf für seine Forschungstätigkeiten entwickeln musste.
Frage für Frage wurde durchgegangen – wobei er Vater und Mutter ehrte, auch wenn er sie manchmal nicht liebte, wobei er niemanden tötete, hie und da eine Fliege, aber das war nicht zu beichten.
Und als Ministrant musste man beichten. Man stand dann neben dem Beichtvater in der stillen Frühmesse um 6:00, die zehn, zwanzig alte Weiber besuchten und betete mit ihm das „Introibo ad altare Dei …“.
Gemeinsam mit jemandem feierte man die heilige katholische Messe, der von einem aus der Beichte wusste, dass man auch an diesem Tag in seiner natürlichen Sexualität seinen Schwanz in der Nacht gerieben oder auch nur zwischen den Beinen eingeklemmt hatte und ein dadurch ein kümmerliches Ejakulat produzierte, das man danach mit lauwarmem Wasser beseitigen musste. Vermutlich geilte sich der Zelebrant an dieser Vorstellung auf, denn der Leiter der Ministranten und Fakulanten war selber kein Kostverächter und wurde deshalb versetzt. Nein, ihn hatte er sich nie genähert.
Die auswendig und durch Repetieren unverstanden gelernten Texte der Liturgie waren bis auf einige Fragmente lange vergessen.
Nicht vergessen hatte er das Gedicht, das er während seiner Militärzeit als eines seiner Lieblingsgedichte auswendig gelernt hatte, und dass er in jener Nacht nach und nach aus seinem Gedächtnis rekonstruierte. Den Titel „Erinnerung“ und den Autor Franz Grillparzer wird er erst nachträglich durch googeln herausfinden, ebenso den korrekten wörtlichen Beginn der zweiten Strophe.Hab‘ ich mich nicht losgerissen,
Nicht mein Herz von ihr gewandt,
Weil ich sie verachten müssen,
Weil ich wertlos sie erkannt?Warum steht in holdem Bangen
Sie denn immer noch vor mir?
Woher dieses Glutverlangen,
Das mich jetzt noch zieht zu ihr?Tausend alte Bilder kommen,
Ach! und jedes, jedes spricht:
Ist der Pfeil auch weggenommen,
Ist’s darum die Wunde nicht.Er schrieb das Gedicht in seiner nächtlichen Erinnerung noch Heine zu – sie spottete oft darüber, wenn er in seiner mit dem Alter nachlassenden Erinnerung einmal irrte und kommentierte den Irrtum nachträglich mit einem „es ist sinnlos, dir zu widersprechen“. Er verwechselte es in dieser Nacht mit dem „Atlas“, ein Gedicht, dass er ebenfalls in dieser Zeit bei Wachdiensten auswendig gelernt hatte, um sich die Zeit zu vertreiben. Dieses Gedicht Heines charakterisierte weniger seine Beziehungen zu Menschen sondern jene zur Welt im Allgemeinen. Damals hatte er in sternklaren Nächten mitten auf einem Truppenübungsgelände, auf dem er die Munitionsbunker bewachen sollte, Allmachtsphantasien und weltumspannende Phantasien.
Ich unglücksel’ger Atlas! Eine Welt,
Die ganze Welt der Schmerzen muss ich tragen,
Ich trage Unerträgliches, und brechen
Will mir das Herz im Leibe.Du stolzes Herz, du hast es ja gewollt!
Du wolltest glücklich sein, unendlich glücklich,
Oder unendlich elend, stolzes Herz,
Und jetzo bist du elend.Dieses Leiden am Leben wie an der Liebe nährte früh seine pubertären romantischen Vorstellungen davon, wie beide im Idealfall beschaffen sein sollten. Sie begründeten eine intime Irrationalität in allem, was er dachte und fühlte.
Er genoss es, wenn ihn niemand verstand oder jemand ihn falsch verstand, denn diese Position des Leidens an den anderen beflügelte seine Phantasie.
Wenn er gläubiger gewesen wäre, hätte er sich nur am Kreuz wohl gefühlt.
Aus dieser Lust am Schmerz glaubte er bis zu diesen zwei Wochen, dass es Liebe wäre, wenn man leidet. Dass es Liebe wäre, wenn man den anderen erträgt, obwohl er unerträglich war, immer unerträglicher wurde.
Sie war schon lange unerträglich in ihrer Gier nach Selbstverwirklichung, die in seinen Augen eine Flucht vor sich selber war, die manifestierte, dass sie noch nie in ihrem Leben eine Entscheidung hatte treffen müssen, sondern immer über sie entschieden wurde.
Auch als sie sich nach acht Jahren des Zusammenlebens für die Ehe mit ihm entschieden hatte war es eigentlich nicht ihre Entscheidung. Sie hatte einfach die Fragen satt, wann denn endlich … Sie hatte es satt, nur eine Lebensgefährtin zu sein. Und sie wusste, dass er es wollte. Sie glaubte damals, sie täte es aus Liebe. Sie war überzeugt davon, dass sie endlich Frieden finden würde vor ihrer Sehnsucht, die in ihr wohnte. Sie wollte lieben, lieben, lieben … Und sie liebte.
Mit dieser Liebe zu ihm zerbrach in ihr auch der komplementäre Traum nach grenzenloser Freiheit, den sie wohl in ihrer Jugend mit dem Gefühl der Liebe verbunden hatte. Freiheit und Liebe, gingen diese beiden nicht zusammen?
War denn Liebe nicht Freiheit?
Damals, als sie plötzlich begann, von Ehe und Hochzeit zu sprechen, war er überrascht – er hatte es nach der langen Zeit des Zusammenseins und -lebens nicht mehr zu hoffen gewagt. Er zweifelte im ersten Augenblick auch, ob sie es ernst meinte, ob sie mit ihrem Unabhängigkeitsdrang sich diese Fessel auferlegen könnte. Er erlebte sie wie einen Vogel, der im Käfig unglücklich war. Und eine Ehe war bis zu einem gewissen Grad ein Käfig, da konnte man noch soviel herumintellektualisieren wie man wollte. Er wusste das und frage sich ernsthaft, ob er sie aus Liebe vor diesem Schritt, den sie nun zu wollen schien, bewahren sollte. Denn er hatte bis zu diesem Zeitpunkt gelernt, mit ihrem Freiheitswillen zu leben, obwohl er sich innerlich nach der Verbindung sehnte.
Er schob die kurz auftauchenden Bedenken, sie in solchen Fesseln zu sehen, dennoch beiseite, vor allem, weil er die Kommentare ihrer Umgebung von „wilder Ehe“ nicht mehr hören konnte, und auch den Wunsch nach einem gemeinsamen Kind hegte, der wohl auch für sie ausschlaggebend war – zumal sie in einem Alter war, in welchem man in der Regel schon ausgewachsene Schulkinder hatte -, und machte sich mit ihr auf den Weg.
Fünfundzwanzig Jahre vor diesen zwei Wochen. -
XIII Lebens.Angst
Sie hatte in Strasbourg zu schreiben begonnen. Heimlich zuerst, es vor ihm aber nicht vor anderen verbergend. Wohl auch nicht vor „ihm“, wie er in den zwei Wochen dachte.
Sie begründete es damit, dass sie durch das Schreiben die unerträgliche Situation ihrer irgendwann notwendigen Rückkehr zum verhassten Beruf und wohl schon damals ungeliebten Ehemann bewältigen wollte. Es würde lange dauern, bis er einen Text von ihr lesen durfte. Erst dann, als sie die Zusage von einem kleinen Verlag erhalten hatte, drei Erzählungen als einen Roman zu veröffentlichen. Sie begründete die Heimlichkeit damit, dass sie sich von ihm nichts zerstören lassen wollte.
Für sie war er ein Zerstörer.
Hier war sie wieder, diese Angst. Die Angst vor Zerstörung, ihrer Zerstörung.
Er litt unter diesem Vorwurf. Bitterkeit stieg in ihm hoch, als sie abermals ihre ganze Lebensangst, diese Angst vor Verletzungen, in ihn projizierte. Er, der dreiunddreißig Jahre an ihrer Seite gelebt hatte. Der in den letzten Jahren in einem allmählichen Prozess der Selbsterniedrigung begonnen hatte, all das Selbstbewusstsein und den Stolz, die er nach vielen Niederlagen in seinem Leben mühsam erarbeitet hatte, zu zerstören. Es war ein langsamer Prozess der Selbstzerstörung, die aus ihm einen sentimentalen Idioten gemacht hatte, der er nun in den zwei Wochen war. Sie spottete darüber, dass er in Selbstmitleid zerflösse, wenn wieder einmal in einem Gespräch seine Tränen flossen. Wie wenig verstand sie von Liebe und der Trauer um ihren Verlust. Sie, die Zeit ihres Lebens eine Nehmende war, eine andere Menschen Verschlingende, sie hatte es bei ihm beinahe auch geschafft. Der Zorn in den letzten Jahren rührte teilweise aus ihrer Hilflosigkeit her, dass es ihr nicht gelang, seine Liebe zu ihr oder das, was von dieser noch übrig war, zu zerstören.
Sie fühlte seine Liebe wie eine Krake, die sie festhielt und ihr den Atem nahm.
Warum liebte er sie? Sie, die ihn nicht liebte!
Immer wieder warf sie ihm dieses Faktum an den Kopf, immer wieder wies sie all seine Versuche zurück, sie aus ihrem Gefängnis ihrer Angst zu befreien.
Als sie ihm die drei Erzählungen zum Lesen gab, die als Frauentrilogie erscheinen sollten, versuchte er von seiner Rolle als Partner abzusehen – sofern das überhaupt möglich war – und gab ihr eine sprachliche und literaturwissenschaftliche Rückmeldung. Er hatte vor seinem Psychologiestudium Germanistik studiert und seit seiner Jugend immer wieder Texte veröffentlicht, zuletzt auch im Internet in einem von ihm entwickelten Ezine-Format. Der Höhepunkt seines literarischen Lebens war die eher missglückte Aufführung eines Theaterstückes am Grazer Landestheater, das er für einen Wettbewerb geschrieben hatte und überraschenderweise unter den Siegern war. Damals hatte sie sich mit ihm noch gefreut.
Er versuchte in ihren Texten auch sie zu finden. Nicht nur in dem ruhelosen Erzählstil, der den Leser forderte und der ihrem Wesen entsprach, sondern auch in den Personen, die sie hier inszenierte.
Von den drei Texten fand er nur den zweiten gut gelungen, der erste war zu konstruiert und der letzte zu wissenschaftlich, bei dem man die Recherche in beinahe jedem Absatz bemerkte. In keiner der drei Frauen fand er sie, denn es war häufig dieser sezierende Blick, gerichtet auf das Unglücks anderer Menschen. Sie wanderte in ihren Erzählungen durch fiktive Menschenschicksale der in den letzten Jahren begonnenen Freundschaften zu Frauen, wobei sie diese wie Schachfiguren hin und herschob.
Die drei Texte passten nicht wirklich zusammen – was sie auch selber eingestand – und er hatte Bedenken, dass dieser „Roman“ als Erstling ihr eher die Chancen auf weitere Veröffentlichungen verstellen könnte, allerdings wagte er es nicht, das auch nur anzusprechen. Wenn den drei Frauen etwas gemein war, dann war es der Verlust und die Suche nach etwas, was nicht zu finden war. Hier glich der Duktus ihrer Erzählungen ihrem Leben. Sie war auf der Wanderschaft zwischen Menschenschicksalen, beobachtete diese, sezierte sie, arrangierte sie und zog weiter.
Nur ihm war es gelungen, sie zu halten. Dreiunddreißig Jahre.
Hatte er sie zu wenig festgehalten?
Hatte er sie zu sehr festgehalten?
Nicht von ungefähr schrieb sie zur gleichen Zeit an einem anderen Text über einen Flaneur, den sie für den Wettbewerb einer lokalen Literaturzeitschrift verfasste. Die erste Fassung wies sehr viele holprige Formulierungen und stilistische Bruchstellen auf und verlor an vielen Stellen das Thema. Nach dem Misserfolg beim Wettbewerb – sie war bei der zur Veröffentlichung des Zeitschriftenbandes veranstalteten Lesung anwesend und kritisierte nachher im Gespräch mit ihm heftig die Autoren und Autorinnen, dass ihr Text mindestens genau so gut sei -, verfertigte sie nach seiner betont sachlichen Rückmeldung eine bereinigte Fassung. Diese hat sie abermals bei einem Wettbewerb eingereicht, der während der zwei Wochen noch lief.
Obwohl sie im Gegensatz zu ihm ihre Texte meist mit der Hand vorschrieb, nutzte sie jetzt auch den Laptop, den er ihr vor einem Jahr geschenkt hatte.
Er hatte ihr am Geburtstag eine Homepage auf ihren Mädchennamen – sie wollte ihre Texte ausschließlich unter diesem veröffentlichen – geschenkt, mit der sie ihre schriftstellerische Tätigkeit, die allmählich gegenüber dem Erwerbsberuf in den Vordergrund trat, unterstützen konnte. Vermutlich erlebte sie das ebenfalls als Einmischung.
Während der letzten Zeit – in diese zwei Wochen fiel auch die Verschiebung der Publikation ihres ersten Romans auf das nächste Jahr – arbeitete sie an einer Männertrilogie.
Diese hielt sie vor ihm verborgen und nur hie und da erhaschte er einen Namen. Im Altpapier fand er manchmal einen handgeschriebenen Zettel, den er kaum entziffern wollte und konnte. Soviel war ihm aber klar. Auch hier wurden Menschen aus ihrer Umgebung seziert. Ob er darunter war – ja er wird darunter sein, dessen war er sich sicher, denn er ist wohl das Hauptobjekt ihrer Verarbeitung des Lebens durch Schreiben.
Ob sie auch über den Mann schreiben würde, mit dem sie ihn hintergangen hatte? Ja, auch das würde sie tun.
Er bezähmte seine Neugier, wenn er irgendwo ein offen liegendes Manuskript fand, oder wenn er einmal auf ihrem Laptop kurz arbeitete.
Nein, er würde das Vertrauen nie missbrauchen. Eines Tages würde er es wissen, eines Tages würde er es lesen – als Buch oder als Manuskript.
Würde er dann mehr über sie wissen?
Erst lange Zeit danach wird der Roman über drei Männer erscheinen, worin sie offen den Betrug beschreiben wird. Die Namen der Protagonisten wird sie dabei ganz einfach verschlüsseln, etwa den Namen des Nebenbuhlers durch den Vornamen des Halbbruders, oder seinen Namen durch ihren eigenen, der in der Wortwurzel dem Bruder ihres Vaters entsprach, der eine Tochter gleichen Namens hatte. Mit dieser Cousine hatte sie auch einmal einen wesentlich älteren Liebhaber gemeinsam gehabt. -
XIV Vater.Suche
Ihm war bei der Lektüre ihrer Texte klar geworden, dass sie auf der Suche war. Auf der Suche nach etwas, das sie vielleicht anfangs bei ihm gesucht hatte. Das sie von ihm erwartet hatte. In der Zeit, in der sie sich von ihm abzuwenden beganng, hatte er zunächst nur eine professionsbedingte Ahnung, die sich allmählich verdichtete. Sie war auf der Suche nach ihrem Vater. Nicht nach ihrem leiblichen Vater, den sie drei Jahre nach ihrer Trennung begraben wird, sondern nach einer fiktiven Vaterfigur, die schon früh in ihren Phantasien entstanden war. Bedrohlich und liebevoll zugleich, ambivalent wie sie selber. In diesen Vater hatte sie ihr Leben projiziert wie in einen Spiegel, um sich endlich selber erkennen zu können. Die zahllosen, rasch wechselnden Beziehungen ihrer Jugend waren ein Abbild jener inneren, rastlosen Suche nach dem Vater, dem männlichen Prinzip in ihrem Leben. Dieses männliche Prinzip spürte sie zugleich als Ziel und als Ort der Flucht. Andeutungsweise war ihr diese Vatersuche in ihrer Frauentrilogie schon bewusst geworden, schreibenderweise zumindest. Nur unklar entdeckte sich ihr diese Sehnsucht nach dem Männlichen, das sie beschützte und zugleich bedrohte, das ihr Schmerz bereitete und zugleich höchste Wonne.
Sie recherchierte zu allen ihren Erzählungen akribisch – von diesen wissenschaftlichen Unterlagen hatte er einiges aufgeschnappt, denn sie passten nicht zu ihrer derzeitigen beruflichen Tätigkeit. Wie schon im Flaneur ging es in den Recherchen um Krankheiten, schicksalhafte Krankheiten, bei denen es keine Heilung gab. Krankheiten, die Väter ihren Kindern weitergeben, als Erbe ihrer eigenen Existenz. Krankheit als Erlösung.
In diesen zwei Wochen dachte er häufig darüber nach, ob sie an einer solchen unheilbaren Krankheit litt, die sie ihm verschwieg. Sie hatte ihm schon vor Jahren von einem Geschwür in ihrer Gebärmutter, nachdem die Gutartigkeit längst abgeklärt war, erzählt. Auch Schmerzen im Bein und im Fuß hatte sie ihm lange Zeit vorenthalten.
Es war immer dasselbe Muster – sie verbarg einen Teil ihres Lebens vor ihm so lange, bis sie es nicht mehr verbergen konnte oder wollte. Sie nahm ihm damit die Chance, an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Als er das bewusst wahrnahm – gefühlt hatte er es schon lange -, erkannte er die Hoffnungslosigkeit, jemals an sie als Mensch heranzukommen. Alle ihre Texte waren auch von der Hilflosigkeit der Akteure gekennzeichnet, an andere Menschen heranzukommen. Gleichzeitig sprach aus ihnen eine unausgesprochene und unaussprechliche Sehnsucht danach, geliebt zu werden. Sie litt unter ihrer Oberflächlichkeit, auch wenn sie es leugnete. Sie hatte es – wohl aus Kalkül – achselzuckend gesagt: „Wahrscheinlich bin ich so oberflächlich!“ War diese Oberflächlichkeit eine Projektion ihrer Suche nach dem Männlichen?
Wie weh hatte ihm diese Herabsetzung ihres Selbst getan, denn er fühlte – manchmal waren dazu auch ziemlich rationale Konstruktionen auf Grund ihres Verhaltens notwendig, um diesem Empfindungen zuzuschreiben – wohl als einziger, dem sie bisher in ihrem Leben begegnet war, wie es in ihrem Inneren aussah, und dass sie alles andere als oberflächlich war.
Wie sie selber in manchen Augenblicken schwer an ihrem Schneckenhaus trug, in das sie sich bei Bedrohung reflexartig zurückzog.
Viel lieber wäre sie eine Nacktschnecke gewesen. Schutzlos dem Leben ausgeliefert, aber dem Leben. Wenigstens dem Leben. Irgendeinem.
Die Illusion, jenes Leben zu leben, das sie erträumt hatte, war in all den Jahren verflogen. Sie war nach ihrem Lebensrausch nüchtern geworden. Sie analysierte ihr eigenes Leben rational und schob ihre Emotionen beiseite, wann immer es ging. Waren die Emotionen – negative in der Mehrzahl – aber zu stark, dann bugsierte sie diese in das Raster ihrer rationalen Ordnung, die sie allmählich in ihr Leben gebracht hatte. Dort konnte man die Emotionen verwalten, abwägen. Auch ihr Schreiben diente dieser Analyse – zu Papier gebracht konnte man die Gefühle besser handhaben, hier und dort ein wenig korrigieren, hier ein wenig mehr Erklärung, dort ein Schlussstrich, ein Punkt.
Wenn sie einen Text abgeschlossen hatte, fühlte sie sich befreit.
Sie hatte in diesem Augenblick das Gefühl, wieder ein Stück des Weges ihrer Suche nach dem männlichen Prinzip weiter gekommen zu sein.
In ihrem Texten wird sie sich diesem Prinzip annähern. Text für Text. Erzählung für Erzählung.
Befreit von diesen drängenden Forderungen in ihr, wachgerüttelt zu werden und zu leben. Wachgerüttelt von einem Mann, dem Mann in ihrer Sehnsucht.
Leben wollte sie, leben und lieben. Zärtlich, schwerelos, geborgen. Mit dem Mann in ihrer Phantasie.
Er war für sie das Hindernis, obwohl sie wohl in manchen Augenblicken fühlen mochte, dass er auch der einzige war, bei dem sie das Gefühl von Freiheit fühlen konnte. Hätte sie nicht um ihre Auslandstätigkeit kämpfen müssen, sondern hätte er ihr freudig zugestimmt – das hatte sie sich gewünscht -, hätte sie sich nicht freikämpfen können, hätte sie wieder nur eine geliehene Freiheit besessen.
Je älter er wurde, desto ähnlicher wurde er diesem Vaterbild, doch er verkörperte nur die negative Seite dieses Männlichen. Er glich äußerlich und innerlich immer mehr dem Bedrohungsbild ihres Vaters, der daran schuld war, dass sie immer wieder die Wurzeln verlor, die sie mühsam in der Fremde geschlagen hatte. Der Vater war es, der ihr das Leben lieh, das sie leben musste. Nicht das Leben, das aus ihr kam, sondern das Leben, das man ihr lieh. Nie hatte sie ein eigenes Leben gehabt.
Ein geliehenes Leben.
Das war ihr Leben.
GeliehenStrasbourg war das Symbol für ihre Freiheit – sie hatte ihn damals sehr spät davon informiert, dass sie ein halbes Jahr in Strasbourg arbeiten könnte. Erst als alles mit einem ihr wohl gesonnenen Personalchef fixiert war, berichtete sie ihm davon – hatte sie Angst, dass er es ihr verbieten könnte?
Ihr Vorstellungsgespräch in Strasbourg war nicht allzu viel versprechend, da sie sich für die falschen Themen vorbereitet hatte. Wie so oft haben die Ausschreibungen mit der Tätigkeit nur am Rande zu tun. Da er ihr für dieses Vorstellungsgespräch einige Unterlagen und Kontakte verschafft hatte, übertrug sie ihren Ärger über die falsche Vorbereitung auch auf ihn. Dabei hatte er sich auf die Informationen gestützt, die sie ihm gegeben hatte. Später wird sie das vergessen haben und sagen, dass er nicht hilfreich gewesen war.
Sie war auf dem linken Auge blind, mit dem sie das Positive an ihm hätte sehen können. Ihr rechtes Auge war immer mit hochgehobener Augenbraue auf das Negative gerichtet. So zeichnet das Leben jene Spuren ins Gesicht, die in den Gedanken stecken, nicht jene, die offensichtlich sind.
Vor vollendete Tatsachen gestellt begann er einen unwürdigen Kampf gegen ihren Entschluss, mit dem er wohl den letzten Funken an Gefühlen für ihn tilgte. Hatte sie ihn schon damals im Vorfeld dieser Entscheidung, die verhasste Arbeitsstelle auf irgendeine Weise zu verlassen – sie sprach sogar von Kündigung, obwohl sie damit alle Privilegien ihrer Beamtenschaft verloren hätte -, ihren Gegnern zugerechnet, so manifestierte sich in allen Versuchen, ihr dieses halbe Jahr an veranschlagter Freiheit zu nehmen, als Zerstörung der letzten Gefühle. Er fühlte, dass sie sich einen anderen Abschied gewünscht hatte, aber er war dazu in seiner Enttäuschung, nichts davon gewusst zu haben, nicht in der Lage.
Als dann nach kurzer Zeit der Vertrag auf ein ganzes Jahr verlängert wurde – diese Option hatte sie schon vorher angedeutet, worauf er sie bat, nur ein halbes Jahr zu bleiben -, versuchte er es zwar mit Anstand zu akzeptieren, allerdings war es dazu viel zu spät. Auch bei ihrer Arbeit in Wien – hier hatte sie ihn früh vor vollendete Tatsachen gestellt – würde sie ähnlich wie für Strasbourg nicht von Beginn an die lange Dauer berichten, sondern beginnend von einem halben Jahr über ein dreiviertel Jahr bis zu zwölf Monaten erhöhte sie die Zeit ihrer Trennung. Schließlich waren es neunzehn Monate.
Der gemeinsame Urlaub in Frankreich und auch seine Besuche in Strasbourg verliefen von außen betrachtet harmonisch, harmonisch, weil sich beide bemühten, die Langmut des anderen nicht zu sehr zu bemühen. Die von ihm so ersehnte französische Form der Liebe – war das Lokalkolorit? – gewährte sie ihm in diesem Jahr zwei Mal.
Seither nie wieder.
Nach dem Jahr in Strasbourg wurde es zur Tradition, dass sie zu einen jährlichen Treffen mit ihrer schönen Vergangenheit flog. Vor den zwei Wochen kam es wegen Trivialitäten mehrmals zum Streit, wobei er sich fragte, wie sie soviel Energie dafür aufbringen konnte, wenn sie immer wieder beteuerte, ihre Gefühle wären schon seit Jahren tot. Der letzte Anlass war seine Bezeichnung des Nebenbuhlers als Arschloch, was ihm seiner Meinung nach wohl zustünde, zumal dieser ihm die Chance gestohlen hätte, bei ihrer Rückkehr vor einem Jahr nach Graz mit positiven Gemeinsamkeiten zu einen neuen Anfang zu finden. Er nahm übrigens später – nach ihrem Strasbourgbesuch – dieses Wort mit Bedauern zurück, obwohl sich in der Zwischenzeit Sachverhalte offenbart hatten, die dieses Wort als noch viel zu harmlos einstuften.
Sie nahm während und nach ihrer Strasbourgvisite den Kontakt mit ihm wieder auf – er wäre selber schuld daran. Wie weh tat es ihm, wenn er merkte, dass sie ihm täglich Botschaften schickte, Botschaften, die er so dringend gebraucht hätte. Sie schloss sich wie früher im Badezimmer ein und sandte ihm ihre „Brieflein“. Nach Strasbourg tat sie das auch vor dem Einschlafen, wenn sie sich schon verabschiedet hatte. Er hörte beim Vorbeigehen oder im Schlafzimmer die Tippgeräusche an ihrem Mobiltelefon und wusste, dass sie in Gedanken bei einem anderen war. Sollte er über diese Form der SMS-Kontakte nicht froh sein – solange sie SMS schickte, trafen sie einander nicht.
Zumindest versuchte er sich das einzureden.
Sie behauptete einmal sogar, dass er es „ihm“ zu verdanken hätte, dass sie überhaupt nach Graz zurückgekommen wäre. Er empfand diese Behauptung im Augenblick nur noch als grotesk.
Er bat sie am Vortag der Abreise als Symbol für die kleine Chance, nach diesen zwei Wochen wieder zu gemeinsamen positiven Themen zu kommen, das Wappentier des Elsass in irgendeiner Form als Souvenir mitzubringen.
Beim Abschied – er begleitete sie nicht zum Flughafen, weil sie es sich anlässlich der unerfreulichen Szenen am Morgen des Abreisetages verbeten hatte – bat er sie um eine Umarmung, die sie erwiderte, bei der er ihr einen schönen Aufenthalt und eine gute Reise wünschte – wie banal doch das Leben auch an ihren dramatischen Höhepunkten sein konnte. Sie bat ihn, diese Woche für sich zu nützen.
Sie brachte ihm eine metallene Dose mit Mint Sahnetrüffel mit, die lange nach den zwei Wochen auf dem Bücherschrank neben seinem Bett stehen würde, das er nach der Trennung nach Strasbourg nun alleine benutzte.
Nicht nur montags und freitags wie vorher.
Sie sollten so lange dort bleiben, bis sie in das Ehebett zurückkehren würde.
Dann würde er mit ihr gemeinsam die Dose öffnen.
Er war ein durch und durch sentimentaler Mensch.
Er lebte seine Illusionen. -
XV Augen.Blicke
Sie hasste es, längere Zeit mit offenem Blick betrachtet zu werden. „Was starrst du mich so an! Es ist unangenehm!“ Er war ins Wohnzimmer gekommen, in dem sie auf dem Zweisitzer lag und an einem Manuskript arbeitete. Da sie offensichtlich mitten in einem Satz war, blieb er einfach hinter ihr stehen und wartete, bis sie ihn registrierte. Sie wandte sich längere Zeit nicht um, wie sie das sonst tat, wenn er den Raum betreten hatte, sondern setzte nur zwei-dreimal kurz ab, um weiter zu schreiben.
Er trat tiefer in den Raum, dass sie ihn sehen konnte. Hatte sie ihn bisher noch gar nicht bemerkt. „Es ist unerträglich, so angestarrt zu werden!“ Die Erklärung, dass er sie nicht unterbrechen wollte, fiel bei ihr wie fast alle Erklärungen in diesen zwei Wochen auf unfruchtbaren Boden, die sie mit dem Sturm ihres Zorns einfach hinwegfegte.
Worauf war sie zornig? Auf ihn, da er sie wegen des Betruges nicht zur Rede stellte? Weil er schwieg und wartete, dass sie sich erklärt?
Seit wann hasste sie, dass er sie ansah? Dieses Feature war nicht ganz neu. Schon früh in ihrer Beziehung liebte sie es nicht, wenn er die Brille abnahm, denn dann wirkten seine Augen größer. Augen, die damals wohl liebevoller blickten, jünger waren und voll Sehnsucht.
Ein halbes Jahr danach wird er sich an diese frühe Zurückweisung und Verletzung erinnern, wenn ihm eine der Frauen, die er in der Zeit nach ihr lieben wird, sagen wird, wie sehr sie sich von seinem Blick angezogen fühle. Ich kann in deinen Augen versinken, wird sie sagen und ihn näher zu sich ziehen, lass mich darin ertrinken. Und sie wird ihm sagen, dass sie noch nie Augen so zärtlich angesehen hätten wie seine.
Erst nach Jahren wird er eine Erklärung für ihr Verhalten finden: es war ihre Angst vor Nähe, vor dem erkannt werden, vor dem in Besitz genommen werden. Wer hatte sich ihr in ihrer Kindheit so sehr genähert, dass sie später davor zurückschreckte? Vor einem Menschen, von dem sie wissen musste, dass er sie liebte? War es damals auch ein Mensch gewesen, der sie geliebt hatte und diese Nähe dann missbraucht hatte?
Wenn sie miteinander schliefen, liebte sie stets das Dunkel. Er hätte gerne die Schönheit ihres Körpers nicht nur gefühlt sondern auch gesehen, wenn er sie liebte. Er hatte es mit durch Tücher abgedunkelten Lampen im Hintergrund versucht, aber er verzichtete allmählich darauf, denn sie schien dann beim Akt abwesend zu sein, selbst wenn sie dabei immer die Augen geschlossen hielt. Das Halbdunkel, in dem erst allmählich die Gegenstände zu erkennen waren, blieb das Äußerste an Sichtbarkeit bei ihrem Beisammensein.
Er hatte früher in diesem Halbdunkel ihr Gesicht betrachtet, während sie ihren Höhepunkt hatte. Da er beinahe immer die Kontrolle über den Beischlaf hatte – so wie sie es in ihrer selbst definierten passiven Frauenrolle wohl wünschte – und er immer nach ihr ejakulierte – die gemeinsamen Höhepunkte hatte es nur ganz früh in ihrer Beziehung gegeben -, konnte er ihrem Mienenspiel folgen, was ihm ermöglichte, jenen Rhythmus aufzunehmen, der sie am meisten erregte. Sie war außerdem im Stande, nach dem ersten Orgasmus einen zweiten, seltener einen dritten, dadurch zu erleben, dass er mit seinem schon halb erschlafften Glied festen Druck auf ihren Kitzler ausübte. Dabei kam sie meist sehr rasch und er spürte das Zucken in ihrer Vagina, beinahe heftiger als bei ihrer ersten Klimax.
Er hatte nie jene Erzählungen verstanden, wie manche Frauen einen Orgasmus vorspiegeln konnten und der Mann von dieser Täuschung nichts bemerkt. Wie kann man einen weiblichen Orgasmus nicht fühlen?
Einige Male hatte sie damals, als sie ihren Sohn zeugen wollten und es auf Grund der Unregelmäßigkeiten ihrer Periode nur sehr schwer war, den richtigen Zeitpunkt zu finden, bei den alltäglichen Pflichtübungen auch das eine oder andere Mal einen Orgasmus vorgetäuscht, aber es diente einem guten Zweck, wie er sich sagte, und verstand diese Hilfe, die sie ihm damit geben wollte. Auch dafür liebte er sie.
Durch die Beobachtungen ihres Gesichtes während des Aktes und durch die Heftigkeit ihrer Orgasmen war er auch überzeugt, ein guter Beischläfer zu sein. Etwas, das er sich vorwiegend aus Büchern und Pornofilmen angeeignet hatte. Seine erste – vor ihr einzige – körperliche sexuelle Beziehung war trotz der zwei Jahre, die diese gedauert hatte, dafür wenig relevant, da er mit dieser Frau nur unter sehr erschwerten Bedingungen beisammen sein konnte – am häufigsten in einer Mulde am Rande des Lainzer Tiergartens. Die Akte in einem Bett damals konnte man an einer Hand abzählen.
Das erste Mal – sein erstes Mal, denn auch seine erste Geliebte war längst nicht mehr unberührt – geschah nach dem Wiener Universitätsball, den sie um Mitternacht verließen, um mit einem Taxi in seine Wohnung zu fahren. Das Haus betraten sie im Abstand von einigen Minuten, damit seine Eltern, die ihre Wohnung in diesem Haus hatten, nichts bemerkten. Es war ein geplanter Akt, er hatte auf der Bahnhofstoilette ein Päckchen Kondome besorgt, das Klappbett, auf dem er schlief, hatte er vorsorglich frisch überzogen. Er trat nach dem Vorspiel – sie war darin sehr zärtlich – hinter den Vorhang, der einen Teil seiner Wohnung abtrennte und schob das Kondom über seinen erigierten Schwanz. Sie führte sein Glied in ihre Scheide ein.
Nein, sie hatte das nie getan. Sie hatte ihren Schwanz nie in ihre Scheide eingeführt. Er hatte immer die Kontrolle und er allein war es, der sein Glied in ihre Scheide schob. Manchmal war ihre Scheide trotz langem Vorspiel trocken, sodass es beinahe zum Ritual geworden war, dass er sie so lange leckte, bis sie feucht war, dass er ohne ihr Schmerzen zu bereiten, eindringen konnte.
Mochte sie sein Glied nicht berühren?
Einmal hatte sie erzählt, dass sie Schwänze hässlich fände. Hing es damit zusammen? Sein Glied war nicht hässlich, das wusste er aus frühen Vergleichen aus der Pubertät und von pornographischen Bildern, es war lange, gerade und besaß eine wohlgeformte Eichel. Er beherrschte die Fähigkeit, seinen Schwanz bewusst in ihrer Vagina allein durch Muskelkontraktion zu bewegen. Diese Fähigkeit war früher wegen der häufigen Trockenheit ihrer Vagina hilfreich. Seine erste Sexualpartnerin hatte die vergleichbare Fähigkeit besessen, ihn durch Muskelanspannung und -entspannung ihrer Vagina bis zum Orgasmus zu bringen. Wie ihm ein Studienkollege einmal versicherte, die beinahe schönste Art für einen Mann, in völliger Passivität zum Höhepunkt zu kommen. Sein Kollege war damals mit einer Balletttänzerin zusammen. Turnerinnen sollten darin noch besser sein. Einmal kannte er eine Turnerin und dachte auch daran mit ihr zu schlafen, doch es war ihnen keine Zeit gegeben.
Mochte sie es nicht sein, die den abschließenden Akt ihres Liebespiels einleitet?
Hatte das mit der ihr sich selber zugeschriebenen Passivitätsrolle in einer Liebesbeziehung zu tun?
Konnte sie zwar lieben und fordern, nehmen musste der andere?
Seit sie ihm gesagt hatte, dass sie schon lange keine körperlichen und sexuellen Bedürfnisse mehr verspüre, war bei den schon seltenen Kopulationen eine beinahe paradoxe Veränderung aufgetreten: Sie war schon durch geringe äußere Stimluation durch sein Glied, indem er es außen an den Schamlippen mit seiner Hand entlang führte, leichten Druck damit ausübte und danach seinen Daumen in ihre Vagina steckte, um sie zu öffnen, so feucht, dass er ohne ihr Schmerzen zu bereiten, auch mit einem voll erigierten Glied, bei dem die Eichel freilag und der Durchmesser dementsprechend groß war, eindringen konnte.
Früher hatte dieser erst nach langer Zeit des Vorspiels erreichte Zustand häufig dazu geführt, dass, wenn er kaum Widerstand und Reibung verspürte, bei entsprechend langem Zuwarten sein Glied die Erektion wieder verlor. Jetzt im Status ihrer völligen Libidolosigkeit – dieser Begriff war ihm erst in den zwei Wochen klar geworden – war die Feuchtigkeit gerade richtig, um innerhalb einiger Minuten zum Orgasmus zu kommen. Anfangs hatte er auch dann noch gehofft, dass sich in ihr etwas regen könnte, doch mit der Zeit lernte er, sich nur noch auf sich selber zu konzentrieren und mit gezielten Bewegungen zum Höhepunkt zu kommen. Diesen erlebte er allerdings in den letzten Jahren nicht mehr so intensiv, denn wenn sie es ihm mit der Hand besorgte, was ihr immer besser gelang und nach ihren eigenen Worten einfach nur mehr eine eheliche Pflichtübung – von Pflichterfüllung konnte man in diesem Fall wohl kaum sprechen – war, konnte er die passive Rolle einnehmen, die er wohl seit Beginn ihrer Beziehung häufiger gewünscht hätte.
Sie hatte ihn auch nur selten geritten.
Drei bis fünf Mal in dreiunddreißig Jahren. -
XVI Entfernungs.Messer
Schon lange vor den zwei Wochen war ihm ihr Blick aufgefallen. Wenn er den ihren suchte, war oft ein kurzes fragendes Erstaunen in ihren Augen, als ob sie es seltsam fände, von ihm betrachtet zu werden. Er versuchte sich zurück zu erinnern, wann ihm das Unstete in ihrem Blick zum ersten Mal aufgefallen war. Sie hatte es wohl schon seit dem Beginn ihrer Beziehung. Angesprochen hatte er es einmal, als er sie beim Lesen beobachtete. Immer wieder sprangen ihre Augen vom Text in den Raum, wie um etwas zu suchen. Das war unabhängig davon, ob es eine Zeitung war oder ein Buch. Nach wenigen Zeilen irrte ihr Blick einmal in die eine, einmal in die andere Richtung. Es war wie beim Autofahren, wenn der Blick für einige Sekunden dem Rückspiegel gilt. Er meinte damals, dass das doch anstrengend sein müsste. Ihr war es aber gar nicht bewusst. Er hatte seither einige Male darüber spekuliert, was der Grund für diese Marotte sein konnte. Wollte sie eine allfällige Bedrohung von hinten erkennen? Jetzt in diesen zwei Wochen schien er eine Erklärung gefunden zu haben, die auch zu ihrem nach eigenen Worten angestrebten Lebensstil passte. Sie war ständig auf der Hut.
So wie jemand, der auf der Jagd oder auf der Flucht ist. Wovor war sie auf der Flucht? Vor ihm? Vor den Menschen? Sie hatte ihm erst in diesen zwei Wochen gestanden, dass sie Angst vor großen, dichten Menschenmassen habe.
Während der Zeit in Strasbourg aber auch der in Wien, als sie für das Außenministerium gearbeitet hatte, hatte sie es immer von einem Ereignis zum Nächsten getrieben. Sensation seeking. Die Gier nach Neuem, nach Abwechslung ließ sie offensichtlich ihre Scheu vor Menschen verlieren, auch wenn sie am liebsten als distanzierte Beobachterin unterwegs war. Sie ging auf Menschen zu, um ihre Neugier zu befriedigen. Die neuen Freundinnen in Strasbourg oder die in Wien dienten ihr weniger zur Befriedigung eines Nähebedürfnisses, sondern in der Hauptsache, möglichst viel über sie und ihr Schicksal zu erfahren.
Aus Strasbourg – oder war es ihm vorher einfach nie aufgefallen – hatte sie eine eigene Form der Nörgelei mitgebracht, die sie wohl nicht als solche wahrnahm.
Das Nörgeln an anderen – besonders vertrauten – Menschen war ihm verhasst, denn es erinnerte ihn an den Tratsch der Frauen an der Bassena, die er als Kind mit anhören musste. Wenn eine der Frauen gegangen war, mit der sie zuerst noch freundlich geredet hatten, wurde diese zum Gesprächsthema.
Wie sie wohl über ihn redete?
Er tröstete sich allerdings damit, dass sie dieses Kritisieren anderer fast auf alle Menschen in ihrer Umgebung übertrug – mag es nun eine Freundin oder Arbeitskollegin sein, ein Kellner in einem Lokal oder sogar auf das Essen.
Nichts war perfekt.
Es gab Ausnahmen, vermutlich nur bei Menschen, die sie zu kurz kannte, um etwas Kritisierenswertes zu entdecken. Das war in ihrem langen Berufsleben als Psychologen häufig die Fragestellung, in einem Familiensystem mit Problemen die Schwachstellen zu entdecken, an denen man ansetzten konnte.
War ihm das früher bloß nicht aufgefallen? Oder hatte sich hier tatsächlich ihre Einstellung der Welt gegenüber verändert? Hatte sie in Strasbourg die Welt in Freund und Feind einzuteilen gelernt? Hatte sie einen emotionalen Extremismus entwickelt, der ihr das Überleben in der Welt einfacher machte? Es war dann nicht mehr notwendig, die vielen Schattierungen der Menschen auszuloten, sondern sie steckte sie einfach in die rechte oder die linke Lade. Abgelegt wie Akten, mit denen sie Zeit ihres Arbeitslebens zu tun hatte. Sie musste in ihrem Beruf für andere Entscheidungen vorbereiten und teilweise dadurch indirekt auch treffen. Begann sie nun, das auch auf ihr eigenes Leben zu übertragen?
Sie hatte ihn in die Lade mit dem großen Minus davor gesteckt.
Einfach so, ohne ihn lange zu fragen.
Mister Minus.
Paradoxerweise wird sie ihm später das als einen seiner Fehler vorhalten, immer negativ eingestellt zu sein, immer ein Miesmacher gewesen zu sein in diesen dreiunddreißig Jahren. Dabei war er es, der ihr in ihrem Negativismus anderen gegenüber immer widersprochen hatte. Er mochte Menschen und scheute sich, auch hinter ihrem Rücken über sie Negatives zu besprechen.
Es störte ihn schließlich immer mehr, dass sie minutenlang über ihre Freundinnen reden konnte, wobei fast ausschließlich negative Ereignisse und auch Eigenschaften im Vordergrund standen, sodass er sich manchmal fragte, warum sie dann noch immer Kontakt zu ihnen pflegte. Die eine bekam ihre Beziehungen nicht auf die Reihe, die andere war immer arrogant. Die eine ließ sich in ihrem Beruf immer mit Kettenverträgen abspeisen, weil sie sich vor einer Prüfung fürchtet, die andere hatte ihr Englisch als mangelhaft beurteilt, obwohl sie selber ein völlig unverständliches Englisch sprach. Sie fühlte sich häufig von ihren Vorgesetzten – noch dazu Frauen – unter ihrem Wert behandelt zu werden, etwa indem man ihr Aufgaben übertrug, die doch eigentlich auch eine Sekretärin hätte erledigen könnte. Sie versuchte, unkonventionelle Methoden einzuführen und war enttäuscht, dass die anderen nicht mit fliegenden Fahnen die Überlegenheit ihrer Art der Gesprächsführung übernahmen, sondern sie geradezu ignorierten.
Doch auch bei Erzählungen aus dem Alltag dominierten die negativen Erlebnisse. Nach den zwei Wochen werden sie bei in einem Kaffeehaus in der Sonne sitzen und sie wird ein in der Straßenbahn erlauschtes Gespräch mit einem Mobiltelefon einer dicken, ungepflegten Frau berichten, die mit einer ungehobelten Sprache offensichtlich ihrem Mann von einem Vorstellungsgespräch berichtete, das nicht zu ihrer Zufriedenheit verlaufen war. Besonders alterierte sie sich abermals über das Dicksein und die Verantwortung, die jeder Mensch dafür trage. Sie verabscheute dicke Menschen – sie hatte ihn damals, als er weit über hundert Kilogramm wog, auch verabscheut, auch wenn sie das niemals so explizit zum Ausdruck brachte.
Einige ihrer Freundinnen hatten recht komplizierte Beziehungen zu Männern und lebten beinahe alle allein. Deren Lebensform wurde für sie allmählich zum angestrebten Lebensstil, auch wenn viele dieser Freundinnen ein solches Leben nicht angestrebt hatten, sondern durch die Umstände, die eben nicht so waren, darin gelandet waren. Sie sah nur deren Leben, wenn sie mit ihnen beisammen war, nicht aber die Wochenenden, in denen man auf einen Anruf hofft, die dunklen Abende des Herbstes, die die Einsamkeit der Nacht ankündigten. Er hatte bei seinem Besuch damals in Strasbourg einige dieser Freundinnen kennen gelernt und in den Zwischentönen der Erzählungen und manchmal auch direkt angesprochen deren stumme Trauer und deren Schmerz gefühlt. Sie fand diese Schicksale interessant.
Wollte sie auch ein solches?
Sie schwärmte ihm nach der Zeit in Strasbourg vor, wie sehr sie zum ersten Mal in ihrem Leben Frauenfreundschaften genossen hätte. Sie verstieg sich zu der Behauptung, dass ein Mann eine Frau niemals so verstehen könnte wie eine Frau, mit ihnen könne man über alles reden. Er hatte dem – teilweise aus Verbitterung, dass sie sich ihm nie vertrauensvoll geöffnet hatte – widersprochen, da er einen sehr starken weiblichen Part in sich fühlte und dachte, dass er sie sehr wohl gut verstünde und sich auch in sie hineinversetzen könne.
Es endete wie immer mit einem Streit, damals in den zwei Wochen.
Als sie später nach der Trennung dieses Thema wieder ins Gespräch brachte, wird er ihr nicht widersprechen – nicht, weil er es nicht gekonnt hätte, sondern weil er merkte, dass sie davon überzeugt war. Überzeugungen kann man anderen nicht ausreden. Argumente drangen gegen den mit Vorurteilen gepanzerten Kern der Überzeugung nie durch.
Was musste sie verteidigen?
In den zwei Wochen und auch noch ein Jahr danach wird sie seine Nähe als bedrohlich empfinden. Sie wird seine Aufmerksamkeit, ihr in den Mantel zu helfen, ihr bei den Alltäglichkeiten an die Hand zu gehen, als übertrieben zurückweisen.
Und sie wird ihn zurückweisen, wenn er sie mehr als ein Jahr später zur Vorführung eines Films, in welchem er eine kleine Rolle gespielt haben wird, zu sich einladen wird. Wovor wird sie auch dann noch Angst haben? Vor dem Gefühl, ihm Unrecht getan zu haben? Ihre Entschuldigung am Jahrestag des Verlassens für die Art und Weise des Verlassens wird vor allem für sie wichtig sein und nicht für ihn. Wird er dann etwas erkennen können, was in ihr vorgeht?
Sie will Distanz.
Sie genießt es, zweimal in der Woche alleine im Wohnzimmer ohne ihn zu schlafen. „Achte Grenzen“ hatte sie ihm einmal als Tagesthema vorgegeben, als er sie darum bat. Er hatte ihr daraufhin in einer SMS geantwortet: „Grenzen gaukeln bloß Schutz vor. Grenzen machen unverwundbar, unberührbar. Liebe ist unsere unendliche Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit“. Er dachte, ihr damit ein Zeichen zu setzen, dass er zwar ihre Grenzen achte, dass aber Grenzen auch trennen.
Sie beide trennen.
Sie erlebte es als Widerspruch.
Es waren die zahllosen Zurückweisungen und Verletzungen in ihrem Leben, die sie immer wieder in ihr sicheres Schneckenhaus zurücktrieben, die sie aber auch nie lernen ließen, was denn nun die richtige Distanz zu anderen Menschen für sie wäre. War es Distanzlosigkeit, dass sie andere Menschen durch ihr Verhalten Versprechungen machte, die sie dann nicht einhalten wollte oder konnte.
In den zwei Wochen hatte es sie es ihm mehrmals gesagt: „Ich weiß nicht, ob ich zurückkommen will“.
Aber sie war da. Das zählte für ihn, machte es aber auch unendlich schwierig, den Abstand zu ihr zu halten, den sie wünschte und er brauchte. Immer wieder pendelte er zwischen seinem Wunsch nach Nähe und seiner Notwendigkeit nach Distanz.
Nun war er es, der nicht wusste, was möglich und was notwendig war.
Mehrmals nahm er sie in den zwei Wochen an den Händen, um mit ihr zu sprechen, um die ständige Flucht vor seinen Fragen und ihren Antworten zu verhindern. Er wusste, dass er hier eine Grenze verletzte, auch wenn dies nie mit Gewalt geschah.
Sie sei kein Kind mehr.
Hier war wieder ihre Angst, wie ein Kind behandelt zu werden. Eine Angst, die im Widerstreit stand mit ihrer Sehnsucht nach dem Kindbleiben. Sie sehnte sich zurück nach der unschuldigen Liebe ihrer Kindheit. Er wusste wenig von ihrer ersten Liebe, die für sie so prägend war. Sie war nicht erfüllt worden. Darunter litt sie bis heute. Sie sprach nie mit ihm über ihren Schmerz damals. Sie wusste, diese Liebe konnte ihr niemand wegnehmen, diese Träume und Sehnsüchte, diese Erinnerungen und Wunden. Und es war eine Wunde, die sie auch nach so vielen Jahren noch mit sich herumtrug, für niemanden sichtbar. Manchmal stolz.
Du stolzes Herz, du hast es ja gewollt!
Du wolltest glücklich sein, unendlich glücklich,
Oder unendlich elend, stolzes Herz,
Und jetzo bist du elend.
Trafen diese Verse Heines nicht eher für sie zu als für ihn, der in diesen zwei Wochen all seinen Stolz und seine Selbstachtung verloren hatte.
Was war seine Wunde? -
XVII Intim.Rasur
Nach diesen zwei Wochen wird er beginnen, sich wieder zu rasieren. Er hatte in der Zeit, in der sie in Strasbourg war, begonnen, sich unter den Achseln, seine Brust und seine Schamaare zu rasieren.
Sie hatte seine seltenen Bemerkungen bis dahin immer ignoriert, dass Frauen sich üblicherweise die Achselhaare rasieren. Bisher hatte sie das nur hie und da bei der Beinbehaarung getan. Sie hatte außerdem einen sehr dicht und breit behaarten Venushügel, sodass bei jedem Badeanzug oder Bikini zahlreiche dunkle Schamhaare seitlich herausragten. Er sah, wie andere Männer sie deshalb am Strand oder im Bad anstarrten, und führte ihre Weigerung, es wie fast alle Frauen zu tun, darauf zurück, dass sie dadurch absichtlich die Blicke auf sich ziehen wollte.
Er hatte ihr einmal ein gelbes Hüfttuch geschenkt, damit sie ihre Schamhaare bedecken konnte, wenn sie in einem Strandcafe saßen, das sie direkt vom Strand aus aufsuchten.
Sie hatte es nie benützt.
Bis Strasbourg hatte sie ihm offensichtlich nicht zugetraut, etwas über die „Frauenwelt“ zu wissen. Erst während ihrer Arbeit in Frankreich hatten ihr die Freundinnen nahe gelegt, dass sich eine Frau heutzutage einfach rasiere.
Ihn hatten ihre dichten Schamhaare beim Lecken häufig irritiert, vor allem, da sie auch nach dem Duschen noch den Geruch von Urin festhielten. Oder Krümel billigen Toilettepapiers. Seit Strasbourg hatte sie die Schamhaare seitlich ausrasiert und im Bereich der Scham getrimmt – er hatte ihr danach einige Male die Schamhaare rasiert und einmal fast völlig entfernt, worauf sie begann, es immer allein zu tun. Sie waren immer unregelmäßig geschnitten und ihre Schamlippen trugen einige längere Haare, die sich in seinen Zähnen verfingen.
Das war lange her, denn sie hatte sich seit einiger Zeit verbeten, von ihm geleckt zu werden.
Als er sich nach den zwei Wochen wieder rasierte, blutete er wie damals, als er begonnen hatte, die Schamhaare auf einen schmalen Streifen oberhalb seines Schwanzes zu reduzieren und die Haare auf dem Hodensack und an der Unterseite seines Gliedes zu entfernen.
Sie sollte keine Haare spüren, wenn sie ihm einen blies.
Das war zweimal in ihrem Leben der Fall gewesen – einmal in Südfrankreich und einmal in Strasbourg. Wie ihm schon bald bewusst wurde, wandte sie diese Sexualpraktik nicht aus einem inneren Bedürfnis an, sondern aus einem schlechten Gewissen heraus, hatte sie doch in Strasbourg eine Affäre mit einem jüngeren Mann begonnen. Sie hoffte damit, ihr Gewissen zu beruhigen.
Zeit seines Lebens hatte er sich nach diesem intimen Kontakt gesehnt.
Ihr Geschlechtsverkehr war vor der Ehe und danach bis etwa ein Jahr vor den zwei Wochen geprägt von ihrer sich selbst verordneten passiven Frauenrolle. Er sorgte für das Vorspiel und durch Lecken für die möglichst schmerzfreie Penetration, er sorgte dafür, dass es zu keiner vorzeitigen Ejakulation kommt – er dachte in solchen Situationen an seine Arbeit oder er begann sein kindliches Abendgebet – falls sie vor dem Schlafengehen beisammen waren – zu sprechen -, wartete, bis sie ihren klitoralen Orgasmus hatte, und kam meist unmittelbar danach.
Früher hatte sie beim Geschlechtsverkehr manchmal gesprochen, ihn sogar mit einer gewissen biederen Obszönität, die sie sich zugestand, anzufeuern, mit der Zeit verstummte sie. Die Anfeuerung wie „Mach es mir!“ hatte ihm zu Beginn geholfen, seine Erektion zu halten, wenn das Vorspiel sehr lange war, um sie auf das Eindringen vorzubereiten. „Fick mich!“ war wohl das Äußerste.
Sein Glied hatte sie nie benannt. Er hatte einige Male versucht, verbal zu kontern, war aber in der Wortwahl wenig geschickt, vermutlich weil er das in Pornofilmen und -büchern übliche Vokabular nicht auf ihr Beisammensein anwenden wollte.
Er hatte einige Male ihren Arsch benannt, hatte aber das Gefühl, dass sie hier eher blockiert wurde. Dabei war ihre Rose sehr empfänglich für sein Zungenspiel und sie genoss es, wenn er mit dem Daumen ein wenig in sie eindrang. Er wusste, dass sie mit einem ihrer ersten Liebhaber Analverkehr versucht hatte. Mit ihm gab es solche Experimente nicht. Einige Male in der Badewanne, einige Male am Fußboden.
Nach ihrem Verstummen war er auf sich allein gestellt.
Er hatte ihr häufig durch bloßes Lecken einen Orgasmus bereitet, indem er seinen Mund und seine Zähne gegen ihren Kitzler presste und mit seiner Zunge in ihre feuchte Scham eindrang, allerdings ertrug sie einen solchen Orgasmus meist nur sehr kurz und wehrte ihn danach mit ihrer Hand ab. Danach drang er in sie ein und musste nicht mehr soviel Rücksicht nehmen.
Selten zog sie ihn von ihrer Scham zu sich hoch, sein Gesicht und sein Bart mit ihrer Flüssigkeit und seinem Speichel nass. Sie wollte ihn danach auch nicht küssen, sondern er barg seinen Kopf neben ihrem auf dem Kopfpolster. Ekelte ihr vor ihrer eigenen Flüssigkeit? Er hatte sie beides Mal geküsst, nachdem sie seinen Schwanz in ihren Mund genommen hatte. Es war ein Kuss wie jeder andere, denn sie hatte nie seinen Samen aus ihm gesogen und er wusste, sie würde auch nie seinen Samen in ihren Mund aufnehmen. Das hatte sie früh einmal kategorisch abgelehnt und er hatte über zwanzig Jahre auch nicht gewagt, davon auch nur zu sprechen. Als er es doch tat, und davon sprach, wie sehr er sich danach sehnte, von ihrer Zunge ohne Hemmungen geküsst und geleckt zu werden, wäre es beinahe zur Trennung gekommen.
In seiner ersten sexuellen Beziehung vor ihr war es trotz der starken körperlichen Anziehung nur zu zaghaften Küssen der Genitalien gekommen, und das erst nach zwei Jahren am Ende der Beziehung. Zuvor hatten sie gewöhnlichen Sex miteinander, diesen allerdings in einer ekstatischen Intensität, wie er ihn nachher nie wieder erlebt hatte. In der Woche vor dem Bruch mit seiner ersten Geliebten war das Küssen der Geschlechtsorgane des anderen deren gemeinsamer, verzweifelter Versuch, das Letzte zur Rettung ihrer schon davor zerbrochenen Beziehung zu wagen. Sie waren einander hörig gewesen, aber das Herz war lange davor verstummt. Diese Erkenntnis war es, die beide unter Tränen voneinander Abschied nehmen ließ. Sie wussten, dass alles, was folgen würde, es nur noch schwerer gemacht hätte. Sie trennten sich, weil allein ihre Körper einander brauchten, sie das wussten und es für ein gemeinsames Leben zu wenig war. Zu verschieden auch die Klassen, aus denen sie gekommen waren. Sie sahen einander noch einige Male von Ferne in Konzerten – ihre Blicke fanden sich und sie wandten sich beide in Tränen ab, denn auch Leidenschaft kann aneinander binden.
Später, nach der Geburt ihres Sohnes wagte er lange nicht mehr, von oralem Sex zu sprechen, obgleich ihre sexuellen Akte immer mehr zur Routine geworden waren, wobei seine aktive und ihre passive Rolle noch extremer wurden.
In den zwei Wochen begründete sie es damit, dass sie ihn schon lange nicht mehr liebe und es aus ehelicher Pflicht täte. Genauso wie das in den letzten Monaten vor den zwei Wochen geschah, in denen sie ihn nur mehr mit der Hand befriedigte. Früher hatte er wegen der Trockenheit des Gliedes oft Schmerz empfunden, jetzt verwendete er vorsorglich Body-Lotion, mit der er sein Glied nach dem Duschen auch unter der Vorhaut einrieb. So rutschte die Vorhaut zwar früher zurück, aber ihre Hand fühlte sich durch die Lotion nicht mehr so trocken wie früher an.
Allmählich lernte er, auch auf diese Weise zu einem für ihn befriedigenden Orgasmus zu kommen, auch wenn er am Beginn häufig angespannt und verkrampft war, denn es gelang ihr nur selten, seinen Rhythmus aufzunehmen, der ihm das notwendige Maß an Erregung bereitete. Meist half es, wenn ihr Kopf seine Brust berührte oder sie in seltenen Fällen seine Brustwarzen mit den Lippen oder Zähnen umschloss. Er musste sie zu dieser Zärtlichkeit auffordern, dass sie seine Brustwarzen mit der Zunge oder mit den Zähnen erregte. Doch es mache ihm jetzt nichts mehr aus, bestimmte Praktiken zu fordern. Er sah das als Kompensation ihrer Libidolosigkeit.
Waren ihre Brustwarzen und das Berühren und Küssen ihrer Brüste früher noch ein möglicher Weg, sie zu erregen, hatte sich das schon vor mehr als zehn Jahren verändert. Sie wies ihn immer häufiger ab, wenn er es versuchte. Komplementär dazu war die Erregbarkeit seiner Brüste gewachsen, sodass er sich vorstellen konnte, allein durch deren Stimulation zu einem Höhepunkt zu kommen. Aber wie sollte er sie zu diesem Experiment bewegen?
Dennoch: Er hatte gelernt, sich ihren Händen anzuvertrauen.
Sie empfand keine körperliche Erregung mehr.
War es eine Form der Befreiung?
Wovon? -
XVIII Eifer.Sucht
Eifersucht war vor allem in den ersten Jahren ihrer Beziehung ein ständiger und manchmal verhängnisvoller Begleiter. Sie hatte im Gegensatz zu ihm unzählige Affären und Beziehungen hinter sich, die teilweise mit ihrem künstlerischen Umfeld – sie wollte Schauspielerin werden, hatte sich dann aber für ein Studium der Psychologie entschieden – zusammenhingen, in dem sie sich als begehrenswerte junge Frau vorwiegend bewegte. Von diesen früheren Beziehungen erfuhr er wenig, höchstens Fragmentarisches, Zufälliges und in unterschiedlich umfänglichen Dosierungen. Erzählungen von ihren Erfahrungen mit Männern folgten häufig Eifersuchtsattacken seinerseits und dadurch Szenen, sodass sie sich wohl eines Tages dafür entschied, nichts mehr davon preiszugeben. Einerseits fühlte sie, dass sie ihm damit weh tat – das wollte sie damals nicht -, andererseits wollte sie sich selber schützen, indem sie einen Kordon aus Oberflächlichkeiten um sich zog, in welchem wenig von ihrer Vergangenheit und ihren Möglichkeiten zu Gefühlen zu finden war. Er wusste daher am Beginn ihrer Beziehung nicht einmal mit Sicherheit, ob sie einige ihrer Beziehungen noch weiterführte – er wusste von einer, die sie aber während der ersten Wochen ihres Kennenlernens beendete. Er war diesem weit älteren Mann – einem Exiltschechen, der als Musiker ihre in Deutschland lebende Cousine gleichen Vornamens beim Musikunterricht verführt hatte – zwei oder dreimal begegnet. Aber da sie diese Bekanntschaft nicht vor ihm verbarg, war er auf nicht so tiefgründig eifersüchtig, vielmehr fühlte er eine Art Triumph, sie ihm “ausgespannt” zu haben. Die meisten Beziehungen vor ihm hatte sie mit älteren und oft auch verheirateten Männern. Es mussten mehr als zwanzig gewesen sein, wie er manchmal aus ihren Erzählfragmenten zusammenzählte und darunter litt.
Machte es Sinn, auf die Vergangenheit eines anderen Menschen eifersüchtig zu sein? Was waren hier die Gewichte, die ihn belasteten? Ihm war nur klar, dass er mit seinen Gefühlen dazu nicht zu Rande kam. War es das Gefühl, selber zu kurz gekommen zu sein? Selber nicht auf einen solchen Erfahrungshorizont zurückblicken zu können? Oder widersprach es eher seiner immer noch gehegten Sehnsucht, eine unberührte Frau zu finden? Also wieder seinem katholischen Erbteil.
Seine in späterer Zeit durchgeführte Analyse kam schließlich zu einem anderen Ergebnis: Seine Eifersucht bezog sich nicht so sehr auf die Männer als auf das Ausgeschlossensein aus ihrem Leben. Manchmal war es ihm auf Grund dieser Erklärung auch gelungen, sich über die eigene Eifersucht lustig zu machen. Er kokettierte damit, brachte die Eifersucht so auf Distanz. Zwar stieg sie immer wieder drängend in ihm hoch, aber er verbarg diese Gefühle, indem er sie immer mehr kontrollierte und Eifersuchtsattacken nur mehr gezielt und bewusst einsetzte, wenn er sich von ihr verletzt oder missachtet fühlte. Gab er sich nicht bloß der Illusion hin, die Eifersucht zu kontrollieren, oder kontrollierte sie ihn nicht doch?
Da solche Szenen manchmal bewusst eingesetzter Attacken häufig mit ihren Tränen und seinen Entschuldigungen für die Verletzungen endeten, belasteten sie die erste Zeit. Später wir er sich fragen, ob diese Eifersucht für sie nicht auch eine Möglichkeit waren, ihr verdrängtes schlechtes Gewissen, das sie vehement leugnete, zu kompensieren. Oder war ihr auch klar, dass seine Eifersucht nicht den Männern ihrer Vergangenheit galt, sondern ihrer Verschlossenheit? Hier war sie wieder, die Schnecke als Symbol ihrer Persönlichkeit.
Durch den frühen Heiratsantrag und die darauf folgende rasche Verlobung nach wenigen Wochen ihrer Bekanntschaft hoffte er, sich selber diese Eifersucht nehmen zu können. In den ersten Jahren bis zur Hochzeit gab es zwar noch zahlreiche “Rückfälle”, doch nach der Geburt des Kindes schien es, als wäre die Eifersucht in ihm endgültig überwunden. Wie er generell begonnen hatte, seine Gefühle zu kontrollieren. Und er war darin offensichtlich einigermaßen erfolgreich.
Seine Kontrolle ging schließlich so weit, dass er all die folgenden Jahre jeden Gedanken und jede Möglichkeiten zur Eifersucht ignorierte. Er übernahm da zu einem Gutteil die von ihr vorgelebte Kontrolle über die Gefühle. Denn es gelang ihm nie, sie aus ihrem emotionalen Schneckenhaus und der manchmal vibrierenden Kontrolle herauszuholen.
Aber: War das seine Aufgabe? Diese „Mission impossible“?
Hatte er es aufgegeben, an sie heranzukommen?Teufels.Pakt
Ziemlich genau sieben Jahre vor den zwei Wochen kamen eines Tages anonyme Emails, die ihn davon unterrichteten, dass er doch nicht so blauäugig sein sollte, alles zu glauben, was sie ihm erzählte. Er hielt diese für den üblichen Spam, der damals häufig verbreitet wurde, denn die Inhalte waren zunächst allgemein und austauschbar, hätten für viele gelten können. Die Hinweise wurden aber immer konkreter und bezogen sich schließlich eindeutig auf sie als Person. Ganz konkret wurden sie eines Tages, indem sie auf Reisen, die sie unter der Arbeitswoche unternahm, bezogen. Sie wäre heute in Wien oder in Salzburg unterwegs. Da sie ihm aber am Abend davon erzählte, dass sie den Tag für eine solche spontane Reise genützt hatte – sie brachte ihm aus Wien sogar manchmal seine Lieblingsbonbons mit -, gelang es ihm, den Argwohn zu unterdrücken.
Dennoch fühlte er sich immer wieder verletzt, wenn er mit ihr an einem solchen Tag am Frühstückstisch gesessen war und sich wie jeden Tag von ihr verabschiedet hatte, und sie zu diesem Zeitpunkt doch gewusst haben musste, dass sie nicht in die Arbeit fahren würde. Ein Satz hätte genügt, und er hätte sich in ihr Leben eingebunden gefühlt. So fühlte er sich wieder einmal vor den Kopf gestoßen und ausgeschlossen aus ihrer Welt. Wenn dann offensichtlich noch andere vor ihm davon wüssten, dann traf ihn das tief.
Aber er kämpfte gegen diese negativen Gefühle. Er war stolz auf sich, dass er ihr keine Szene machte, wenn er von ihr wieder einmal nicht vorher von einer solchen Tour informiert worden war, sondern beiläufig davon erfuhr. Dass er ihr aber auf Grund der zugespielten Vorinformation in seinen Gesprächen beim gemeinsamen Abend danach gar keine Wahl ließ – er hatte dann z.B. von einem zufälligen Anruf in ihrem Büro gesprochen, bei der er von der Sekretärin über ihren Urlaubstag informiert wurde -, erzählte sie ihm bereitwillig von einer Ausstellung, die sie besucht hätte. Sie fand nichts dabei, ihm nichts am Morgen von solchen geplanten Reisen zu sagen, denn ihr war nicht bewusst, dass sie ihn damit verletzte und seine Eifersucht damit schürte.
In den Emails war allerdings nie ein konkreter Hinweis enthalten, der auf einen Nebenbuhler hinwies, sondern waren wohl nur darauf ausgerichtet, ihr zu misstrauen. Nach der Trennung würde es ihm wie Schuppen von den Augen fallen, dass alle diese Aktivitäten eines Anderen darauf ausgerichtet waren, ihn zu destabilisieren und nicht auf “ihn” selber hinzuweisen. Das würde sich am Ende von selber ergeben.
Die Frequenz der Nachrichten war recht uneinheitlich – manchmal häuften sie sich, manchmal kamen mehrere Wochen keine Hinweise. Immer wieder überlegte er, ob er sie davon unterrichten sollte, doch er sagte sich, dass sie dann vielleicht vorsichtiger werden und ihre Aktivitäten noch heimlicher setzen würde.
Er schloss dadurch einen Pakt mit dem Teufel, der ihm auf diese Weise Zugang zu ihren Geheimnissen gewähren konnte.
Während die Emails seltener wurden, schien es, als wollte der Informant auf ein anderes Medium umsteigen. Er hatte sich als letztes Familienmitglied ein Mobiltelefon zugelegt, das billigste mit einer Wertkarte, wie es seinem Naturell entsprach. Bald hatte der anonyme “Informant” dieses Medium entdeckt und begann, ihn wieder mit “Geheimnissen” zu versorgen. Dieses Mal über SMS. Der Stil war ein anderer als in den Emails, wobei es zwei Formen gab: Eine Gruppe betraf wieder Hinweise auf ihre „heimlichen“ Aktivitäten, eine andere Gruppe von Nachrichten waren unvermittelte sexuelle Anspielungen. Zunächst harmloser Art, etwa dass sie von einem Mann in einem Kaffee geküsst worden sei – an den Text würde er sich noch lange erinnern, denn er war ohne Zwischenräume abgefasst: „BussiundnocheinBussiundnocheinesundnocheines!“
Später während ihrer Strasbourger Zeit waren es einige Male sehr direkte Beschreibungen sexueller Handlungen, die sie an einem Mann vornahm. Auch diese entsprachen jenem atemlosen Stil, wobei er vermutete, dass „er“ nur aus Bequemlichkeit die Leertaste vermied.
Relativ spät stellte er sich die Frage, woher dieser seine Telefonnummer gehabt hatte. Der Betreffende musste offensichtlich irgendwann einmal Zugang zu ihrem Mobiltelefon gehabt haben, denn er selber hatte seine Nummer weder in seinem beruflichen noch privaten Umfeld preisgegeben. Nur sein Sohn und sie kannten sie bzw. er nutzte sie für seine finanziellen Börsen-Transaktionen – allerdings handelte es sich dabei um Computerkontakte. Die Nachrichten, die auf seinem Mobiltelefon eintrafen, waren eindeutig von Menschenhand abgefasst. Er verwarf auch den Gedanken, dass es sich um zwei verschiedene Informanten handeln könnte.
Viele der SMS bezogen sich auf Vorfälle, die sie ihm sicher verschweigen würde. So erfuhr er noch lange vor ihrer Erzählung von einem Wohnungsbesuch, den sie einer schwer kranken, männlichen “Kaffeehausbekanntschaft” abgestattet hatte, die ihr dann geschäftstüchtig ein für sie ungeeignetes Fahrrad und eine klecksende Füllfeder aufgeschwatzt hatte. Aber da sie ihm später doch davon berichtet hatte, gelang es ihm, seine Eifersucht weiter zu kontrollieren. Ähnlich unglücklich endete eine Bekanntschaft mit einem Badeausstatter, der einen solchen Pfusch lieferte, dass er Jahre später in einem Prozess, den der andere auf Grund der teilweise zurückgehaltenen Zahlung angestrengt hatte, erst vor dem Richter Recht bekam. Oder ein Verleger, der ihr versprach, einen Text zu veröffentlichen, der aber monatelang mit einer Rückmeldung warten ließ, wobei das Projekt dann irgendwann im Sand verlief.
Ihm wurde allmählich klar, dass sie zu dieser Zeit viele Bekanntschaften geknüpft hatte, die sich vorwiegend in ihrem Stammcafé ergeben hatten. Sie hatte ihn von diesem Lebensbereich weitgehend ausgeschlossen, was auch damit zusammenhing, dass er sich meist um seinen Sohn kümmerte, während sie im Kaffeehaus hofiert wurde. Es blieb ihm unerklärlich, warum sie um diese Bekanntschaften einen solchen Schleier des Geheimen gelegt hatte.
Wozu brauchte sie diese Geheimnisse?
Hier war es wieder, dieses Ausgeschlossensein.
Aber er wollte nicht eifersüchtig sein. Dass er damit seine spontanen Gefühle geradezu kastrierte, kam ihm damals kaum in den Sinn. Er funktionierte wie ein perfekter Ehemann und war stolz darauf. Er war tolerant und ließ seiner attraktiven Frau, um die ihn doch jeder beneiden musste, allen erdenklichen Spielraum.
Eines Tages kamen per SMS konkrete Hinweise, dass “sein Schatzi” heute mit einem anderen unterwegs sei. Allerdings waren diese Hinweise für ihn nicht überprüfbar, denn wie sollte er mitten in einer Besprechung an der Universität in ein Café in der Innenstadt gehen, wo sie sich in der Mittagspause wieder einmal mit “einem Mann” getroffen haben sollte. Häufiger wurde er davon informiert, dass sie in einer Bar sitze, statt direkt nach der Arbeit nach Hause zu kommen. Allerdings trafen diese Nachrichten immer so spät ein, dass er sie schon unten im Hausflur hörte, nachdem er die diesbezügliche SMS gelesen hatte. Da er das Mobiltelefon wegen einer Lehrveranstaltung abstellte und danach vergaß, es wieder einzuschalten, erfuhr er erst am nächsten Tag davon. Sollte er sie darauf ansprechen? Es war zu lächerlich.
Einige Male war er selber argwöhnisch geworden, als er sie eine Stunde vor dem offiziellem Dienstschluss telefonisch nicht mehr in ihrem Büro erreichen konnte. Dann verließ er das Haus und ging zu dieser Bar, traf sie aber meist nicht mehr an. Nur ein paar Mal saß sie noch dort in relativ unverfänglicher Art und Weise an der Theke und trank ein Glas Wein – er wäre zufällig vorbeigekommen, da er noch in einem nahe gelegenen Lebensmittelgeschäft etwas für das Abendessen besorgen musste – und hätte sie zufällig gesehen. Wahrscheinlich sah sie ihm diese Lüge an und reagierte professionell, indem sie nicht weiter in ihn drang und diese Erklärung akzeptierte. Er hatte darob ein so schlechtes Gewissen, dass er sich beinahe entschuldigte, sie hier beim “Ausklang der Arbeit” gestört zu haben. Einige Male hatte sie ihn so von der Notwendigkeit dieser Zäsur zwischen Arbeit und Haushalt belehrt, dass er es als aufdringlich empfunden hätte, wenn er ihr den Vorschlag gemacht hätte, diese Zäsur gemeinsam zu begehen. Jahre nach diesen Ereignissen wird er auf einer Lesung eine Schriftstellerin kennenlernen, die ihm im Smalltalk beiläufig erzählt, dass sie seine Frau früher sehr regelmäßig in dieser Bar angetroffen habe. Allerdings konnte sie auf seine Nachfrage rückblickend nicht sagen, ob seine Frau in einer ständigen Begleitung gewesen war, da an der Theke um diese späte Tageszeit die Personen häufig wechselten.
Die extrem sexuell orientierte Varianten der Nachrichten setzten erst kurz vor der Strasbourger Zeit ein. Sie schürten unmittelbar vor der Abreise seine Eifersucht, die er all die Jahre so gut unter Kontrolle gehalten hatte. Die von ihr angestrebte Trennung ließ ihn in seine früheren Verhaltensweisen regredieren. Wieder stand er kurz davor, ihr von diesen zugespielten Informationen zu erzählen, aber da er diese so lange für sich behalten hatte, fühlte er sich beinahe schuldig, so viele Jahre nicht offen gewesen zu sein. Und er wusste, dass sie auf Gespräche, die sie als Person betrafen, immer ärgerlich reagierte, denn in ihr Schneckenhaus sollte niemand eindringen. Auch er nicht.
Es war auch knapp nach jener Zeit, in der sie an ihrem Arbeitsplatz ums Überleben kämpfte und gleichzeitig mitten im Klimakterium war. Er fürchtete, dadurch noch mehr Öl in die zu dieser Zeit ohnehin oft in Flammen stehende Beziehung zu gießen.
Während ihrer Strasbourger Zeit gab es sehr lange Pausen bei den Informationen des Teufels, nur einmal gab es eine Häufung unmittelbar nach seinem ersten Besuch bei ihr. Einige der SMS kamen über einen französischen Anbieter, also befand sich der Informant offensichtlich ebenfalls im Ausland. War er mit ihr zusammen?
In der Zeit danach, in der sie in der Hauptstadt arbeitete, gab es noch größere Abstände. Auch hier dominierten die Hinweise auf Reisen, die sie unternahm, wobei sie ihm diese aber nicht verschwieg.
Die Präsenz des Informanten sogar im Ausland hätte ihn eigentlich stutzig machen müssen, aber vermutlich glaubte er allmählich selber an den Teufel, der mit ihm einen Pakt geschlossen hätte. Warum der Informant so gut über sie Bescheid wusste, enthüllte sich ihm als recht einfache Lösung erst gegen Ende ihrer Beziehung.
Als sie nach der externen Berufstätigkeit wieder in Graz zurück war, gab es kaum noch SMS-Informationen, auch wenn diese hie und da auf seinem Mobiltelefon einschlugen, meist während kurzer gemeinsamen Urlaubszeiten.
War der andere auf ihn eifersüchtig? Wollte er ihn provozieren?
In diesem einen Jahr zeichnete sich die Trennung mehrmals ab und offensichtlich sah der andere keinen Grund mehr, seine Eifersucht weiter zu provozieren. Nachträglich würde ihm klar werden, dass „er“ sich sicher sein konnte, sein Ziel zu erreichen, denn sie wäre am liebsten überhaupt nicht mehr zurückgekommen, was natürlich bei weitem nicht so wirkungsvoll wäre, ihn endgültig zu zerstören.
Kurioserweise werden die obszönen Nachrichten auch noch nach der Trennung kommen, aber wesentlich spärlicher und meist unmittelbar nach seinen Versuchen, mit ihr wieder einmal einseitig Kontakt aufzunehmen. Da seine Versuche in dieser Richtung auf Grund ihrer völligen Ignoranz immer seltener wurden, wurden auch die Nachrichten seltener.
Er fragte sich: Welche Absicht standen hinter diesen nun doch recht überflüssigen Versuchen, ihn eifersüchtig zu machen? Ihm den weiteren Kontakt zu vergällen? Das war nur mehr lächerlich, wo der Andere doch erreicht hatte, dass sie ihn verlässt. Der Kontakt mit ihr war doch nun problemlos möglich, er stand ihnen nicht mehr im Weg. Er war auf raffinierte Weise aus der Beziehung gemobbt worden. Oder hatte sie sich letztlich auch gegen “ihn” entschieden, weil sie von allen Männern genug hatte? Sie würde mit Scheuklappen durch die Hauptstraße gehen, hatte sie ihm einmal an den Kopf geworfen. Schließlich würden alle Männer, die sich für sie in diesem Alter interessierten, doch nur das wollen, was sie ihm aus einer Art Ekel heraus, der wohl in ihren frühen sexuellen Erfahrungen begründet lag, verweigert hatte.
Die späte Hinwendung zu Frauen, die sie ihm gegenüber als eine Begründung für die Trennung nannte, und sich nicht mehr für Männer zu interessieren, sollte das bestätigten. Gleichwohl sah er sie nach der Trennung zufällig mehrmals in Begleitung anderer Männer.
In den zwei Wochen wird er zu der ernüchternden Erkenntnis gelangen, dass er das schleichende Gift dieser Nachrichten schlicht unterschätzt hatte. Dass er seine Fähigkeit, die Eifersucht in sich niederzukämpfen und unter Kontrolle zu halten, überschätzt hatte. Ohne konkrete Beweise hatte er schweigen wollen und schließlich auch gar nicht nach ihnen gesucht, denn das hätte in seinen Augen Eifersucht bedeutet. Und er wollte zu sich selber ehrlich sein.
In diesen zwei Wochen, nachdem sie ihn nun nachweisbar und offensichtlich mit ihrer ersten Liebe hintergangen hatte – Hatte sie es getan? Zweifelte auch er trotz der Beweise daran? -, wurde diese Eifersucht hemmungslos in ihm hochgespült. All der Argwohn, die Phantasien waren mit einem Mal wieder da. Hatte sie “ihm” mehr gegeben, als sie zugegeben hatte? Wollte sie ihren Liebhaber – War er einer? – schützen, schützen vor ihm, vor seinem Jähzorn. Vermutlich traute sie ihm zu, diesen Mann zu töten. Und auch in seinen Phantasien kamen solche Tötungsabsichten sehr lebendig vor, als er sie von hinten beim Betreten eines Lokals sah. Sollte er nach Hause gehen und ein Messer holen? Sie vor dem Lokal erwarten, das sie irgendwann verlassen mussten. Sollte er ihnen folgen und ihn dann bei einer günstigen Gelegenheit erstechen? Er würde das von vorne tun, sie überraschen, sich vorstellen lassen und dann plötzlich zustechen. Er wollte sehen, wie der jahrelange Quäler seiner Gefühle stirbt. Aber war es der geheime Informant, der ihm all die Jahre seine Phantasien angestachelt hatte. War es der Liebhaber? War es nur ein Kollege, mit dem sie eine Besprechung hatte?
Der Pakt mit dem Teufel würde so erfüllt werden. Der Kreis würde sich für den anderen schließen.In den zwei Wochen hatte er niemanden in seiner Umgebung, mit dem er über ihren Betrug reden konnte. Er konnte sich auch nicht vorstellen, mit jemandem darüber zu reden. Sein Sohn, der an einem Wochenende in diesen zwei Wochen in Graz gewesen war, war nicht der geeignete Gesprächspartner. Er wollte ihn schützen, ein solches Bild der Mutter zu sehen. Es gab einen auch seinem Sohn bekannten Präzedenzfall: Der Vater eines seiner Freunde – beide hatten in früher Jugend im selben Tennisverein gespielt und die Väter kannten sich als abwechselnd tätige Mannschaftsführer der Jugendgruppe gut – hatte vor einigen Jahren seine Frau von einem Tag auf den anderen verlassen. Seither weigerte sich der Sohn, auch nur ein Wort mit seinem Vater zu sprechen. Der Vater litt so sehr darunter, wobei sich das deutlich in seinem Äußeren zeigte, denn er war vordem recht korpulent gewesen, hatte aber unter der Situation leidend mehr als zwanzig Kilogramm verloren und sah um mindestens zehn Jahre älter aus. Hatte er sich äußerlich auch so verändert? Er prüfte es immer wieder im Spiegel und stellte fest, dass er sich wenig verändert hatte.
Nach den zwei Wochen fasste er endlich den Mut und versuchte, mit jener Kollegin, die in Graz zu einer persönlichen Freundin geworden war, zumindest telefonisch in ein Gespräch zu kommen. Sie lebte mit einem Künstler in Wien und diese waren das einzige Ehepaar, zu dem sie in all den Jahren einen wenn auch unregelmäßigen und seltenen Kontakt pflegten. Da diese Kollegin am Beginn des Schuljahres – sie war Leiterin einer Fachhochschule – zahlreiche Termine hatte, gelang es ihnen über eine Woche nicht, zu einem längeren Gespräch zu kommen, in welchem die Ruhe und die Zeit war, eine persönliche Angelegenheit zu besprechen. Sie wollten es während der Arbeitszeit tun, denn es wäre nicht so leicht gewesen, das innerhalb jener Mauern zu tun, in denen sie auch anwesend war, trotz der Größe der Wohnung, die sie schon lange nutzte, um auf Distanz zu ihm zu gehen. Nach einer neuerlichen unerfreulichen Aussprache an einem Morgen – sie hatte durch die Unordnung in ihrem Kleiderschrank entdeckt, dass er ihr jene Reizwäsche weggenommen hatte, die er ihr vor einigen Jahren geschenkt hatte, um ihrem Sexualleben einen Impuls zu verleihen – rief er seine Freundin in deren Wohnung an. Es fiel ihm nicht leicht, diese ihn in seinen Augen erniedrigenden Ereignisse im Detail zu erzählen. Zum Glück hatte sie auf Grund der bisherigen kurzen Telefonate schon geahnt, was geschehen war. Sie nahm sich eine Stunde Zeit für ihn.
Die im psychosozialen Bereich erfahrenen Freundin konnte die erlebte Verletzung nicht nur verstehen, sondern sie ermutigte ihn, auf Distanz zu gehen und nicht – wie es offensichtlich in seinem Naturell war – auf sie zuzugehen. Sie hätte ihn betrogen und sie hätte trotz des Schrittes, mit dem anderen Schluss zu machen – den sie unmittelbar vor Strasbourg wieder zurücknahm; weil sie sich mit ihm dort treffen wollte? -, auf ihn zuzugehen. Er sollte in keinem Fall eine Umkehrung dieser Verhältnisse dulden. Er war überrascht, wie trefflich sie seine Frau in all den Jahren einzuschätzen gelernt hatte. Sie sprach offen die Asymmetrie der Beziehung an, die immer auf seine Kosten gegangen wäre. Sie hatte immer wieder mitbekommen, dass sie mehr oder minder nur an sich dachte und nie an die Beziehung. Er solle vor diesem Egoismus nicht die Augen verschließen und auch nicht versuchen, ihr den Schritt zurück zu leicht zu machen. Sie und nur sie habe ihn betrogen. Auch wenn es ihm schwer fällt, müsse er in dieser Situation an sich denken und nicht an die Beziehung oder gar an sie. So oder so müsste sie sich entscheiden und wenn er wollte, dass sie zu ihm zurückkommt – und auch das wusste sie, dass er das wollte -, dann könne er, so schmerzlich das auch sein mag, darauf keinen Einfluss nehmen. Nicht er müsse bitten und betteln sondern sie. Sie habe sein Vertrauen missbraucht und er habe jedes Recht auf Misstrauen.
Es tat ihm weh, diese nüchterne Analyse aus dem Mund einer Freundin zu hören, denn er selber hatte in seiner Hilflosigkeit nicht den Mut, sich diese Tatsachen, mochten sie auch noch so offen auf dem Tisch liegen, einzugestehen. Nicht nur Liebe macht blind, sondern auch der Hass. Hass? Er stolperte über dieses Wort. War es Hass, der ihn in dieser Zeit antrieb? Nach diesem Gespräch wird er zur Überzeugung gelangen, dass auch er fähig war, zu hassen. Und dass die Unterdrückung des Hasses jene Energie in ihm band, die er brauchte, um sich seiner Lage gemäß zu verhalten. Gab es in dieser Situation überhaupt ein richtiges Verhalten? Kann man das lernen?
Besonders traf ihn das Kopfschütteln, das er in der Stimme seiner Freundin hörte, als er ihr von den zahlreichen Hinweisen zu ihren Heimlichkeiten in den letzten Jahren erzählte. Wahrscheinlich sei es der Nebenbuhler selber gewesen, der auf diese Weise ihre Beziehung zerrütten wollte, indem er in ihm diese mit der Zeit unterdrückte Eifersucht schüren wollte, von der “er” offensichtlich wusste, dass sie solche Vorwürfe, Unterstellungen hasste. Er sollte nicht wieder so blauäugig sein, ihren Beteuerungen zu glauben, dass sie kein Verhältnis gehabt hätten. Der Andere hätte gezielt ihre Beziehung sabotiert, indem er ihr das Gefühl gab, sie in allem zu verstehen und paradoxerweise sogar dazu zu bestärken, bei ihm zu bleiben, weil er eine Methode wusste, wie er ihn manipulieren könnte, von innen heraus die Beziehung zu zerstören. Er brauchte nur zu warten.
Eine Freundin aus dem Internet – er hatte zahlreiche langjährige Kontakte durch seine literarischen Aktivitäten in virtuellen Gruppen – sandte ihm in diesen Tagen ein Gedicht von Kelly Priest:Mit der Zeit lernst du,
dass eine Hand halten nicht dasselbe ist,
wie eine Seele fesseln.
Und dass Liebe nicht Anlehnen bedeutet,
und Begleiten nicht Sicherheit.Du lernst allmählich,
dass Küsse keine Verträge sind,
und Geschenke keine Versprechen.Und du beginnst,
deine Niederlagen erhobenen Hauptes
und offenen Auges hinzunehmen,
mit der Würde des Erwachsenen,
nicht maulend wie ein Kind.Und du lernst,
all deine Straßen auf dem Heute zu bauen,
weil das Morgen ein zu unsicherer Boden ist.Mit der Zeit erkennst du,
dass sogar Sonnenschein brennt,
wenn du zuviel davon abbekommst.Also bestelle deinen Garten
und schmücke selbst dir die Seele mit Blumen,
statt darauf zu warten,
dass andere die Kränze flechten.Und bedenke,
dass du wirklich standhalten kannst,
und wirklich stark bist.Und dass du deinen eigenen Wert hast.
Können Verse trösten? Kann es trösten, dass ein anderer das selbe Schicksal erlitten hat? Gibt es in der Liebe eine Duplizität der Fälle?
War ihre Liebe auch nur eine von vielen, eine übliche?
Eine, die man von der Stange kauft?
Er wollte das in all den Jahren nicht glauben und kämpfte dafür, dass es nicht so wäre. War nun dieser Kampf verloren?
Hatte ihn die Alltäglichkeit eingeholt?
Sie hatte den Kampf schon längst aufgegeben, wie sie sagte.
Er hatte es nicht bemerkt und erst sehr spät erkannte er, dass er in seinem Kampf allein war. Aber er glaubte daran, dass er für zwei kämpfen könnte.
Nun weiß er, dass sein Kampf gescheitert ist.
Auch der Kampf gegen seine Eifersucht, gegen sein Naturell.
Hatte er damit auch seine Persönlichkeit zerstört?
Vielleicht hat sein Kampf den Rest der Illusion zerstört.
Wer hat versagt?
Gibt es eine Schuld?
Ist nicht seine Blindheit gegenüber den doch so offensichtlichen Zeichen ihrer Untreue genauso schuld daran wie ihre Resignation ob seiner Selbstkontrolle, die all seine spontanen Gefühle unterdrückte?
Da an diesem Tag auch sein Sohn für eine Woche nach Graz kam, fragte er seine Freundin am Telefon, ob er darüber auch mit ihm sprechen sollte, denn er wollte ihn zwar nicht mit hineinziehen, allerdings war der Sohn in ihrer Beziehung ein guter Seismograph gewesen, der immer fühlte, wenn es Spannungen gab. Immer zog er sich wohlweislich zurück, denn er litt unter den Auseinandersetzungen, wobei er fürchtete, als Schiedsrichter missbraucht zu werden. Er wollte auch kein Go-between sein, denn er liebte beide Elternteile.
Ihr Sohn wäre ohnehin mittendrin. Direkt ansprechen sollte er es nur, wenn es sein Sohn täte. Er sollte in jedem Fall das Gespräch dahingehend suchen, von ihm zu erfahren, wie er die zahlreichen Situationen der Spannung und des Streites miterlebt hätte. Denn auch er braucht Hilfe, um mit dieser Belastung umzugehen. Irgendwann wird er ja doch erfahren, dass seine Mutter seinen Vater betrogen hatte. Es bestünde kein Grund, sie auch davor zu schützen, um seine Achtung nicht zu verlieren. Sie hatte es getan und sie hatte die Folgen zu tragen.
Er wird es schließlich seinem Sohn nach ihrer Entscheidung, den Mann zu verlassen, mit dem sie dreiunddreißig Jahre zusammen gelebt hatte, erklären. Sein Sohn wird dann wissen, dass seine Mutter ihren Vater betrogen hatte. Er wird dann auch manche Illusion verloren haben, Illusionen, die für manche Menschen zum Glück dazugehören. Dreiunddreißig Jahre Illusionen.
Dreiunddreißig.
Welche Schnapszahl.
Am Ende des Gesprächs mit seiner Freundin las er die Dauer von 58 Minuten am Display des Telefons ab und konstatierte beinahe mit Genugtuung, dass wenigstens die Kosten dieses Telefonats sie tragen müsste, denn die Gebühren wurden im Zuge des damals noch geübten haushaltlichen Kostenausgleichs von ihrem Konto abgebucht.
Die Reizwäsche legte er in den Schrank zurück.
Ihm war in diesen zwei Wochen auch klar geworden, warum er nach ihrer beruflich bedingten Rückkehr aus Wien keine Chance gehabt hatte, da sie ihn von Anfang an als Teil des „Systems Graz“ – sie nannte es einmal so – betrachtete und daher all die beruflichen Frustrationen auch auf ihn und ihr Zusammenleben übertrug. Der Andere hatte ihr nach ihren Aussagen selbstlos zu der Rückkehr geraten, denn er natürlich wusste, dass er ihn durch gezielte SMS-Botschaften zu einer Zeitbombe gemacht hatte. Er musste bloß warten, bis sie explodierte. Und dann würde sie ihn verlassen.
Sie könnte sich niemals eingestehen, einen Fehler begangen zu haben. Sie war in der Zeit ihrer Beziehung zu Selbstkritik unfähig gewesen, zumindest was ihren Anteil an der Beziehung betraf. Er erinnert sich an keine einzige Situation, für die sie sich entschuldigt hätte. Das Wort Entschuldigung kam nie über ihre Lippen. Sie gab zwar zu, auch an dem einen oder anderen Streit „mit“-schuldig gewesen zu sein, allerdings war es immer nur eine allgemeine und sie als Person nicht berührende Formulierung, etwa „Bei einem Streit sind immer beide beteiligt!“ Auch den für die damalige Situation lächerlichen Vorwurf des „Missbrauchs“, den sie im Frühjahr als Anlass für ihre Auszeit genommen hatte, nahm sie nie mit einer Entschuldigung zurück, sondern ersetzte den Begriff durch einen anderen.
Ihre Beziehung war davon geprägt, dass an allem, was schief lief, er allein die Verantwortung trüge und auf Grund der von außen geschickt manipulierten Gefühle auch dazu bereit war. Ihre Beziehung war dadurch geradezu gekennzeichnet, dass immer er es war, der sich bei Problemen schuldig fühlen musste. Früher hatte sie ihm sogar paradoxerweise vorgeworfen, dass er es wäre, der versuche, in ihr Schuldgefühle auszulösen. Und er fühlte sich schuldig, das zu tun.
Wollte er ihr die Schuldgefühle ersparen, indem er alles auf sich nahm?
War er der Sündenbock in der Beziehung, dem man all das Unheil aufbinden und dann in die Wüste schicken konnte?
War das der Preis des Teufelspaktes?
Hatte sich der Mechanismus des Sündenbocks für das Funktionieren ihrer Beziehung als so heilsam erwiesen, dass sie damit für einige Zeit nicht in vielleicht zerstörerische Rivalitäten zurücksinken mussten?
Diese Schieflage hatte er mit der Zeit verinnerlicht und glaubte mit der Zeit selber daran, dass es tatsächlich so wäre. Er nannte sich einen Idioten, der nicht fähig wäre, es in einer Beziehung richtig zu machen. Seine Abendgebete waren oft nichts anderes als eine verbalisierte Demontage seines Selbstbewusstseins, seines Ich.
Die übernommene Sündenbockrolle – gleichwohl durch den katholischen Katechismus in ihm angelegt – erzeugte ein permanent schlechtes Gewissen, wobei er ohne Unterlass bemüht war, nichts falsch zu machen. Wohl auch aus diesem Grund beging er Fehler. Er wurde in offenen und kritischen Situationen im Umgang mit ihr immer ängstlicher, wobei ein Merkmal seiner Angst die Panik war, in der er verletzt verletzend wurde und verbal zurückschlug. Aber er hatte sich meist unter Kontrolle und dies trug ihre Beziehung über viele Jahre hinweg.
Erwartete er Anerkennung dafür, dass er seine Emotionen unterdrückte?
Wollte er doch nicht als Sündenbock geopfert werden? Wollte er einmal aus dieser Rolle ausbrechen?
So nüchtern hatte er es in den zwei Wochen analysiert.
Hier war sie wieder, diese vernunftgeleitete Kontrolle. Schließlich gab es für die Emotionen ja den Pakt.
Diese Angst mit all dem Unheil beladen in die Wüste geschickt zu werden, führte auch dazu, dass er in vielem schon von vorneherein versuchte, sich in ihre Lage zu versetzen, was wohl notwendigerweise immer wieder schief ging, denn sie war ihrem Naturell nach sprunghaft und wenig berechenbar. Einerseits ging von dieser Ambivalenz ein gewisser Reiz aus, andererseits machte ihr Verhalten die gedeihliche Entwicklung einer stabilen und auf einer gewissen Berechenbarkeit beruhenden Beziehung schwierig, wenn nicht unmöglich.
Manchmal dachte er, dass sie das selber wusste und auch bemüht war, daran etwas zu ändern. Das war vor allem in der Zeit, in der sie sich auf die Ehe vorbereiteten. Es war ihr nie gelungen.
Ein Merkmal, das vermutlich mit dieser Unstetigkeit zusammenhing, war ihre Unfähigkeit, auf eine harmlose Frage nach einer persönlichen Bewertung eine eindeutige Antwort zu geben. Es gab immer wieder Situationen, in denen er sie nach ihrer Meinung zu einem Kunstwerk, einem Ereignis, einer Entwicklung befragte. Sie vermied es stets, eine direkte Antwort zu geben, sondern hatte in diesem Augenblick einen forschenden, fragenden Blick, was der andere erwarte. Und da er nichts erwartete, sondern einfach ihre Meinung wissen wollte, fand sie in seinem Gesicht keine Antwort, die sie hätte geben können.
Hatte sie Angst vor einer eigenen Meinung? Hatte sie Angst, etwas Falsches zu sagen?
Hatte jede Exposition in ihrer Beziehung dazu geführt, dass der andere daraus einen Vorteil zog?
Hatten beide Angst?
War Angst das bestimmende Element ihrer Beziehung?
Dreiunddreißig Jahre Angst? -
XIX Schlag.Worte
An den häufigen Eifersuchtsszenen der frühen Zeit war jener insistierende Tonfall schuld, den sie in Gegenwart von anderen Männern oft anschlug und den er so gut aus seiner Kindheit kannte. Eifersucht, sie war eine Begleiterin seiner frühesten Kindheit gewesen.
Er saß neben seiner weinenden Mutter am Bett ihrer Zimmer-Küche-Wohnung und tröstete sie, als sie wieder einmal erfahren musste, dass die „Überstunden“ seines Vaters einem Besuch bei einer seiner wechselnden Geliebten – Huren nannte sie seine Mutter – galten.
Es gab auch echte Überstunden.
Doch zeitlebens ist für ihn das Wort Überstunden mit der Bedeutung versehen, dass in dieser Zeit Unrechtes geschehen kann. Gleichwohl sein Vater echte Überstunden machte, um den Lebensstandard der Familie zu heben – „Du sollst es einmal besser haben!“ war das Schlagwort der Nachkriegsgeneration, mit der man seine Kinder schlug. Ja, er war Akademiker geworden, Universitätsprofessor sogar – höher geht’s wohl kaum hinauf. Arzt vielleicht, aber er konnte kein Blut sehen und ihn interessierte mehr die Seele als der Körper – wohl auch ein katholisches Erbteil. Zeitlebens kämpfte seine Seele mit dem Körper. Hatte auch sein Vater gekämpft? Hatte sein Körper gesiegt?
Oder die Kuren, die er später alljährlich absolvierte. Auch das Wort Kur hatte für ihn eine eindeutige Besetzung. Kur und Kurschatten waren eins.
Nicht weil sein Vater krank war, fuhr dieser in den letzten Arbeitsjahren auf Kur, sondern weil ein befreundeter Arzt Gefälligkeitsgutachten schrieb. Auf einer seiner Kuren hatte sein Vater dann auch seine zweite Frau, die er nach dem Tod seiner Mutter kirchlich heiratete – damit die Leute im Dorf nichts Schlechtes sagen können – kennen gelernt. Er glaubte nicht, dass er sie jemals geliebt hat, denn sein Vater konnte nicht lieben.
Konnte er lieben? War seine Fixierung auf die Reinheit der Liebe mit gleichzeitiger Unterdrückung seiner Körperlichkeit nicht daran schuld, dass er sich nun nach dreißig Ehejahren endlich befreien wollte, endlich seinen Körper sprechen lassen wollte? In den letzten Monaten hatte er im Sommer endlich begonnen, nackt zu schlafen. Etwas das er sich nie zuvor getraut hatte – auch sie schlief an besonders heißen Tagen nackt. Aber er begann, sich auch nackt in der Wohnung zu bewegen, zeigte ihr seinen noch immer stattlichen Körper, drängte ihn im Bad manchmal an den ihren. Sie ließ es oft nur widerwillig geschehen. War der Körper des anderen schöner, fragte er sich nun in den zwei Wochen. War der nackte Körper eine Bedrohung ihres Verhältnisses? War ihre Libidolosigkeit – sie nannte es früh einmal Frigidität – nur ein Schutzschild gegen ihn? War das Begehren in ihr wirklich verloschen? Wie kann man einen anderen lieben ohne Körper, fragte er sich nun, nachdem er die katholische Verlogenheit endlich abgelegt hatte. Wenn die Pausen des Beisammenseins zu lang waren, dann onanierte er mit Hilfe eines Pornofilmes. Und er hatte kein schlechtes Gewissen mehr. Er brauchte niemandem zu beichten. Sich und seinen Körper zu fühlen war natürlich und keine Sünde.
Sein Vater hatte sich immer zur Sünde bekannt. Er entdeckte noch in seiner Pubertät pornographische Texte im Schreibtisch seines Vaters, die er heimlich mit seiner Schreibmaschine abschrieb. Auch der Vater hatte seine pornographischen Bilder, die er von einem Freund erhalten hatte, in seiner damaligen Wohnung entdeckt, während er in der Schule war. Er merkte es daran, dass einige der Bilder fehlten. Er fand sie Jahre später im Werkzeugschuppen des Vaters in einer Ritze hinter einem Balken. War deshalb der Vater vor und in seiner Pension oft so lange „zum Basteln“ in diesem Schuppen gewesen? Hatte er diese seine Bilder genutzt, um seine Triebhaftigkeit los zu werden?
Das Schweigen über dieses Thema war beiden gemeinsam. Sie wussten, dass der andere wusste und schwiegen. Einverständnis ist noch keine Beziehung, schon gar keine Liebe.
In der Rekonstruktion seiner Kindheit hatte er nie einen liebenden Vater entdeckt. Er kannte nur die Hand seines Vaters, den Stock und die Angst. Als Stock diente ein Teppichklopfer aus dünnen Gerten geflochten, der biegsam im Schlag ein Geräusch machte wie ein aufkommender Sturm. Ein Geräusch, das ihn später immer wieder zusammenzucken ließ, wenn er es hörte.
Und da war die Hand. Vor allem war es die Hand. Die zuschlagende Hand.
An dieser Hand seines Vaters hatte er sich in seiner Not einmal so fest geklammert, dass dieser wenigstens mit einer nicht mehr zuschlagen konnte. Sein Vater war darob so wütend geworden, dass er ihn – daran erinnerte er sich immer wieder in seinem Leben, wenn er später seinem Vater gegenüberstand – schließlich mit dem von Metallringen zusammengehaltenen Stiel des Teppichklopfers so lange und so heftig auf den Hinterkopf schlug, dass er irgendwann vor Schmerz die Hand seines Vaters losließ. Er verkroch sich flüchtend wie immer unter dem Bett der Mutter, doch es half nichts. Immer wieder schlug der Vater auf ihn ein, auf ihn, der sich zusammenkauerte und nur jene Stellen seines Körpers den Schlägen bot, die am wenigsten schmerzen würden.
Nur nicht das Gesicht, nicht in das Gesicht!
Nicht die Augen, nicht die Augen!
Zusammengerollt wie im Bauch seiner Mutter vor seiner Geburt ertrug er lautlos – er hatte früh gelernt, keinen Schmerz zu zeigen, dem Quäler nicht den Triumph seines Schmerzes zu gewähren – die von der Hand seines Vaters blind unter das Bett geführten Schläge. Warum brachen die Gerten nicht? Hatten sie kein Mitleid mit ihm? Kannte sie keine Gnade?
Die darauf folgende Nacht verbrachte er schlaflos unter dem Bett seiner Mutter, über und über mit Striemen bedeckt, an vielen Stellen blutend, ein Körper voll Schmerz und ohne Tränen.
Als er am nächsten Tag als Vorbereitung auf den Sechs-Uhr-Gottesdienst nach der Beichte die aufgetragenen Vaterunser vor dem Kreuz in der Seitenkapelle beten sollte – er hatte in der Beichte nichts von seinem körperlichen Schmerz gezeigt, obwohl er kaum knien konnte – ließ er trotzig die Vaterunser Vaterunser sein und schaute nur in das Gesicht des Gekreuzigten über ihm. Und es schien ihm, als sagte der zu ihm, dass daran nichts Unrechtes wäre. Seine Sünden hätte er gestern gebüßt. So wie er für die der Menschen gebüßt hatte.
Irgendwann hatte er begonnen zurückzuschlagen – spät und ein einziges Mal. Ab diesem Tag wagte es sein Vater nicht mehr, die Hand gegen ihn zu erheben.
Gab es da nicht auch den großen Daumen seines Vaters, an dem er sich einmal an einem jener Tage, an denen ihn die Hand, auf dem auch dieser Daumen war, geschlagen hatte, beim Einschlafen festhielt? So als ob er dort Halt finden wollte. Halt bei seinem Quäler?
Das Halten dieser schon lange nicht mehr zuschlagenden Hand seines Vaters war auch der letzte Kontakt, den er an seinem mehrwöchigen Sterbebett hatte. Die Hand sah noch genau so fest aus wie damals, als sie ihn schlug. Die Augen des Vaters sagten: „Nimm meine Hand!“ Er hob die Hand seines Vaters und legte sie auf seinen Kopf. Da war ein hilfloses Streicheln zu fühlen, ein Lächeln in den schon zerfallenden Augen. Hatte er ihn im Sterben zum ersten Mal geliebt? War die Hand, die sanft auf seinem Kopf lag die Entschuldigung für die tausenden Schläge? Seine Bitte um Verzeihung vor seinem letzten Weg?
Gibt es ein geheimnisvolles Band zwischen Opfer und Täter, das sie aneinander fesselt?
War nicht auch sein Vater ein Opfer?
Auch die Mutter schlug ihn, aber ihr Schlagen war eines der Angst, des in die Enge getrieben Seins. Er fühlte häufig in sich jenes Erbteil.
Vom Vater hatte er wenig geerbt – vielleicht die Triebhaftigkeit, die sie ihm immer wieder unterstellte, später in ihrer Beziehung, am Ende ihrer Beziehung. Zu Beginn ihrer Beziehung war diese Triebhaftigkeit kein Problem für sie. Jeden Tag hatte er sie in ihrem kleinen Studentenzimmer besucht und jeden Tag waren sie beisammen, häufig auch mehrmals.
Er war ein guter Liebhaber.
Hat sie es ihm jemals gesagt?
Der männerumspinnende Tonfall in ihrer Stimme war auch einer der Gründe, warum es ihnen in den Jahren ihres Beisammenlebens und der späteren Ehe zu anderen Ehepaaren keine dauerhaften gemeinsamen Freundschaftsbeziehungen zu knüpfen gelang. Die Frau eines Schaupielers – dieser hatte in einem seiner Theaterstücke eine Hauptrolle gespielt – sagte es ihm ohne Umschweife, als er wegen einer neuerlichen gemeinsamen Unternehmung angerufen hatte. Nach allen möglichen Gründen wie Proben, Reisen, die diese zunächst vorschob, benannte sie das seltsame Verhalten ihres Mannes in Gegenwart seiner Frau. „Er ist ohnehin schon von genug Weibern umgeben, die ihm nachstellen!“
Und seine Stimme?
Hatte er von seinem Vater nicht vielleicht auch diesen Tonfall geerbt, diesen Tonfall, in den sein Vater verfiel, wenn er mit einer anderen Frau sprach? Jenes ölig-samtig-verbindliche in seiner Stimme klang ihm auch heute noch im Ohr.
Nein, seine Stimme war weicher, weiblicher, die Stimme seiner Mutter. In dieser Stimme klang immer die Besorgtheit, die Angst vor dem Leben und vor Enttäuschungen mit. Er hatte eine ängstliche Stimme, wenn er mit ihr sprach.
In den letzten Jahren war seine Angst größer geworden, auch die Angst in seiner Stimme.
War es diese Ängste, die sie aggressiv werden ließ? Die sie zornig machte auf jenen Mann, von dem sie sich selber Hilfe und Stärke gewünscht hätte? Konnte eine Stimme Geborgenheit geben, die selber vor dem Leben Angst hatte?
Wünschte sie sich ein Raubtier und keinen Angsthasen?
Es schien ihm früher, als würde diese Stimme seines Vaters die Frauen wie ein Raubtier sein Opfer umkreisen, um sie in seinen Bann zu ziehen, ihnen die Ausweglosigkeit der Situation klar zu machen. An Flucht war dann nicht mehr zu denken.
Sein Vater war bis ins hohe Alter trotz fehlender Haare und Kriegsverletzung am Kopf, die aber kaum sichtbar war oder ihn noch interessanter machte, ein stattlicher Mensch. Er war, so würde man heute sagen, ein Womanizer. Hauptsächlich lag es aber an der Stimme seines Vaters, denn er konnte als Kind und Jugendlicher immer wieder die Blicke jener Frauen beobachten, die diese seinem Vater zuwarfen, wenn seine Stimme – häufig sogar in Gegenwart seiner Mutter und sogar in der Gegenwart des Partners der Frau – einen werbenden Unterton bekam. Er sah die manchmal auch fordernden Blicke dieser Frauen, er sah aber auch das plötzlich alt und leer werdende Gesicht seiner Mutter, und er fühlte Wut und Hass in sich aufsteigen.
Er hasste seinen Vater von Anbeginn.
Mehrmals nahm er in solchen Situationen den Kampf für seine Mutter auf, indem er plötzlich wie besessen auf irgendetwas einschlug – war es im Freien, dann köpfte er mit einem Stock oder Ast die Wiesenblumen, dass diese der beisammen stehenden Erwachsenengruppe um die Ohren flogen. Fand diese Verführungsszene in einem Raum statt, dann begann er mit seinen Füßen gegen ein Möbelstück zu treten oder begann laut zu pfeifen.
Immer hatte er von seinem Vater dafür danach Schläge bekommen, Schläge die er ohne zu Schreien erduldete, Schläge, die ihn triumphieren ließen, denn er hatte für seine Mutter eine Schlacht geschlagen und einen Sieg errungen, hatte seiner Mutter Tränen erspart. Sie weinte selten, wenn er geschlagen wurde.
Dennoch liebte er seine Mutter.
Er verstand ihre Angst.
Diese Angst lebte in ihm selber, bis zum heutigen Tag.
Den verführerischen Tonfall seines Vaters fand er in ihrer Stimme wieder, wenn sie mit anderen Männern sprach. Sie tat es – nachträglich wurde ihm das manchmal bewusst – ebenso wie sein Vater ohne Absicht, denn der Drang Herauszufordern war in ihr wie in seinem Vater. Hatte sie jemals so in seiner Gegenwart um ihn mit dieser Stimme geworben?
Dieser Tonfall einer fordernden Vertraulichkeit klang ihm auch von „ihm“ im Ohr, als er in ihrer Mailbox gelandet war.
War das die Stimme der Verführung?
Hatte er selber jemals so gesprochen?
Erkennt das nur der andere, niemals man selber?
Als Erwachsener konnte er keine Blumen köpfen oder gegen Möbelstücke schlagen, einmal trat er absichtlich unter dem Tisch einen Umworbenen und entschuldigte das Versehen. Die Irritation auf allen Seiten bestätigte seine Eifersucht. Oft gab es danach Streit zwischen ihnen, in einem nannte er sie in seiner eifersüchtigen Hilflosigkeit eine „läufige Hündin“. Diese Bezeichnung hatte seine Mutter einer besonders dreisten Geliebten meines Vaters an den Kopf geworfen, als diese in der Einfahrt des Hauses auf seinen Vater wartete.
Diese Kränkung der „läufigen Hündin“ trug sie bis zu diesen zwei Wochen und darüber hinaus mit sich. Dafür gab es keine Entschuldigung. Das fühlte er. Diese Wunde würde nie vernarben.
Wie viele Wunden hatte er ihr in all den Jahren geschlagen?
Wie kann das Versprechen, keine Wunden mehr zu schlagen, ein zerschnittenes und nur mehr schwach schlagendes Herz beruhigen, das diesem Schwur so oft geglaubt hatte und immer enttäuscht wurde?
War nun der Punkt erreicht, an welchem das Herz zum Überleben fliehen musste vor seinen Beteuerungen, seinen Schwüren und seiner Sehnsucht?