XI

Vom Dom läuteten wie jeden Tag die Glocken um sieben Uhr morgens, als sie an diesem Freitag – wie immer an einem Freitag, nachdem sie nicht mit ihm gemeinsam im Schlafzimmer sondern im Wohnzimmer geschlafen hatte – , in die Bäckerei Hart ging, um zu frühstücken und die Zeitung zu lesen. Sie würde sich einen Cafe Latte und ein dunkles Gebäck bestellen, das sie dann mit Butter bestrichen verzehrte.
Er hatte in der Nacht davor bis drei Uhr früh wach gelegen.
Trotz seiner tröstlichen Absicht, ihr noch eine Chance zu geben, waren seine Gedanken wie in einem außer Kontrolle geratenen Karroussel gekreist.
Bin ich es, der Chancen vergibt? Das hatte er sich schon öfter gefragt.
Er hatte sie wie beinahe immer an solchen Tagen gehört, als sie ein zwei Minuten vor Sieben das Haus verließ, wie immer die Zeitung, die allmorgendlich vom Zeitungsausträger in den dafür vorgesehenen Zeitungshalter gesteckt worden war, auf den Stuhl im Vorzimmer legte und dann die Wohnungstüre vorsichtig versperrte.
Er wusste, als er die Glocken der Stadpfarrkirche hörte, dass sie in diesem Augenblick über den Domplatz in Richtung Bäckerei ging, die am anderen Ende des Platzes lag. Er hörte ihre Schritte auf dem Kopfsteinpflaster und sah ihre blonden Haare, die dabei im Rhythmus ihrer Schritte auf und niederwippten.
Meist stand er mit dem Siebenuhrläuten des Doms auf.
Als sie an diesem Freitag – dem ersten in den zwei Wochen – das Haus verlassen hatte, war er ebenfalls aufgestanden und fand in der Küche, in die er zuerst ging, um den Kaffee in der Espressomaschine zuzustellen, auf dem in der Mitte des Raumes stehenden Herd wie üblich, den Einkaufszettel liegen. An Freitagen, an denen er nicht an seinem Arbeitsplatz anwesend ein musste, sondern zu Hause an seinem Computer arbeitete, ging er nach neun Uhr, nachdem die Putzfrau eingetroffen war und ihre Arbeit begonnen hatte, am Bauernmarkt am Hauptplatz und in einen nahe gelegenen Supermarkt für das Wochenende einkaufen. Sie hatte neben den benötigten Lebensmitteln, die schon am Vortag fixiert worden waren, ganz unten dazugeschrieben: „Putzerei (bringen)“. Neben dem Herd stand auf dem Küchenstuhl ein Papiersack mit dem weißen Rock, den er in die Putzerei bringen sollte. Es war üblich, dass er diese Besorgung für sie erledigte, denn sie arbeitete meist bis achtzehn Uhr und die Putzerei schloss um siebzehn Uhr. Um ihren einzigen freien Nachmittag in der Woche nicht mit diesem Umweg in die Altstadt – dort lag die naheste Putzerei, nachdem die ums Eck am Domplatz geschlossen hatte – zu belasten, hatte er diese Besorgung übernommen, wobei es immer nur um ihre Bekleidung ging, da seine Kleidungsstücke in der Regel gewaschen werden und nicht in die chemische Reinigung mussten.
Aber an diesem Freitag „danach“ schoss ihm nur ein Gedanke durch den Kopf. Mit jener Viertelstunde, den dieser Umweg ihr an freier Zeit brachte, hatte er ihre Treffen mit ihm finanziert. Eine abgrundtiefe und verzweifelte Wut packte ihn, doch er wollte ruhig bleiben – im Kampf mit seinen widerstreitenden Gedanken atmete er schwer. Er lief ins Schlafzimmer und zog sich in Windeseile an, um sie noch in der Bäckerei, wo sie frühstückte, zu erreichen. Es war kalt draußen und der kühle Wind beruhigte ihn ein wenig.
Was sollte er sagen?
Wie sollte er es sagen?
Wie sollte er diese gefühlte Erniedrigung in Worte fassen?
Er betrat die Bäckerei, erwiderte knapp den Gruß der Verkäuferin, und fand die Gesuchte zeitungslesend im Raum neben dem Verkaufslokal, das mit zahlreichen Devotionalien aus der Kaiserzeit geschmückt war, da der Besitzer der k.k. Hofbäckerei Hart gelegentlich seine Freizeit in einem Erinnerungsregiment an die Kaiserzeit verbrachte. „Guten Morgen! Du hast etwas vergessen!“ Er überreichte ihr den Papiersack mit dem weißen Rock für die Putzerei. Sie war offensichtlich so konsterniert, dass sie ihn automatisch ergriff. „Ach ja!“ war ihre knappe Antwort. Er ging ohne ein weiteres Wort. Er wusste, sie würde ihm deshalb heute nach der Arbeit eine stille Szene machen – kaum mit Worten, ihre Blicke genügten, um jeden Dialog zu ersticken.
Ihr Blick hatte sich in den letzten Jahren radikalisiert. Dieser Blick kannte kein Lachen, sondern nur mehr Spott und Ironie. Wie gedemütigt fand er sich, wenn sie wieder dieses Lächeln aufsetzte: „Ach rede nur, glaub, was du denkst! Mir ist es egal!“
Ihre Augen, die früher so warm und herzlich dreinblicken konnten, waren in den letzten Jahren müde und glanzlos geworden. Zumindest dann, wenn sie ihn anschaute. In Gegenwart von anderen beobachtete er häufig, dass sie im Gespräch mit anderen wesentlich lebendiger wurden, wobei es auf die Vertrautheit ankam, die sie dieser Person gegenüber hatte.
Fremden gegenüber, denen sie zum ersten Mal begegnete, wirkte sie äußerst unsicher und unbeholfen. Sie brauchte sehr lange, bis sie ihre Scheu abgelegt hatte und in einem weniger aufgeregten Tonfall sprach.
Er selber kannte diese Unsicherheit auch aus eigener Erfahrung, denn er musste früh in seiner universitären Tätigkeit, nicht nur als Lehrender, sondern auch als Teilnehmer an Kongressen und Tagungen, vor vielen Menschen sprechen. In den ersten Jahren war auch er voll Nervosität und Unsicherheit, hatte diese Unsicherheit aber bald abgelegt, wobei er beinahe berüchtigt dafür war, dass er bei Vorträgen, die er besuchte, der erste im Publikum war, der eine Frage stellte. Auch heute noch fühlte er manchmal eine gewisse Erregung, wenn er als erster einen Kommentar zu einem Vortrag abgab.

Zuletzt bei einer Lesung einer Kurzgeschichte, die sie in einer regionalen Kulturzeitschrift verfasst hatte, konnte er diese Unsicherheit bei ihr wieder beobachten. Sie, die immer souverän und sicher auftreten wollte, wirkte äußerst angespannt und nervös, was zu einer gekünstelten Ausdrucksweise – sie hatte sich absichtlich vorher keine Gedanken darüber gemacht, wie sie ihre Lesung einleiten sollte, denn sie war doch so routiniert im Moderieren – führte.
Diese Unsicherheit in ihrem Blick wird er mehr als ein dreiviertel Jahr später wiederfinden, als sie gemeinsam mit ihrem Sohn an einem kühlen Sommersonntag einen Ausflug zu einer Landesausstellung machen werden. Dreimal sitzt er ihr an diesem Tag bei einem Kaffee oder Essen allein gegenüber, als der Sohn auf die Toilette gehen musste. Dreimal waren sie für wenige Minuten allein am Tisch und schwiegen. Er blickte sie dabei nur an und dieses wortlose, von ihm bewusst freundliche Anschauen genügte, um sie zu verunsichern, sie wieder Fremdheit spüren zu lassen. Er war ihr fremd geworden, sie konnte seine Gedanken nicht mehr lesen wie früher. Und das verunsicherte sie. Sie hatte die Kontrolle über seine Gedanken verloren.
Die Art und Weise zu reden unterschied sie nicht allzu sehr – beide führten ihre Dialoge häufig als Monolog, wenngleich sie es bei sich nicht so erlebte, sondern ihm diesen Vorwurf machte.
Auf Grund seiner Profession war er natürlich geübt, Erklärungen wortreich und auch ein wenig umständlich zu formulieren, sodass sie sich häufig im Gespräch eingeengt fühlte und seinen Monologen widerwillig und ungeduldig folgte.
Dabei setzte sie eben dieses Lächeln der Verachtung auf, das ihn so tief traf.
„Ich komme aus einer Lehrerfamilie und hasse diese Form des Redens,“ hatte sie ihm in den zwei Wochen gesagt.
In diesem Augenblick fühlte er sich – wie so oft in den letzten Jahren – missverstanden. Dieses Mal schwieg er einfach.
Er wusste seit langem von ihrer Aversion gegen diesen Gesprächsstil, denn sie hatte dabei immer das Gefühl, dass er sie in diesem Augenblick klein machte, dass sie wieder zum Kind erklärt wurde, das man belehren muss. So sehr er sich auch bemühte, andere Gesprächsformen zu wählen, zögerliche und schweigende, es war alles gleich: sie erklärte ihn zum Belehrenden.
Er litt auch daran, dass er in den Gesprächen häufig missverstanden wurde. Er begriff nicht, dass sie seine Diskussionen mit ihr über ihre Arbeitsverhältnisse, die oft in Monologen endeten, nicht als Unterstützung – dieses Wort konnte sie, wie sie mehrmals später lautstark verkündete, nicht mehr hören – und Hilfe erleben.
Eher empfand sie, dass er ihr auch noch in den Rücken falle.
Es lag wohl nicht an seinem Gesprächsstil, sondern an ihm.
Darum war er hilflos und flüchtete häufig in Schweigen.
Das wieder wurde als Missachtung und Trotz interpretiert – er reagiere wie ein kleines Kind. Ihre Traumata lagen offensichtlich in der Kindheit. Und diese waren mit Emotionen verknüpft, gegen die er nicht ankam.
Wie oft hatte er auch – viele Jahre vor den zwei Wochen – versucht, mit ihr in ein tieferes, öffnendes Gespräch zu kommen, ihr die Hand hinüber in ihre Kindheit zu reichen, indem er von seiner sprach, den Erlebnissen und den Kränkungen damals. Sie hörte manchmal wortlos zu. Er fühlte, sie verstand sein Angebot nicht. Wovor hatte sie Angst?
Er hatte in den letzten Jahren gelernt, dass es sinnlos war, gegen ihre Emotionen zu argumentieren. Wenn er es nicht schaffte, einfach zu schweigen, war der Streit programmiert. Er genoss diese seltenen Situationen, wenn er gegen seine Gefühle entschieden und geschwiegen hatte, und er litt darunter.
Er, der es gewohnt war, klar und deutlich zu sprechen, wurde dafür von ihr gehasst.