VI

Ihr Leben sollte leicht sein, nicht so schwer wie seines. Immer, wenn er in den ersten Tagen dieser Zwei Wochen das Gespräch suchte und dabei Tränen in den Augen hatte, wurde sie darob wütend. „Bei dir ist alles so elendiglich schwer!“
Warum verschloss sie sich der immer wieder erlebten Realität, dass „einfach zu Leben“ nicht zu haben war, jenes Leben, das sie sich erträumt hatte. Träume, die zu Illusionen werden, sind ein stärkerer Ballast als die Erinnerung an Enttäuschungen.
Es war das Leben, wie es sich ein Teenager vorstellt, nicht wie es eine erwachsene Frau erleben könnte. Vielleicht war das der Zauber der ewigen Kindheit, der manchmal in ihrem Lächeln lag. Heute seltener als am Beginn. Dieses Kind hatte er auch noch an ihr erlebt, als sie eine reife Frau geworden war. Sie war erwachsen geworden und wollte doch ein Kind bleiben.
Ihm war es in vielen Dingen gelungen, ein Kind zu bleiben. Sie war absolut und ausschließlich erwachsen geworden, denn sie definierte sich über ihren Beruf, oder wie sie sagte, sie liebte ihre Arbeit über alles.
Er liebte Zeit seines Lebens das Spiel, auch die Arbeit war ihm immer mehr zum Spiel geworden. Wer das Spiel liebt, bleibt darin ein Kind, darf es zumindest in diesen Momenten wieder sein. Das hatte er auch seinem Sohn vermittelt.
Sie schüttelte innerlich den Kopf, wenn die beiden Männer – ihr Sohn war zu ihrem Bedauern auch ein Mann geworden – auch jetzt noch mit Stofftieren sprachen und einander damit auch ihre Zuneigung ausdrückten. Sie hatte ihrem Sohn aus Kalkül früh eine Puppe geschenkt, eine mit Schlafaugen, eine, wie sie sie damals als Kind bekommen hatte. Die Puppe liegt heute noch unberührt – jungfräulich? – in einem Kinderwägelchen bei anderem Spielzeug in einem Abstellraum. Es funktioniert nur mehr ein Auge, aber das war eher ein Produktionsfehler als Folge des Spiels mit ihr. Die Puppe fand nie den Weg in das Bett der Männer. Wollte sie mit der Puppe ihre Kindheit in ihm fortsetzen? Sie wählte Geschenke mit Bedacht, verlieh den Gegenständen Bedeutung. Welche Bedeutung hatte diese Puppe?
Auch im Schenken hatte sie versagt.
Das Leben fällt nicht in den Schoß, sondern will erkämpft sein. Auch gegen sich selber, gegen das Faulbett der nachgetragenen Liebe. Hatte er es ihr auch zu leicht gemacht? Von Anfang an?
Warum war sie immer zu ihm zurückgekehrt, trotz immer schwächer werdender Liebe. Warum hatte sie sich jetzt doch wieder für ihn entschieden, auch wenn ihr Begehren tot und die Gefühle für ihn zerstört waren? Für ihn, den sie für all ihr Unglück verantwortlich machte, für das, was ihr widerfahren war und das, das noch auf sie wartete.
Auch als sie seinen Ring ablegte und den Mann verließ, den sie dreiunddreißig Jahre begleitet hatte, blieb sie bei ihm, wenn auch als Gast. Wenn sie ihn doch nicht mehr liebte.
So sehr er auch jetzt noch an eine gemeinsame Zukunft glaubte, so sehr er aus ihrem bloßen Hiersein immer wieder Hoffnung schöpfte, so sehr schmerzte ihn die bei ihr erlebte Desillusionierung, die sie nichts mehr erwarten ließ. Sie begann erst jetzt, ihre Illusionen zu zerstören, das, woran sie bisher geglaubt hatte. In ihren Augen lag in diesen Tagen soviel Müdigkeit, dass er ihr wieder seine Schulter zum Ausruhen geboten hätte, wenn sie es gewollt hätte.
Er erlebte es, als ob sie in einem tiefen, dunklen See versänke und er mit ihr.
Schweigen kann schmerzen.
Warum schrie sie nicht um ihr Leben, warum bettelte sie nie um Liebe?
Warum öffnete sie nicht ihren Schmerz. Schrie ihren Schmerz hinaus. Er hätte ihn gehört.
Warum waren es stets nur Wut und Zorn?
Früher hatte sie noch weinen können, wenn er sie verletzt hatte. Jetzt verletzte er sie nicht mehr, denn er könne sie nicht verletzen. Trotzig schleuderte sie ihm diesen ihren Triumph entgegen.
Er hatte in den ersten Tagen nach der Entdeckung niemanden, mit dem er darüber sprechen konnte. Der gemeinsame Sohn, der während ein paar Tagen in ihre zwei Wochen eingedrungen war, bemerkte die Stimmung, die ihm aus den letzten Jahren vertraut war, die er flüchtete, da er mit beiden litt.
Wie weh tat es ihr, dass sie in den letzten Jahren immer mehr erkennen musste, dass sich ihr Sohn, den sie doch auch gewollt hatte und über alles liebte, immer weiter von ihr entfernte. Sie hatte ihm doch niemals weh getan, ihn vor seinem manchmal all zu strengen Vater geschützt.
Manchmal hatte er in der Kindheit des Sohnes das Gefühl, dass sie versuchte, das Kind seinem Vater zu entfremden. Es tat ihm weh, denn er liebte seinen Sohn inniglich. Und er liebte sie. Sie warf ihm Eifersucht vor und bemühte sich noch mehr, das Kind an sich zu binden. Er hatte ihrem Werben nichts entgegenzusetzen, vor allem, da er das Kind nicht als Unterpfand ihrer verlöschenden Liebe missbrauchen wollte. Er kämpfte nicht um das Kind, denn er fühlte, dass es ihn trotz seiner allzu oft seelisch schmerzhaften und auch verletzenden Erziehung liebte. Sie sah nie, dass die manchmal für sie so offensichtlichen Demütigungen des Kindes auch stets die Entschuldigung und Versöhnung zur Folge hatten.
Auch er litt unter den Verletzungen seines Sohnes – auch er erhielt Schläge, die sie nicht sah, und auch er musste lernen, mit diesen umzugehen. Sie sah nicht die realen und gefühlten Umarmungen, die die beiden aneinander banden. Die beiden lebten wohl jene symbiotische Beziehung, die sie so sehr ersehnte und an die sie in manchen Augenblicken mit ihrem Sohn auch geglaubt hatte.
Sie glaubte manchmal, jetzt zu besitzen, für immer zu besitzen.
Sie wusste nicht, dass er die Radausflüge, die sie mit dem Sohn unternahmen, bewusst nicht durch seine Begleitung stören wollte. Er hätte sie mit dem Auto begleiten können, hätte ihr Quartiermacher sein können.
Er konnte warten.
Sie erlebte jede dieser Verletzungen des Kindes durch ihn als ihren Triumph. Innerlich fühlte sie sich in solchen Situationen ihrem Sohn so nahe wie noch nie einem Menschen zuvor.
Wie glücklich war sie damals gewesen, als sie sah, dass er eher ihr nachgeriet als dem Vater. Wie stolz war sie auf alles was er tat, zuletzt auf sein erfolgreich verlaufendes Studium.
Warum hatte sie ihn dennoch verloren? Sie suchte nach rationalen Erklärungen – wie immer. Als sie nach Strasbourg gegangen war, lebten die beiden Männer beinahe ein Jahr zusammen, haben gemeinsam die Wohnung seiner Eltern in Wien – seine Mutter war schon lange tot, der Vater im Vorjahr gestorben – für die erste Studienzeit vorbereitet. Er hatte sich dabei einen Bandscheibenvorfall beim Versiegeln des Fußbodens zugezogen. Dafür liebt man seinen Vater. War es in dieser Zeit geschehen? Als er ihr einmal erzählte, dass sich ihr Sohn vor Jahren, als sie nach Strasbourg gegangen war, zum einsamen, weinenden Vater ans Bett gesetzt und ihn wortlos aber inniglich getröstet hatte, empfand sie nur Zynismus. „Wie schön für Dich!“
Hass, Zorn und Wut brauchen keinen Trost.
Besonders nach der Zeit in Strasbourg schmerzte es sie, wenn sie die Vertrautheit der Gespräche der beiden Männer fühlte – sie hatten so viele gemeinsame Themen. Welche Themen hatte sie mit ihm?
Nicht die bedingungslose Liebe band die beiden Männer aneinander, sondern der Kampf, der erlebte Schmerz, die gegenseitigen Verletzungen, die Versöhnungen, das aus Enttäuschungen wieder erstandene Vertrauen.
Einmal warf sie ihm vor, dass sie doch nichts von ihrem Sohn wüsste. Er fühlte, wie weh es ihr tat. Sein Trost half nichts. Seine Worte erreichten sie nicht, denn sie lebte in einem Schneckenhaus oder der Vorstellung davon, das keine Verletzungen zuließ, in das man jederzeit flüchten konnte.
Wie viele Jahre hatte sie schon dieses Schneckenhaus nicht mehr verlassen? Am Beginn ihrer Beziehung hatte er ihre Verschlossenheit – wieder diese Symbolik eines Namens: ihr Name bedeutete aber nicht nur „Verschlossene“ sondern auch „Hinkende“; war es ihr Schicksal, in ihrem Leben immer nur zu versuchen, ihre Behinderung zu überspielen, statt sich dem gebotenen Arm – sein Name symbolisiert den wehrhaften Krieger, aber auch den Beschützer – anzuvertrauen – zwar gespürt, doch in seiner grenzenlosen Naivität und auch Stärke hatte er geglaubt, irgendwann ihren mit der Zeit noch gewachsenen Panzer durchbrechen zu können.
Für ihn war es Liebe, sich dem anderen ohne Schutz und Waffen auszuliefern, auch wenn man dann verletzlich war, sogar dann, wenn man wusste, dass man verletzt werden würde.
Sie nannte das schlicht Masochismus.
Warum hatte sie aus dem Kampf mit ihm in den ersten Jahren ihrer Beziehung nicht die Bedingungslosigkeit der Liebe kennen gelernt? Kann Liebe denn Schmerz und Kampf sein, nicht Bitten sondern Fordern, nicht sich Hingeben sondern Nehmen, nicht Zärtlichkeit sondern Gewalt, nicht Streicheln sondern auch Schlagen. Fühlte sie nie, dass wenn er sie an den Händen, an den Schultern, am Kopf packte und sie zwang, sich ihm zu stellen, aus ihr nicht ein Kind machte – so bezeichnete es sie -, sondern dass er sie damit aufforderte, Stellung zu beziehen, sich dem Leben zu stellen.
Das war doch nicht das Leben, das Lieben, das sie erträumte.
Das sie seit Anbeginn ihres Lebens erträumt hatte und als ein Licht vor sich hertrug.
Ein Licht, das längst verloschen war.
Illusion.