XXV Sprach.Los

Was nun folgte, war eine Schmierenkomödie sondergleichen. Erst Jahre später würde es ihm bewusst werden, dass sie in den letzten Wochen ihres „Beisammenseins“ ein Spiel mit ihm spielte, um ihm die Schuld zuschieben zu können, die Schuld am Scheitern ihrer Beziehung. Sie wollte ihn provozieren, doch er tat ihr nicht den Gefallen, denn er war noch immer blind für die Realität. Er tat alles, um sie zu halten, obwohl er wusste, dass es vergeblich sein würde. Es war ihm manchmal, als würde er über seine Clownmaske noch eine zweite oder dritte legen, noch mehr des Zirkusweiß auf sein Gesicht malen, Schicht über Schicht. Damit niemand sehen konnte, wie sehr ihn alles verletzte.

Wie immer war er zu früh am Flughafen, aber er war so ruhelos, dass er es in den eigenen vier Wänden nicht aushielt. Sie war noch in Frankfurt, als er am Flughafen Graz auf der neuen Aussichtsterasse stand. Er überlegt, wie er sie begrüßen sollte und einigte sich schließlich auf die Formel: Willkommen! Schön, dass du da bist. Das „wieder“ strich er, denn es betonte zu sehr das Verlassenwordensein. Sie war die erste, die von den Passagieren der Maschine durch die milchglasweiße Schiebetür kam. Ihrem Gesicht war nichts zu entnehmen. Sie begrüßte ihn französisch, was ihn so verwirrte, dass er zwar seinen eingeübten Satz aufsagte, dann aber nicht mehr weiterwusste. Auf dem Weg zum Wagen fragte sie, ob sie sich ein Hotelzimmer nehmen solle. Sie war in das Sie gewechselt und wird es auch in den nächsten Tagen beibehalten. Er stammelte etwas von einem Gästezimmer, dass es bei ihm gäbe. Für die erste Zeit. Welche erste Zeit? Sie spottete über das Navigationsgerät, dass er im Wagen montiert hatte. Sie fragte während des ersten Tages nach unzähligen Dingen, die ihr von früher natürlich vertraut waren, aber offensichtlich wollte sie wie ein Gast in sein Leben treten, der zum ersten Mal bei ihm war. Sie bezog sich dabei auf seine letzte SMS, die sie – wie sie später meinte – als einzige erreicht hatte: „Wenn Du von Deiner Reise zurückkommst, habe auch ich eine hinter mir, länger als Strasbourg und Wien zusammen. Sie ging durch die Hölle – es wird lange dauern, bis ich davon reden kann. Nur ein Teil von mir ist zurück, den schicke ich Dir zum Flughafen, jenen Teil aus dem September vor 33 Jahren. Begegne ihm wie damals offenen Herzens und gehe sorgsam mit ihm um, so zärtlich wie beim Abschied. Es ist der beste Teil von mir, einen anderen habe ich nicht.“
Schön während der Fahrt würde sie ihm eröffnen, dass sie in der letzten Nacht sehr schlecht geschlafen hätte, da sie eine Entscheidung zu treffen hatte. Und sie hatte sich entschieden. Beim Champagner, den er in ihrem Gästezimmer vorbereitet hatte, sagte sie, dass sie mit leeren Händen käme. Erst jetzt sah er, dass sie keine Ringe mehr trug, auch nicht den Ehering, den sie seit über 25 Jahren getragen hatte. Sie habe sich entschieden, den Mann, mit dem sie 33 Jahre zusammen war, zu verlassen. Er war sprachlos, fühlte in diesem Augenblick aber keine Tränen. Die hatte er gefühlt, als er sie in das Gästezimmer geführt hatte, und sie die Einrichtung und die Ausschmückung – er hatte in siebzehn Flaschen jeweils zwei Rosen im Raum verteilt, wobei die Zahl der 34 Rosen auf die vergangenen 33 Jahre und das 34. Bezug nahm – auf französisch „mignon“ und deutsch bewunderte. Sie suchte nach Worten und fand viele, genauso wie sie diese später im Gespräch mit ihrem Sohn am Telefon, der bei der Einrichtung mitgeholfen hatte, finden würde, allerdings das einzige, dass wirklich trefflich für diese Situation war, würde ihr nicht über die Lippen kommen, weder ihm gegenüber noch seinem Sohn. Er fühlte, dass sie das Wort sehr wohl in ihrem Verstand hatte, dass sie merkte, dass er auf dieses eine Wort wartete, allerdings kontrollierte wie immer ihr Verstand das, was sie wohl ein wenig in ihrem Herzen fühlte. Nein, das Wort durfte nicht gesprochen werden, denn es hätte ihm signalisiert, dass er damit doch an ihr Herz herankam, wie er es bei den Vorbereitungen so inständig gehofft hatte. Er wird, während sie das Zimmer verbal zu beschreiben versucht, kurz den Raum verlassen, um seine Tränen über ihre Unfähigkeit, Emotionen zuzulassen, niederzukämpfen. Aber dass sie dieses Wort nicht aussprach, sondern mit untauglichen Verstandesvokabeln zu umschreiben versuchte, erinnerte wieder geradewegs an jene Frau, an die er seit dem ersten Tag vor 33 Jahren herankommen wollte, es aber doch nie geschafft hatte. Und er wird sich in der kommenden Nacht, die auch lange schlaflos blieb, fragen, ob er dieses Mal – und er sah in ihrem Verhalten einen Versuch, ihm diese zweite Chance zu geben, die er in der SMS angesprochen hatte – ihr Herz wird berühren können. Liebevoll.
Sie war nach Strasbourg gefahren, um von ihm los zu kommen. Sie hat ihn mitgenommen und nur mehr einen Schatten zurückgelassen.
Er wird bei ihrer Rückkehr am Flughafen stehen, er wird die Lederjacke und den Hut tragen, den er damals vor Jahren für ihre Rückkehr aus Strasbourg erworben hatte, um etwas her zu machen. Er wird seine Existenz zurückfordern.
Und er zog am Tag ihrer Rückkehr ein Sakko an, das sie ihm vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte, er band eine Krawatte um, obwohl der das sonst nur für das Theater, ein Konzert oder einen Opernbesuch getan hatte. Beim Champagner teilte sie ihm mit, dass sie ihn verlasse. Wen wollte sie verlassen, fragte er sich. Sie konnte ihn gar nicht verlassen, denn er war in ihr drinnen.
Er würde warten müssen.
Beinahe ein Jahr nach ihrer Rückkehr werden sie sich zu einem „Jubiläum“ – war es der Vorabend des Tages, an dem sie ihn verlassen hatte – in einem Lokal treffen. Er wird wieder tage- und nächtelang die Worte überlegen, die er in ihrer Gegenwart verwenden konnte, um keine „falsche“ Reaktion bei ihr auszulösen. Er wird wissen, dass es immer die falschen Worte sein werden, denn es waren nicht seine Worte, die sie hörte, sondern es waren die, die sie von ihm erwartete, und diese waren immer falsch. Er hatte keine Worte und keine Sprache, um die Mauer der Abneigungen zu überwinden, die sie vor sich aufgebaut hatte. Nicht nur sie war ihm gegenüber sprachlos, sondern auch er.