Kategorie: Allgemein

  • XX

    In diesen zwei Wochen wird er sich fragen, warum er sie nie betrogen hat. Gab es keine Gelegenheit? Das, was sie ihm manchmal als Rigidität vorgeworfen hatte, war in wohlwollender Weise als Treue zu interpretieren. In Krisenzeiten – und die gab es früh, lange vor ihrer Hochzeit und auch danach – begann er manchmal zu träumen. Bevor er an ihrer Seite einschlief, versuchte er sich dann vorzustellen, wie es wäre, wenn er seine erste Liebe oder seine erste Partnerin wiederträfe. Er stellte sich ein schüchternes Abtasten vor – auf einer Parkbank, in einem Cafe – , ein langes Erzählen der eigenen Schicksale „seither“ und einer sich daran anschließenden Liebesnacht, die voller Zärtlichkeit aber ohne vollzogenen Geschlechtsakt blieb. Denn er war treu.
    Treu bis zur Selbstaufgabe.
    Sogar in seinen Träumen.
    Später, als sie in Strasbourg war, lernte er in der Straßenbahn eine neu eingestellte Universitätsbedienstete kennen – sie hätte seine Tochter sein können. Sie hatte sich einige Male in der Straßenbahn gesehen, auf dem selben Weg zur Straßenbahn einander überholt. Eines Tages lächelte man mit einem Gesicht des Erkennens. Er hatte sie nie angesprochen, obwohl er es gerne getan hätte.
    Soviel gestand er sich zu.
    Sie war – wie er später erfuhr – die Nachfolgerin einer in Pension gegangenen Bediensteten, mit der er als EDV-Beauftragter der Abteilung häufig Kontakt gehabt hatte. Er war erstaunt, die „schöne Unbekannte“ – sie hatte hüftlanges rotblondes Haar, das beim Fahrradfahren wie eine Flamme hinter ihr leuchtete – statt der Kollegin zu anzutreffen. Sie lachten und fanden es einen schönen Zufall. Das „schön“ dachte er hinzu. Sie konnten gut miteinander reden, denn sie war offen und fühlte wohl, dass man sich einem Psychologen anvertrauen konnte. Sie hatte eine Trennung eben hinter sich gebracht und lebte mit ihrem Sohn allein, wobei dieser zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens große Lernprobleme hatte. Darüber haben sie dann dem Weg zur Universität einige Male gesprochen. Sein berufliches Spezialgebiet war Lern- und Unterrichtspsychologie. Er gab ihr gute Tipps für ihren Sohn mit und freute sich, wenn diese Erfolge zeitigten. Er hatte den Sohn einige Male in der Straßenbahn – wenn er etwas zu spät dran war, fuhr er mit ihr – kurz kennengelernt, fand allerdings keinen Kontakt zu ihm. Er suchte ihn auch nicht.
    Sie war es, die ihm später, als er seine Radikalkur zur Gewichtsreduktion machte, den Tipp gab, wie sie manchmal die letzten drei Stationen zur Universität zu Fuß zu gehen. Das machte er auch bis zu den zwei Wochen und wird es auch darüber hinaus tun.
    Später fuhr sie mit dem Fahrrad, hier gab es keine Treffpunkte mehr und sie blieb nur manchmal stehen, wenn sie einander schon nahe der Uni begegneten. Sie stieg ab und schob dann das Rad neben ihm her. Da die beiden dabei einige Male von einer Sekretärin beobachtet worden waren, wurde das Gerücht ausgestreut, dass er in sie verliebt wäre. Er lächelte und schwieg, als er davon hörte. Und es geschah, dass er es sich durchaus vorstellen könnte. Sie plauderten über Filme, die sie gesehen hatten. Als seine Frau in Wien arbeitete, hatte er einmal kurz überlegt, sie ins Kino einzuladen. Sie trug den selben Namen wie sie, was für ein Verhältnis wohl praktisch gewesen wäre. Bei ihren Gesprächen ertappte er sich immer häufiger, dass er nur von seiner Frau sprach und sie sagte, er könne stolz darauf sein, was diese täte. Als seine Frau später nach Wien ging – trafen sie sich auf Grund verschiedener Arbeitsrhythmen nur mehr selten und zufällig – war diese Kollegin dafür verantwortlich, dass er die Trennung auch als positiv erleben konnte. Von dieser Kollegin kopierte er aus dem Internet ihr Foto, druckte es aus und steckte es in das Geheimfach seiner Brieftasche. Er hoffte, seine Frau würde es vielleicht eines Tages zufällig entdecken und eifersüchtig werden … Wer nicht liebt, kann auch nicht eifersüchtig werden. Auch nach den zwei Wochen wird dieses Bild – inzwischen zerrissen und zerfleddert – noch immer in seiner Brieftasche stecken. Die beiden Frauen trafen sogar einmal bei einem Fest im Murpark aufeinander – er stellte die beiden einander vor und die Frauen redeten miteinander. Er konnte sich in diesem Augenblick vorstellen, dass sie Freundinnen hätten sein können. Allerdings mochte sie keine Frauen mit Kindern, denn die hätte nach ihrer Erfahrung nur ein Thema.
    Er erzählte seiner Frau nachher, wie er diese Kollegin kennengelernt hatte. Er spürte keinen Funken Eifersucht bei ihr. Er war darüber traurig, denn er glaubte daran, dass Liebe auch Eifersucht bedingen muss. Oder war er enttäuscht, dass sie ihm keine so junge attraktive Beziehung zutraute? War sein Stolz verletzt. Nach den zwei Wochen fand er diese Episode nur mehr lächerlich.

  • XXI

    Wir hatten nur ein Leben,
    es war zu kurz für alles,
    was wir von ihm erwarteten.
    Waltraud Anna Mitgutsch: Wenn du wiederkommst

    Das Dilemma ihrer Beziehung bestand darin, dessen wurde er sich nach den zwei Wochen bewusst, dass er sich zusehends auf sie allein fixiert hatte, während sie immer Aktivitäten und Freundschaften nebenher pflegte. Sie besuchte verschiedene Sprachkurse und entwickelte in diesem Kontext über Jahre hin Kontakte, während er nach anfänglicher unsinniger Eifersucht darauf es allmählich akzeptierte.
    Auch Männer werden klüger.
    Ihre Auslandstätigkeit war teilweise damit zu begründen, dass sie in ihrem Leben noch einmal einen Kick wollte. Dass es doch nicht alles gewesen sein konnte, einen Mann zu heiraten, ein Kind großzuziehen und dann bis zur Pensionierung oder bis zum Tod business as usual zu betreiben. Das hatte er erst begriffen, als sie aus Wien zurückkam und in das ungeliebte System Graz zurückkehrte. Nur als er versuchte, diese späte Erkenntnis in Bezug auf ihre Beziehung auch zu leben – und das war es, was ihn besonders verbitterte – übernahm eine andere Beziehung dieses Thema. Vermutlich hatte sie auf Grund der früheren Erfahrungen mit einer Rückkehr kein Vertrauen mehr in ihn. Rückblickend wurde ihm bewusst, dass alles, was er damals getan hatte, einen Neuanfang zu suchen, von ihr einfach ignoriert worden war. Sie liebte ihn nicht mehr und warum sollte sie von jemandem, den sie nicht liebte, Hilfe erwarten. Eher erlebte sie seine Versuche, sie wieder aufzunehmen, als Klammern, das sie verabscheute. Sie merkte sehr wohl, dass er in der Zeit ihrer Abwesenheit wenig dazu gelernt hatte, denn er blieb weiter allein auf sie fokussiert und das nahm ihr den Atem, den sie zum Leben brauchte. Warum hatte er nicht in der Zwischenzeit so wie sie Beziehungen aufgebaut?
    Ein einziges Mal hatte er in Form eines Zeichenseminars an der Volkshochschule Aktivitäten außerhalb ihrer Beziehung gesucht, wobei dies eher aus Trotz wegen ihrer Auslandstätigkeit geschah und weniger, weil er ein Bedürfnis danach hatte. Er hatte immer schon gezeichnet, aber das Gebiet der Portrait- und Aktzeichnung konnte er nicht aus Büchern lernen. Schließlich war sein einziges Motiv, diese Kurse zu besuchen, ein so guter Porträtist zu werden, um sie zu zeichnen. Auch hier manifestierte sich letztlich wieder die alte Fokussierung auf sie. Als er sie einige Male in Streitgesprächen an beiden Händen festhielt, schrie sie ihn an, dass sie sich nicht wie ein Kind behandeln ließe, das man festhalten muss, um es zu belehren. In diesen zwei Wochen begriff er allmählich, dass man sie nicht festhalten konnte, weder körperlich noch psychisch. Er wusste zwar, dass sie Freiraum brauchte – das wusste er von Anfang an, hatte aber immer Angst, dass in diesem Freiraum etwas Besseres auf sie wartet als er -, hatte aber zuwenig Vertrauen in ihre Liebe. Hier landete er bei dem anderen Dilemma, dass er nie sicher sein konnte, dass sie ihn liebte. Er wusste zwar, dass ihre Liebe zu ihm längst erloschen war – er konnte sich in den zwei Wochen nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal diese Worte gebraucht hatte -, hoffte aber immer noch, dass sie es doch irgendwann einmal sagen würde. Nach den zwei Wochen wird er über seine Naivität lachen.
    Es verbitterte ihn, dass er den Zeitpunkt übersehen hatte, als ihre Liebe weniger wurde, als sie schließlich zu Ende war. Warum hatte sie ihm kein Zeichen gegeben, warum hat sie ihn nie darum gebeten, ihr zu helfen, wieder Liebe oder zumindest Gefühle zu entwickeln. Warum hatte sie nie …
    Was hatte er getan, um das Erlöschen ihrer Gefühle zu verhindern? Irgendwann hatte sie aufgehört, nach seinen Verletzungen zu weinen. War das der Zeitpunkt gewesen?
    In ihrer Frauentrilogie hatte sie die drei Formen der Magie beschworen: Erscheinen – Verwandeln – Verschwinden. Diese drei prägten ihr eigenes Leben, bevor sie ihn kennengelernt hatte. Er wusste nie exakt – sie ließ ihn stets im Ungewissen – wie viele intime Männerbeziehungen sie vor ihm gehabt hatte. Wollte er es wissen? Einige hatte sie ihm nicht verschwiegen, sodass er schätzte, dass es an die zehn bis zwanzig gewesen sein mussten. Eine Zahl, die ihn, der er so lange gewartet hatte, in seiner verklemmten Sexualität erschreckte. Er war am Beginn ihres Beisammenseins immer wieder eifersüchtig auf diese vergangenen Beziehungen, er quälte sie damit. Was er von ihnen wusste, war, dass immer sie die Beziehungen beendet hatte, dass sie einfach aus den Beziehungen verschwand. Und vor diesem Verschwinden hatte er unendliche Angst. Er baute um sie einen Käfig aus Beteuerungen, Beschwörungen und Drohungen – er hätte zwar schon aus Selbstzweifeln heraus nie im Leben Selbstmord begangen, setzte aber diese Drohung immer wieder erfolgreich als Druckmittel ein, da sie Suizid zumindest für möglich hielt. Dass es ihm schließlich gelungen war, sie dreiunddreißig Jahre an sich zu binden und sie am Verschwinden zu hindern, hätte ihm doch schon lange zuvor Ruhe und Gelassenheit vermitteln können. Dass es ihm nicht gelang, lag an einer seltsamen Disparität zwischen ihren individuellen Geschwindigkeiten, wie sie sich einander gegenüber verhielten. Zwar verbreitete sie in beruflichen und manchen privaten Aktivitäten rastlose Hektik, Sprunghaftigkeit und Perfektionismus, ihm gegenüber aber, wenn es etwa darum ging, etwas zu berichten, war sie quälend bedächtig und langsam. Es dauerte sehr lange, bis er sich darauf einigermaßen einstellen konnte, allerdings gelang es ihm nie wirklich, sich ihrer Geschwindigkeit in einer konkreten Situation anzupassen. Wenn sie beisammen waren, erfasste ihn oft eine quälende Ungeduld, wenn sie wieder einmal ausholte, etwas im Detail zu erzählen. Zwar warf sie ihm immer wieder einen dozierenden und abschweifenden Gesprächsstil vor, ihrer war aber vergleichsweise ähnlich. Der Unterschied lag in der Reaktion: während sie geduldig seine Sermone über sich ergehen ließ, unterbrach er sie in seiner Ungeduld, sodass sie wohl zu Recht dachte, er wollte schon wieder den Gesprächsfaden an sich reißen. Seine Ungeduld hatte teilweise die Wurzeln in seiner Unsicherheit und seiner Befürchtung, etwas zu versäumen, etwas für ihn Wichtiges im Gespräch dann zu vergessen. Wahrscheinlich hätte er sich – so wie er es im wissenschaftlichen Diskurs kannte, einen Stift und einen Zettel nehmen sollen, um seine Einwürfe festzuhalten. Wie lächerlich.
    Seine Ungeduld ließ ihn zu einem Ablaufperfektionisten werden, der alle Routinetätigkeiten immer wieder danach abklopfte, ob sie nicht noch schneller und rationeller erledigt werden konnten. So optimierte er auch Abläufe, die die Hektik aus seinem Erleben hätten nehmen können, etwa Duschen oder das Zubereiten des Frühstücks. Aus dieser sich allmählich entwickelten Disparität entstanden zahlreiche Situationen, die in beiden Unzufriedenheit auslöste: da er das Frühstück immer schneller zubereitete, war sie noch lange nicht im Bad mit ihrer Morgentoilette fertig, sodass sie sich bedrängt fühlte, wenn er schon ins Bad kam und sie gerade erst den Slip angezogen hatte. Andererseits erlebte er ihre Langsamkeit als Trödeln und Verlust gemeinsamer Zeit. In den zwei Wochen wurde ihm bewusst, dass er sich an sie komplementär angepasst hatte, möglicherweise aus einem inneren Widerstand heraus. In ihrer alltäglichen Betriebsamkeit ähnelte sie ihrer Mutter, während die Langsamkeit im direkten Kontakt von ihrem Vater herrührte, der minutenlang damit beschäftigt war, ein Butterbrot so zu schmieren, dass der Aufstrich überall bis an den Rand gleichmäßig war. Er genoss es auch, dass man ihn bei Tisch dabei beobachtete, wie er hernach genüsslich das Brot in exakt gleich breite Schnitten zerteilte, wobei er mit dem Belag hernach etwa in gleicher Weise verfuhr. Die Langsamkeit ihres Essens war allerdings für ihn kein allzu großes Problem, eher schon für die Kellner in Restaurants, die immer wieder unverrichteter Dinge abziehen mussten, wenn sie das nächste Gericht bringen wollten – erst in den letzten Jahren vor den zwei Wochen, wie er sie nach dem Abschluss der eigenen Nahrungsaufnahme beobachtete – oder wie sie es empfand – anstarrte. Dabei liebte er ihre Art zu essen, ein Stück Fleisch mit Messer und Gabel so zu sezieren, dass keine Flachse oder kein Häutchen mehr daran war. Manchmal klagte sie über die schließlich kalt gewordenen Speisen. Teller hatten bei ihr vorgewärmt zu werden.
    Zwar hatte er sich in den letzten Jahren bemüht, sich dem Tempo ihres Essens anzupassen, gelungen war es ihm nur in den seltensten Fällen, am ehesten, wenn sie nur eine Vorspeise bestellt hatte. Können solche Differenzen im Rhythmus eine Beziehung zerstören?
    Oder war das Erleben des angestarrt werden nur eine Folge ihrer Trennung gewesen, denn sie hatte ihm immer wieder berichtet, wie schön es war, alleine in ihrer Wohnung für sich ein Essen zu bereiten. War es nach dem Studium, in dem sie alleine gewohnt hatte, das erste Mal wieder, dass sie für sich selber sorgte, dass sie es wieder erlebte, sich selber etwas zuzubereiten, sich selber etwas zu vergönnen und allein mit sich selber zu genießen?
    Diese Frage stellte er sich wiederholt nach den zwei Wochen, denn sein Perfektionismus war ihm durchaus nicht in die Wiege gelegt worden, sondern eine Reaktion auf ihren Anpassungsdruck, den sie vor allem in den ersten Jahren ausgeübt hatte. Er war im Grunde genommen eher schlampig und oberflächlich, etwa was die Haushaltsführung anging. Der Putzfimmel seiner Mutter, die täglich den Staub auf allen Möbelstücken aufwirbelte, damit sie ihn am nächsten Tag abermals aufwirbeln konnte, da er sich in Zwischenzeit wieder als matter Schleier auf alles gelegt hatte, was glänzen konnte.
    Sie bestand von Anbeginn darauf, dass überall Ordnung herrschen müsse. Der wöchentliche Putztag war vom Beginn ihres Zusammenlebens an ein Wettlauf gegen die Zeit: wer hat schneller seinen Part erledigt. Ihre erste kleine Wohnung in Graz, die sie relativ verwahrlost übernommen hatten, blitzte bei ihrem Weggehen vor Sauberkeit. Vermutlich stellte sich bei ihr erst dann eine gewisse Nachlässigkeit ein, als sie eine Putzfrau beschäftigten. Wenn etwas nicht sauber war, dann war jemand anderer daran schuld und man konnte es der Putzfrau beim nächsten Mal nahe legen, einmal auch die Türrahmen gründlich zu putzen. In der Zeit, in der sie in Strasbourg und in Wien war, beschäftigte er zwar auch eine Putzfrau, übertrug den Perfektionismus aber auf seine alltäglichen Abläufe. Wenn er sich eine Abendessen kochte, dann setzte er sich erst dann zu Tisch oder zum Fernsehapparat, wenn das Kochgeschirr und die weiteren verwendeten Küchenutensilien schon abgewaschen waren. Er bedauerte manchmal, dass er den Teller, von dem er aß, nicht auch vor dem Essen abwaschen konnte. Er bevorzugte in der Folge Pfannengerichte, die er direkt aus der Pfanne aß.


    Das meiste auf der Welt geht nicht durch Gebrauch kaputt, sondern durch Putzen.
    Erich Kästner

  • XXII

    In der Zeit in der sie auf Freundinnenbesuch in ihrem geliebten Strasbourg ist – nach den zwei Wochen und nach einer Woche, in der es ihm schien, es könnte funktionieren, aber es war wie immer schicksalhaft schiefgelaufen – da hatte er versprochen, nicht zu telefonieren und keinen Kontakt zu ihr zu suchen. Er soll zu sich selber finden. Endlich. Die Zeit für sich nützen. Er wird ihr jeden Tag eine SMS schicken, in denen nur Positives steht. Seine erste wird die Sonne Strasbourgs beschwören, die ihr Herz erwärmen sollte. Sie sollte ein wenig dieser Wärme für die Zukunft mitnehmen. Wird sie seine SMS unter denen erkennen, die der andere ihr schreibt? Wollte er in Konkurrenz zu ihm treten, die schöneren Botschaften schicken? Er wusste, dass sie am Tag vor der Abreise wieder Kontakt zu ihm aufgenommen hatte. Es war ihm bewusst, dass er durch sein Verhalten sie beinahe dazu gezwungen hatte. Warum zerstörte er das, was ihm am wichtigsten in seinem Leben war? Er lief am Sonntagmorgen wie ein Besessener durch die Wohnung, um wenigstens irgendetwas zu tun.
    Schon am Tag vor ihrer Abreise hatte er abends die Flucht vor sich versucht, ist einfach durch die Stadt gelaufen, an den Menschen vorbei, die nicht seine Tränen sahen und seine Leere. Erscheinen, verwandeln, verschwinden. Er war in ihrem Leben erschienen, hatte sich an ihr verwandelt und nicht bemerkt, dass er sich selber verloren hat. Er brauchte nicht zu verschwinden, denn es gab ihn nicht mehr. Hier erkannte er nüchtern eine Parallelität der Entwicklungen: in dem Ausmaß, in dem sie ihre Liebe zu ihm verlor, war er verschwunden. Er hatte sich ihr zu sehr ausgeliefert, war nicht mehr er selbst gewesen sondern nur mehr ein Geschöpf ihrer Phantasie. Er nahm sich selber nur mehr durch sie wahr, als der Ausbund des Bösen, der Zerstörer, der Masochist.
    Wenn sie nicht da war, wie sollte er flüchten? Es stellte sich nicht die Frage nach dem Wohin, sondern die Frage: Wer?
    Wer war er? Wer war er gewesen? Wer hatte er sein wollen?
    Wie hatte er sich ihr gegenüber nach der Entdeckung ihres Betruges beschrieben? Er hatte sie gefragt: „Weißt du, wie Hunde ausschauen, die von einem Auto überfahren werden?“ „Ja, da kann man nicht hinschauen!“ „Nun, ich bin jetzt von einem Laster mit seinen Zwillingsreifen überfahren worden!“ Sie nahm es als Übertreibung wie alles, was er tat. Er übertrieb maßlos. Wie oft hatte sie über seine Schätzungen ironische Bemerkungen gemacht. Wahrscheinlich dachte sie, es war höchstens ein Radfahrer, der dich gestreift hat.
    Er stellte sich diese Fragen ohne Bitterkeit. Es war geschehen und konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Wie alles geschehen war, wie es geschehen musste. Er wird in der Woche, während sie fort ist, jeden Abend durch die Straßen laufen, in Bars teilnahmslos einen Drink nehmen, dann in das leere Heim zurückkehren.
    Am zweiten Tag wird er denselben Weg nehmen wie am vorigen, wird nur die Differenzen beachten. Ein Kind, das in einem Hausflur von der Mutter geschlagen wird, der Mond über der Hauptstraße, der kaum an Kraft gewonnen hat– der Vollmond wird einen Tag vorüber sein, wenn sie zurückkehrt. Auf dem Hauptplatz sitzt ein alter Mann mit Hut und Brille auf der metallenen Bank vor dem Kaufhaus und starrt teilnahmslos vor sich hin. Er wird nach einer Runde in eine andere Bar gehen, in den ersten Stock, wird zuerst Wasser lassen und wird sich an der Bar bei der Kellnerin ein Bier bestellen, das er langsam austrinkt. Er wird den schwulen Kellner beobachten, der auch bei der Arbeit seine Homosexualität nicht verbirgt. Er wird im Spiegel das Paar neben sich beobachten, das sich rasch näher kommt und sich schließlich küsst, wenn er das Bier fast leergetrunken hat. Und als er in den Spiegel schaut, um sich zu entdecken, wird er sich nicht finden. Der Platz ist leer, er sieht nur das Bild, das hinter ihm hängt. Die Kellnerin sieht ihn zumindest so deutlich, dass er zahlen will und wünscht ein schönes Wochenende. Er verkneift sich eine zynische Bemerkung. Als er an der Bank vor dem Kaufhaus vorbeigeht, ist diese leer. Er setzt er sich an den Platz, an dem der alte Mann gesessen war. Die Menschen gehen vorüber und beachten ihn nicht. Irgendwann, wenn die Kälte langsam von unten aufsteigt, wird er aufstehen und nach Hause gehen. Nach Hause? Sein Zuhause war sie. Und er hat keine Tränen, dass es für ihn kein Zuhause gibt. Keine Bitterkeit, nur Leere.
    Warum hatte er sich so an sie gekettet, sich selbst nur mehr durch sie definiert?
    Hatte sie es von ihm gefordert? Nein.
    Hatte sie es zugelassen? Nein.
    Hatte sie es je bemerkt? Nein.
    Warum kamen alle Versuche zu spät, dieses Ertrinken in ihr, diese Auflösung seiner Existenz in ein Geschöpf, das allein in ihrem Kopf vorhanden war, zu verhindern? Als sie nach Strasbourg fuhr, war er längst verloren. War es nicht das, was er immer ersehnt hatte? Aufzugehen in einem anderen, der alle Macht über ihn hatte, der über ihn verfügen konnte, der entschied, ob und wie er leben durfte? Nach den zwei Wochen hatte sie diese Macht endgültig erreicht. Hatte sie wohl schon lange besessen. Sie nahm ihn gar nicht mehr wahr, sondern sie kommunizierte nur noch mit dem Bild, das sie sich von ihm erschaffen hatte. Dieses Bild konnte sich nie verändern, denn er hatte keinen Einfluss auf ihre Wahrnehmung, die eine Kommunikation mit sich selber darstellte. Er hatte keine Chance, so sehr er sich bemühte, so sehr er darum kämpfte.
    Er konnte nun nicht einmal mehr vor sich selber fliehen, da sie ihn in ihrem Kopf mitgenommen hatte. Seine Existenz war allein in ihren zürnenden, fordernden Blicken, in ihrer Zurückweisung. Er war vollkommen aufgegangen in ihr, sie hatte ihn aufgesaugt, war eine Symbiose mit ihr eingegangen.
    Er wird an jenem Tag, an dem sie für gewöhnlich im Wohnzimmer schlief, ein altes Post-It nehmen, das sie ihm vor nicht allzu langer Zeit hinterlassen hatte, und es im Vorzimmer an die Tür zum WC heften. In der für sie schwungvollen Schrift stand darauf lapidar: „Einen guten Morgen! C. PS: Das Klo fließt nicht ab!“ Damals hatte er eine halbe Stunde mit bloßen Händen in ihrer Scheiße gewühlt, um den Abfluss wieder frei zu bekommen. Aber das tat ein telefonisch herbeigerufenes Unternehmen zu Abflussreinigung wohl auch.
    Die erste Nacht ohne sie war eine Qual – es war die Hilflosigkeit, zu der er verurteilt war. Nichts tun zu können, um seine Situation zu verändern. Einfach nur abwarten zu können, warten, bis etwas geschieht. Bis sie etwas tut. Es konnte nicht soviel Hausarbeit geben, um die Leere zu füllen. Die Fixierung auf sie hatte solche Ausmaße angenommen, dass er nicht einmal mehr einen Zeitungsartikel lesen konnte, ohne irgendwelche absurden Bezüge zu ihr herzustellen.
    Noch nie in seinem Leben hatte er eine solche Abhängigkeit seines Körpers von seinen Gedanken gefühlt – seine Hände begannen immer wieder zu zittern, das Herz begann zu rasen, der Klumpen im Hals ließ ihn kaum atmen. Auch Tränen brachten ihm keine Erleichterung, denn sie versiegten, da er leergeweint war.
    Sein Sohn, der am Vortag nach Freistadt zu ihren Eltern gefahren war, hatte ihm beim Abschied angeboten, ihn auch mit dem Auto zu holen, wenn er nachkommen wollte. Am Sonntag Morgen rief er in Freistadt an und bat seinen Sohn, ihn zu holen, denn die Decke fiele ihm auf den Kopf.
    Plötzlich wusste er, warum es dieses Mal so anders war – es war die absolute Hoffnungslosigkeit. Es war das Ende. Er war tot, auch wenn er noch atmete.
    Auch wenn sie zurückkehrte, seine Liebe war zu Ende. Der Traum war ausgeträumt. Die Illusion zerplatzte in all ihrer Phrasenhaftigkeit.
    Er wird ins Bad gehen, duschen, rasieren. Dann wird er auf seinen Sohn warten.

  • XXIII

    In der Zeit in Strasbourg rief er sie kein einziges Mal an – das hatte er versprochen und das würde er halten. Täglich eine SMS hatte er sich zugestanden, in der er nur ein Lebenszeichen geben wollte, da ihr Blick beim Abschied auch ein wenig Angst verspüren ließ, die sie um ihn hatte. Und diese Angst war berechtigt. Zum ersten Mal in seinem Leben wäre ihm der Tod nicht schrecklich erschienen, wäre er eine denkbare Lösung gewesen. Früher hatte er oft mit dem Selbstmord gedroht – eine seiner Stiche in ihr Herz, die in ihrer Beziehung tiefe Wunden hinterließen – und hatte das mit allem rationalen Kalkül eingesetzt. Er hasste sich jetzt dafür und flehte innerlich um die Chance, dieses zerstochene Herz, das nicht mehr für ihn schlug, in seine Hände zu nehmen und es streicheln zu können. Diese Chance musste sie ihm einfach geben. Gerade jetzt, wo sie zum ersten Mal das Messer in sein Herz gebohrt hatte – er erschrak über die Banalität seiner Metaphern -, sollte sie dieses eine Wort sprechen, um das er flehte: Verzeih. Er würde ihr verzeihen, das wusste er und er würde versuchen, ihren Betrug zu verstehen, der für ihr Überleben notwendig war. Was war jetzt für sein Überleben notwendig?
    In den schlaflosen Nächten der Strasbourg-Zeit, in denen er nicht aus ihrer Gegenwart einen winzigen Funken Hoffnung schöpfen konnte, bemerkte er seine Fixierung auf ihn. Sie verschwand in diesen Tagen aus seinen Gedanken und er fokussierte auf ihn, den Empfänger der Brieflein. Wieviele Brieflein hat sie ihm bis jetzt schon aus Strasbourg gesandt. Wieviele er an sie? Wollte er mit seinen zu ihm in Konkurrenz treten? Ein SMS-Wettkampf um ihr Herz?
    Der Kampf um sie war einem Kampf gegen ihn gewichen, der einem Kampf gegen ein Phantom glich. Das Phantom sollte endlich ein Gesicht bekommen. An diesem Tag fand er auf Grund der Telefonnummer – diese hatte er früher schon öfter auf dem Display des Festnetztelefons gesehen, aber immer war die Verbindung nach dem Abheben unterbrochen worden – eine sehr gesprächige Mitarbeiterin. Er hatte zwar schon einmal die Hauptnummer dieses Telefonnetzwerkes angerufen und vom Chef persönlich Auskunft über das Aufgabengebiet erhalten, aber er hatte das nicht weiter verfolgt. Jetzt hatte er einen Firmennamen, nach einem Blick in das Firmenbuch den Namen eines Gesellschafters, den er kannte – eine Jugendliebe seiner Frau. Er überprüfte zwar alle Namensträger in Österreich, hatte aber zuvor seine Schwiegermutter angerufen und sie nach dem Namen gefragt. Von ihr erhielt er neben anderen Informationen auch einen Wohnort in der Nähe von Graz. Ein Anruf bei der Frau des Betreffenden bestätigte die Konnektion des Namensträgers mit dieser Firma, aus deren Telefonnetzwerk der Anruf an sie gekommen war. Er begründete seinen Anruf nicht, sondern legte nach der Verifizierung einfach auf. Sollte er sich an sie wenden? Sollte er einfach sagen: Ihr Mann betrügt sie mit meiner Frau. Davor schreckte er zurück. Sollte er in deren Beziehung genauso eindringen wie er in seine?
    Das Phantom der schlaflosen Nacht bekam für ihn nun nicht nur ein Gesicht und eine Geschichte, die schon lange vor seiner Zeit in ihrer Kindheit als Schwarm begonnen hatte – ob es ihre erste Liebe war? –, sondern auch ein tragisches Schicksal, das ihn einen Sohn bei einer Herztransplantation verlieren ließ – dunkel erinnerte er sich daran, dass sie ihm damals als Psychologin beigestanden war – hatte sie es ihm erzählt oder hatte er es von jemand anderem erfahren? Und diese Beziehung war wohl niemals ganz abgerissen. Er begann, ein gewisses Verständnis für den anderen zu entwickeln, nicht dass er ihn nun gemocht hätte, aber es regte sich in ihm so etwas wie Mitleid mit ihr. Er wusste, dass eine erste Liebe immer eine erste Liebe bleibt. Er verstand nun auch, warum sie dieses Wort, mit dem er ihn bedacht hatte, so verletzt hatte. Diese erste Liebe kann man dem anderen niemals wegnehmen, also auch nicht den Menschen, dem sie zugeeignet war. Man kann danach nur versuchen, eine reifere Liebe zu entwickeln, eine, die nicht bloß auf Hormonen basiert, der ersten Sehnsucht oder der ersten Gelegenheit. Es gab in seinem Leben mit ihr einige Momente, in denen er sicher war, dass ihre Liebe stärker war. Diese Momente lagen lange zurück. Doch jetzt, nachdem er wieder unter solchen Umständen einen Blick in ihre Seele getan hatte, fühlte er erneut, dass seine Liebe stärker sein wird. Ihm war auch klar, dass sie einen Schritt auf ihn zugehen musste, denn es war ein Bruch des Vertrauens. Vielleicht konnte diese Zeit jene Öffnung in ihr ermöglichen, die ihr bisher nie möglich gewesen war. Er begann wie in den ersten Tagen nach der Entdeckung Gedichte zu schreiben, in denen er diese Hoffnung beschwor, in denen er sich selber Mut machte.
    Um nicht passiv die Tristesse über sich ergehen zu lassen, begann er mit seinem Sohn das schon einmal versprochene Zimmer in der Wohnung für sie einzurichten, in denen sie vor ihm geschützt war. Diesen Rückzugsraum würde er respektieren, dessen war er sich sicher. Er wusste, dass sie für ihn da sein würde, wenn er sie brauchte. Was brauchte er denn? Er wollte sein Leben zurück, das er so ausschließlich auf sie ausgerichtet hatte. Nur mit einem eigenen Leben sah er eine Chance, sie wieder zu erreichen.
    Ihm wurde klar, dass einer der Gründe, warum ihre Liebe zu ihm erloschen war, wohl auch darin begründet lag, dass er einfach aufgehört hatte, als eigenständiges Lebewesen zu existieren. Irgendwann war er nur mehr ein Geschöpf, das allein von ihren Launen und Vorstellungen abhing, das nichts Eigenständiges mehr hatte. Es war ein Klon in ihrem Gehirn, äußerlich identisch, nur während er bloß mehr die Hülle darstellte, war diese in ihrem Kopf gefüllt mit all dem Schmutz, der sich in einem langen gemeinsamen Leben angesammmelt hatte. Sie hatte irgendwann aufgehört, ihn wahrzunehmen.
    Er ließ ein Türschild anfertigen, auf dem er ihren Mädchennamen eingravieren ließ und darunter die Berufsbezeichnung Schriftstellerin. Dieses würde er an der Wohnzimmertür – dieser Raum war der größte, den er ihr überlassen wollte – anbringen und als eine Art Garconniere wie ihre Wiener Wohnung damals einrichten, mit einem Schlafbereich, einem Wohnbereich und einem Arbeitsbereich als Autorin. Es waren zwar die alten Möbel, aber er würde die Bilder aufhängen, die sie in der Wiener Wohnung hängen hatte und so für sie einen Bereich schaffen, in dem sie auf Distanz zu ihm leben konnte. Zum ersten Mal in seinem Leben verstand er, dass in ihr solch ein unermesslicher Drang nach Unabhängigkeit vorhanden war, immer schon vorhanden gewesen war, dass ihm allmählich dämmerte, was es für sie bedeutet hatte, sich in die Fesseln einer Beziehung und Ehe zu begeben.
    Wie sehr musste sie ihn geliebt haben.
    Mehr, so sagte er sich, könne er nicht tun, um ihren Drang nach Unabhängigkeit zu erfüllen, ohne seine eigene Existenz zu zerstören, die zu diesem Zeitpunkt in diesem ihrem Raum mit ihr leben würde. Er würde versuchen, in den nächsten Monaten von ihr nach und nach sich selber zurück zu fordern.
    Er würde diese Wohnung mit Blumen schmücken und sie nach ihrer Rückkehr bitten, sich von ihm mit geschlossenen Augen zu der Zimmertür führen zu lassen. Wenn er damit nicht an ihr Herz herankomme, dann wäre alles zu Ende. Das fühlte er mit aller Angst, sodass der Gedanke eines „zu spät“ sein Herz immer wieder rasen ließ.
    War die Wärme der Umarmung beim Abschied nicht ein Unterpfand für das „Versuchen wir’s“? Hatte sie in Strasbourg nicht auf Distanz wieder einen Blick auf das dennoch Mögliche geworfen?
    Es nicht zu wissen, ließ ihn ruhelos umherwandern.
    Nach der Strasbourgvisite war in Graz das alljährlich sich wiederholende Feuerwerk an der Mur, das sie früher häufig gemeinsam am Fenster im Wohnzimmer, von welchem aus sie ein großes Stück des Himmels sehen konnten, beobachtet hatten. Er erinnerte sich, dass sie sich früher sehr oft an ihn, der er schon am Fenster stand, anschmiegte, die körperliche Nähe suchte. Immer wieder hatte er diese Nähe als Beengung empfunden, die ihm den Atem nahm, ohne zu wissen warum. Was bedrohte sie damals? Wie musste es sie verletzt haben, dass er sie in diesen Augenblicken zurückwies, dass er sich von ihr löste, einen Schritt zum anderen Fenster machte. Nun stand sie am Fenster und er trat hinter sie, ohne sie zu berühren. Einige Male beugte er sich vor und sog den Duft ihres Haares ein, in dem noch ein Hauch ihres Parfums hing. Wie liebte er dieses Haar. Auch wenn er sie nicht berührte, fühlte sie seine Nähe und jetzt war sie es, die ans andere Fenster trat. Er wagte nicht, ihr zu folgen. Nach dem Feuerwerk saß er lange in seinem Arbeitszimmer und versank in ein gedankenloses Nachfühlen, in dem er den versäumten Momenten nachspürte, in welchen sie ihm ihre Liebe gezeigt hatte. Wie sehr schmerzte es ihn, dass er ihre Liebe damals nicht an sich herangelassen hatte.
    Da war doch die Antwort auf all seine Fragen.
    Sie hatte ihn unendlich geliebt.
    Als sie ihm vor dem Schlafengehen eine gute Nacht wünschte und ihn seit langem – wenn auch bewusst, da er sie darum gebeten hatte; welch ein Zeichen! – mit dem Vornamen ansprach, bat er sie um Verzeihung für die früheren Zurückweisungen, denn erst jetzt erkenne er, wie groß ihre Liebe damals gewesen sein musste. Das wäre alles Vergangenheit, das wäre vorbei, war ihre Antwort. Und er suchte in ihrem Blick eine Spur der Trauer, er fand aber nur Müdigkeit und Enttäuschung.
    Er wird sie am nächsten Tag noch einmal darauf ansprechen. Er wird sie beschwören, dass eine einmal gefühlte Liebe für immer bestehen bleibt, dass es nur Hindernisse sind, die das Leben im Laufe der Zeit davorgeschoben hat, dass aber solche Momente der Liebe eingebrannt bleiben wie all die Wunden der Verletzungen. Dass es aber keine Waage gäbe, die versäumte Liebe gegen die Schmerzen abzuwägen, dass es kein Nullsummenspiel sei, bei dem sich Einsatz und Gewinn aufheben. Liebe ist kein Spiel und kein rationales Kalkül, das sich in Zahlen bemessen lasse. Liebe sei immer maßlos. Er glaube fest daran, dass auch in ihm diese Augenblicke bis heute fortleben, nur verschüttet seien unter Lieblosigkeiten und Enttäuschungen. Liebe selber aber sei unzerstörbar. Warum sonst wäre gestern die Erinnerung in beiden so mächtig gewesen, kraftvoll und brennend wie damals, als er ihre Liebe zurückgewiesen hatte? Er könne die Zeit nicht zurückdrehen, aber er könne heute ihre Liebe von damals spüren, er hätte sie all die Jahre in sich aufbewahrt und ihr zurückgeben. Er glaube daran, dass sie nur bereit sein müsse, die ihr gestohlenen Gefühle zurückzunehmen. Nicht um ihn erneut zu lieben, sondern um sich jenes Leben zurückzuholen, das er ihr in seinem Unverstand genommen hatte.
    Wie sehr musste sie ihn geliebt haben.

  • XXIV Privat.Sphäre

    Aber am nächsten Tag – er hatte zum ersten Mal einigermaßen gut geschlafen, drei oder vier Stunden vielleicht – wurde das Gesicht des Nebenbuhlers wieder zur Fratze. Wie bei der Entdeckung des Betruges spielte auch hier der Zufall eine Rolle. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen, als er im Internet Näheres über die Aktivitäten der Firma, in der der andere Geschäftsführer und Teilhaber war, herausfand. In einer Pressemitteilung – über ihn war übrigens im Internet nichts Persönliches zu finden, sondern ausschließlich Geschäftliches – hieß es nach seinen Worten unter anderem: „RiSK communications setzt neue Maßstäbe beim Schutz der elektronischen Kommunikation von Unternehmen. Immer mehr sehen sich Unternehmen damit konfrontiert, neben Viren und Spam, die über die E-Mail Kommunikation den Computer infizieren, auch web-basierenden Gefahren annähernd machtlos gegenüber zu stehen. Die Zahl von Spyware, also Spionage-Applikationen, die es auf die Aufzeichnung und Weitergabe vertraulicher Internetaktivitäten abgesehen haben, steigt laufend an. Viren und Schadprogramme, die über die Internetnutzung der Mitarbeiter ins unternehmensinterne Netzwerk gelangen, werden von Hackern immer ausgeklügelter programmiert. “ Und der wichtigste Kooperationspartner dieser Firma war MessageLabs, weltweit führender Anbieter von Managed E-Mail Security Services. Mit der von dieser Firma verwendeten proaktiven Technologie Skeptic™ werden durch minutiöses Scannen des gesamten E-Mail-Verkehrs Gefahren erkannt und eliminiert.
    Vor einigen Wochen hatte es an ihrem Laptop, der im heimischen Funk-Netzwerk hing, ein Problem gegeben: sie konnte eine Email an ihre Büroadresse nicht abschicken. Als er versuchte, ihr zu helfen, gelang es ihm ebenfalls nicht auf Anhieb. Dabei war alles korrekt konfiguriert und auch aus dem Quellcode der Email konnte er nicht entnehmen, warum sich der Laptop weigerte, diese Mail abzuschicken. Diese Email war allerdings nicht auf dem Laptop geschrieben worden, sondern eine Antwort auf eine Mail, die sie sich selber vom Büro aus gesandt hatte. Offensichtlich – und das war seine Vermutung – lag es daran, dass in dieser Mail irgendetwas enthalten war, was ihr Laptop oder ihr gesichertes Heimnetzwerk nicht verarbeiten wollte. Da er über eine recht lange Erfahrung im EDV-Bereich verfügte, prüfte er schließlich auch die Mailports – das sind die wenigen freigegebenen Kanäle, über die ein Rechner mit der Welt kommuniziert -, über die an einem Laptop Emails versendet werden. Hier fand er seltsamerweise einen Port aktiviert, der eigentlich nicht üblich ist. Als er diesen Zugang mit einem Klick schloss, ließ sich diese Mail problemlos verschicken. Ihm ließ dieses seltsame Verhalten allerdings keine Ruhe, denn es wurmte ihn, dass sein Netzwerk offensichtlich Probleme machte. Hinzu kam, dass sie ihm auch noch misstrauisch unterstellte, an ihrem Laptop in ihrer Abwesenheit etwas manipuliert zu haben.
    Oft sind diese Probleme nur der Anfang von wesentlich gravierenderen Störungen. Er sandte diese Mail daher als Kopie auch an sich selber. Im Büro an der Universität kopierte er diese Email und suchte im Rechenzentrum einen guten Bekannten auf, mit dem er als Netzwerkspezialist schon häufig zu tun hatte. Diesem übergab er die Email mit der Bitte, sie zu prüfen. An diesem Tag meldete sich der EDV-Spezialist bei ihm – der den Vorfall schon beinahe wieder vergessen hatte. So etwas Raffiniertes wäre ihm bisher in seiner Laufbahn noch nicht untergekommen. Er hatte zuerst auf eine Fehlkonfiguration des Laptops oder einen der üblichen Viren getippt, entdeckte aber schließlich einen winzigen Anhang an der Mail, die seiner Meinung nach eindeutig Teil eines Trojaners war, der über die Originalmail verschickt werden sollte. Diese Anhang an die Email war das Ergebnis einer Spyware, die offensichtlich auf ihrem Bürorechner installiert war. Aufgabe dieses Anhanges war es, alle Emails, die von diesem Rechner verschickt werden, auch an eine nicht direkt eruierbare andere Adresse zu verschicken, die allerdings nur indirekt erkennbar war, da sie mit einem sehr hohen Sicherheitsstandard, den er hier mit seinen bescheidenen Mitteln eines universitären Rechenzentrums nicht knacken könne, verschlüsselt war. Ein Teil der Adresse war nach seiner Meinung nur auf ihrem Bürorechner gespeichert, sodass sich beim Zurückschicken dieser Email auf ihrem Laptop im häuslichen Netzwerk genau das Problem ergab, dass dieser Teil nicht vorhanden war. Daher die Weigerung der Konfiguration, die Mail abzuschicken. Seinen Einwand, dass sie schon häufig Emails als Antwort auf Büromails vom Laptop abgesendet hätte, entkräfigte der EDV-Spezialist damit, dass bei dieser Email irgendetwas schiefgelaufen sein musste. Normalerweise löscht sich Spyware von selber, sodass keine Spuren davon zurückbleiben, auf Grund derer man diese Aktivität bemerken könne. In diesem Fall war entweder beim Abschicken oder beim Empfangen der Email ein technisches Problem aufgetreten, sodass sich diese Spyware nicht vollständig löschen konnte. Auf seine Frage, was das bedeute, war die Antwort des Spezialisten ernüchternd: Irgendjemand hatte – es musste jemand sein, der einen Zugang zu hochspezialisiertem EDV-Knowhow, vermutlich aus den USA besaß – vermittels einer Email oder noch wahrscheinlicher, als Anhang an eine Text-Datei, auf ihrem Bürorechner ein Programm installiert, dass ihm alle ihre privaten Mails als Kopie ins Haus flattern. Vermutlich würden auch eintreffende Emails an ihn weitergeleitet, denn im Prinzip hatte die Spyware wohl die Aufgabe, ihr Postfach jeweils aktuell zu scannen und weiter zu leiten. Er solle sich doch an die Diskussion in Deutschland erinnern, in der es dem Verfassungsschutz erlaubt sein sollte, solche Software gegen Terroristen einzusetzen. Das wäre nun genau so ein Programm und er bewundere dieses bis zu einem gewissen Grad, denn es lässt sich vermutlich nicht einmal von Experten nachweisen. Hier hatte der Zufall einer unvollständigen Übertragung oder Ausführung der Spyware – vermutlich im Nanosekundenbereich – für die Entdeckung gesorgt.
    War alles, das ihre Beziehung nun zerstörte, auch nur Zufall?
    Sie hatte ihm einmal in einer Auseinandersetzung an den Kopf geworfen, wie sehr der andere sie – im Gegensatz zu ihm – verstünde. Nun wurde ihm auf einmal deutlich, woher dieses Verstehen gekommen war. Wenn der andere sich mit ihr traf, wenn sie miteinander am Telefon sprachen, wusste er genau, was sie gerade mit ihrem Mann oder auch anderen Menschen via Email ausgetauscht hatte. Er erinnerte sich daran, dass er vor mehr als einem Jahr aber auch noch später sehr intime Fragen in Emails mit ihr ausgetauscht hatte, etwa seine Probleme mit ihrem Verhalten, mit seiner Sexualität oder auch die Eingeständnisse von eigenen Fehlern. Der heimliche Empfänger der Nachrichten konnte sich dann in den Gesprächen mit ihr sehr gut auf alles einstellen, was sie hören wollte. Brauchte sie Trost, dann konnte er sie gezielt trösten, wollte sie einfach nur abschalten, dann konnte er auf ihre Stimmung perfekt eingehen. Der andere hatte es mit Hilfe modernster Informationstechnologie geschafft, einen Zugang zu ihr zu finden, der ihr das Gefühl vermittelte, hier wäre jemand, der mich wirklich versteht. Jemand, der weiß, was ich gerade durchlebe, was ich eben gedacht oder mit einem anderen besprochen habe. Er war immer schon da. Vielleicht war sie manchmal sogar erstaunt, wie perfekt es „ihm“ gelang, auf sie einzugehen und schrieb das wohl seiner tiefen Zuneigung zu.
    Er selber hatte keine Spyware.
    Nur ein Herz, das ihres nicht berühren konnte.

  • XXV Sprach.Los

    Was nun folgte, war eine Schmierenkomödie sondergleichen. Erst Jahre später würde es ihm bewusst werden, dass sie in den letzten Wochen ihres „Beisammenseins“ ein Spiel mit ihm spielte, um ihm die Schuld zuschieben zu können, die Schuld am Scheitern ihrer Beziehung. Sie wollte ihn provozieren, doch er tat ihr nicht den Gefallen, denn er war noch immer blind für die Realität. Er tat alles, um sie zu halten, obwohl er wusste, dass es vergeblich sein würde. Es war ihm manchmal, als würde er über seine Clownmaske noch eine zweite oder dritte legen, noch mehr des Zirkusweiß auf sein Gesicht malen, Schicht über Schicht. Damit niemand sehen konnte, wie sehr ihn alles verletzte.

    Wie immer war er zu früh am Flughafen, aber er war so ruhelos, dass er es in den eigenen vier Wänden nicht aushielt. Sie war noch in Frankfurt, als er am Flughafen Graz auf der neuen Aussichtsterasse stand. Er überlegt, wie er sie begrüßen sollte und einigte sich schließlich auf die Formel: Willkommen! Schön, dass du da bist. Das „wieder“ strich er, denn es betonte zu sehr das Verlassenwordensein. Sie war die erste, die von den Passagieren der Maschine durch die milchglasweiße Schiebetür kam. Ihrem Gesicht war nichts zu entnehmen. Sie begrüßte ihn französisch, was ihn so verwirrte, dass er zwar seinen eingeübten Satz aufsagte, dann aber nicht mehr weiterwusste. Auf dem Weg zum Wagen fragte sie, ob sie sich ein Hotelzimmer nehmen solle. Sie war in das Sie gewechselt und wird es auch in den nächsten Tagen beibehalten. Er stammelte etwas von einem Gästezimmer, dass es bei ihm gäbe. Für die erste Zeit. Welche erste Zeit? Sie spottete über das Navigationsgerät, dass er im Wagen montiert hatte. Sie fragte während des ersten Tages nach unzähligen Dingen, die ihr von früher natürlich vertraut waren, aber offensichtlich wollte sie wie ein Gast in sein Leben treten, der zum ersten Mal bei ihm war. Sie bezog sich dabei auf seine letzte SMS, die sie – wie sie später meinte – als einzige erreicht hatte: „Wenn Du von Deiner Reise zurückkommst, habe auch ich eine hinter mir, länger als Strasbourg und Wien zusammen. Sie ging durch die Hölle – es wird lange dauern, bis ich davon reden kann. Nur ein Teil von mir ist zurück, den schicke ich Dir zum Flughafen, jenen Teil aus dem September vor 33 Jahren. Begegne ihm wie damals offenen Herzens und gehe sorgsam mit ihm um, so zärtlich wie beim Abschied. Es ist der beste Teil von mir, einen anderen habe ich nicht.“
    Schön während der Fahrt würde sie ihm eröffnen, dass sie in der letzten Nacht sehr schlecht geschlafen hätte, da sie eine Entscheidung zu treffen hatte. Und sie hatte sich entschieden. Beim Champagner, den er in ihrem Gästezimmer vorbereitet hatte, sagte sie, dass sie mit leeren Händen käme. Erst jetzt sah er, dass sie keine Ringe mehr trug, auch nicht den Ehering, den sie seit über 25 Jahren getragen hatte. Sie habe sich entschieden, den Mann, mit dem sie 33 Jahre zusammen war, zu verlassen. Er war sprachlos, fühlte in diesem Augenblick aber keine Tränen. Die hatte er gefühlt, als er sie in das Gästezimmer geführt hatte, und sie die Einrichtung und die Ausschmückung – er hatte in siebzehn Flaschen jeweils zwei Rosen im Raum verteilt, wobei die Zahl der 34 Rosen auf die vergangenen 33 Jahre und das 34. Bezug nahm – auf französisch „mignon“ und deutsch bewunderte. Sie suchte nach Worten und fand viele, genauso wie sie diese später im Gespräch mit ihrem Sohn am Telefon, der bei der Einrichtung mitgeholfen hatte, finden würde, allerdings das einzige, dass wirklich trefflich für diese Situation war, würde ihr nicht über die Lippen kommen, weder ihm gegenüber noch seinem Sohn. Er fühlte, dass sie das Wort sehr wohl in ihrem Verstand hatte, dass sie merkte, dass er auf dieses eine Wort wartete, allerdings kontrollierte wie immer ihr Verstand das, was sie wohl ein wenig in ihrem Herzen fühlte. Nein, das Wort durfte nicht gesprochen werden, denn es hätte ihm signalisiert, dass er damit doch an ihr Herz herankam, wie er es bei den Vorbereitungen so inständig gehofft hatte. Er wird, während sie das Zimmer verbal zu beschreiben versucht, kurz den Raum verlassen, um seine Tränen über ihre Unfähigkeit, Emotionen zuzulassen, niederzukämpfen. Aber dass sie dieses Wort nicht aussprach, sondern mit untauglichen Verstandesvokabeln zu umschreiben versuchte, erinnerte wieder geradewegs an jene Frau, an die er seit dem ersten Tag vor 33 Jahren herankommen wollte, es aber doch nie geschafft hatte. Und er wird sich in der kommenden Nacht, die auch lange schlaflos blieb, fragen, ob er dieses Mal – und er sah in ihrem Verhalten einen Versuch, ihm diese zweite Chance zu geben, die er in der SMS angesprochen hatte – ihr Herz wird berühren können. Liebevoll.
    Sie war nach Strasbourg gefahren, um von ihm los zu kommen. Sie hat ihn mitgenommen und nur mehr einen Schatten zurückgelassen.
    Er wird bei ihrer Rückkehr am Flughafen stehen, er wird die Lederjacke und den Hut tragen, den er damals vor Jahren für ihre Rückkehr aus Strasbourg erworben hatte, um etwas her zu machen. Er wird seine Existenz zurückfordern.
    Und er zog am Tag ihrer Rückkehr ein Sakko an, das sie ihm vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte, er band eine Krawatte um, obwohl der das sonst nur für das Theater, ein Konzert oder einen Opernbesuch getan hatte. Beim Champagner teilte sie ihm mit, dass sie ihn verlasse. Wen wollte sie verlassen, fragte er sich. Sie konnte ihn gar nicht verlassen, denn er war in ihr drinnen.
    Er würde warten müssen.
    Beinahe ein Jahr nach ihrer Rückkehr werden sie sich zu einem „Jubiläum“ – war es der Vorabend des Tages, an dem sie ihn verlassen hatte – in einem Lokal treffen. Er wird wieder tage- und nächtelang die Worte überlegen, die er in ihrer Gegenwart verwenden konnte, um keine „falsche“ Reaktion bei ihr auszulösen. Er wird wissen, dass es immer die falschen Worte sein werden, denn es waren nicht seine Worte, die sie hörte, sondern es waren die, die sie von ihm erwartete, und diese waren immer falsch. Er hatte keine Worte und keine Sprache, um die Mauer der Abneigungen zu überwinden, die sie vor sich aufgebaut hatte. Nicht nur sie war ihm gegenüber sprachlos, sondern auch er.

  • XXVI Aus.Sprache

    Sie werden sich, nachdem sie sich abermals ins Kloster geflüchtet hat – Auslöser ein Missverständnis oder eine Lappalie wie immer – keiner wird es später genau wissen -, zu einem ersten Gespräch nach ihrer SMS „Ich habe endlich den Mut, dich zu verlassen. Ich werde alleine leben. Bitte respektiere das. C.“ und seiner Antwort, sich zu treffen, um mit Anstand auseinander zugehen, in einem Lokal namens Agathon zusammenkommen und zwei grässliche, fette Hauptspeisen essen, die zur Qualität ihres Gespräches passten.
    Das Zustandekommen dieses Treffen war typisch für ihre Beziehung, denn er hatte ihr angeboten, dass sie nach dem ersten Tag im Kloster und dem Besuch ihrer Eltern in Spitz ins Gästezimmer zurückkommen und danach über die Trennung gesprochen werden sollte, doch sie hatte schon bis zum Ende der Woche im Kloster reserviert, jedoch am Telefon zugesagt, dass sie nach dieser Woche in ihre gemeinsame Wohnung ins Gästezimmer käme.
    Am Tag davor teilte sie ihm in einer SMS mit, dass sie doch im Kloster bleiben könne und sie sich allein in dem besagten Lokal Agathon treffen könnten, um zu reden.
    Er hatte in dieser Woche eine Psychotherapie bei einer erfahrenen Therapeutin begonnen und auch in einem Arbeitskollegen einen unerwarteten Freund entdeckt, der ihm in stundenlangen Gesprächen hilfreich zur Seite stand. Und in dieser Woche hatte er sich darauf vorbereitet, mit ihr einige Tage einfach nur zu leben, um von dem quälenden Erregungslevel herunterzukommen und nach dieser Zeit behutsam an die Trennung heranzugehen. Daher war diese abrupte Absage ein Schlag in sein von der Therapeutin und ihm selber mühsam aufgebauten Selbstbewusstsein, mit ihr in Ruhe über die Trennung zu sprechen, sodass er nach dieser SMS zusammenbrach – wie damals, als er vom anderen erfahren hatte und den Boden unter den Füßen verlor.
    Seinem Freund gelang es in langen Gesprächen abermals, einige positive Aspekte dieser neuen Situation zu finden. Eine für beide unbekannte Umgebung sei doch ein Zeichen für einen Neubeginn, ein Zeichen, nicht wieder im alten Fahrwasser aufeinander zuprallen. Er wollte also trotz der Absage der zeitweiligen Rückkehr positiv gestimmt hingehen. Er wollte – der Name Agathon bedeutet in der Aristotelischen Ethik „das Gute“ – nur über gute Dinge in ihrer Beziehung reden, keinesfalls aber am ersten Tag gleich über die Trennung sprechen. Er dachte auf Grund des Namens, es handelte sich um ein griechisches Lokal, und brachte Erinnerungen aus ihren gemeinsamen Urlauben in Griechenland mit.
    Diese blieben unbesprochen.
    Er war knapp nach ihr zum Lokal gekommen, wo sie gerade vor dem Eingang stand, um die Speisekarte zu lesen. „Nun, was gibt es Gutes zu essen?“ Dabei ging er auf sie zu und wollte sie küssen. Sie wich zurück und warf ihm jenen abweisenden Blick zu, unter dem er in den letzten Jahren so gelitten hatte und alle seine Versuche, freundlich zu sein, konterkarierten. Ihr Blick tötete nicht, ihr Blick hinterließ das Nichts.
    „Warum schaust du denn so finster?“
    „Ich lasse mich von dir nicht mehr auf den Mund küssen!“
    Sie gab ihm kopfschüttelnd einen Kuss auf die Wange. Sie traten ins überhitzte Lokal, in der es manchmal auch unerträglich laut war, sodass ihre Kommunikation in einer für den Inhalt viel zu lauten Tonlage ablief, immer wieder an der Unverständlichkeit einzelner Wörter litt, da sie im Lärm einer großen Gruppe von Studentinnen untergingen, die am Nebentisch saßen.
    Für sie kämen nur mehr Gespräche in einer geschützten Öffentlichkeit in Frage, keine mehr unter vier Augen. Er erlebte diese Situation nicht als Schutz, sondern einfach bloß als störend, da er pausenlos das Gefühl hatte, dass das daneben sitzende Paar immer wieder ihr Gespräch unterbrache, um ihnen zuzuhören. Der joviale Wirt mit einer künstlichen Fröhlichkeit trug das seine dazu bei, dass er nicht einmal in Ansätzen jenen Ton anschlagen konnte, den er sich vorgenommen hatte. Einen warmen und ihre Entscheidung akzeptierenden, einen den er in einem kleinen Monolog in sein Weblog gestellt hatte:
    Die Stimme des Angenommen-Seins
    Als wir heute am Telefon darüber sprachen, wie wir uns in nächster Zeit mit Anstand trennen könnten und du über mein Angebot sprachst, eine Woche in unserem Gästezimmer bei mir zu wohnen, da bekam und hatte deine Stimme einen Tonfall, den ich schon lange nicht mehr bei dir gehört habe. Während des Gespräches habe ich deiner Stimme nur nachgefühlt und empfand eine innere Ruhe in mir, die auch danach noch lange anhielt.
    Ich habe danach immer wieder darüber nachgedacht und immer wieder in der Erinnerung in deine Stimme hineingelauscht, bis ich plötzlich begriffen habe, was der Unterschied zur Stimme deiner letzten Jahre war: ich fühlte mich von dieser deiner Stimme angenommen, als Mensch verstanden, eingehüllt in menschliche Wärme.
    Wenn du aber in den letzten Jahren mit mir sprachst, lag in deiner Stimme ein Ton der Gleichgültigkeit, manchmal des Spottes, manchmal – selten zwar – auch der Feindseligkeit.
    Ich habe auch in den Tonfall meiner eigenen Stimme der letzten Jahre hineingehört und fand darin die Härte der Enttäuschung, den Wunsch nach Kampf, den Geist des Widerspruchs, das Aufsteigen der Angst vor Verlust.
    Unsere Stimmen waren so der Spiegel unserer Gedanken und unserer Gefühle.
    Könnten unsere Gedanken und Gefühle nicht auch ein Spiegel unserer Stimmen sein? Könnten wir nicht in gegenseitigem Respekt diesen Tonfall erlernen und üben, bis unsere Gedanken und Gefühle nur eines wollen: den anderen annehmen, so wie er ist? Die Worte des anderen auf einem warmen Polster der Einfühlung landen lassen und nicht an einer glatten Mauer der Kälte abprallen lassen?

    Diese lärmende, seine Worte erstickende Öffentlichkeit erregte ihn und ließ ihn von Anbeginn an keinen klaren Gedanken fassen. Warum – so wird er sich später fragen – warum hatte er einfach nicht nur geschwiegen? Das hatte er früher doch auch getan? Warum sagte er nicht einfach, dass er sich hier für ein solches Gespräch nicht im Stande fühlte? Aber er saß in der Falle, in der ihn seine Emotionen so oft tappen ließen.
    Die Öffentlichkeit war für sie hingegen ein Schutz vor Übergriffen, wie etwa jenem, den sie vor einer Woche zum Anlass genommen hatte, ihn endgültig zu verlassen. Er hatte sie im Schlafzimmer festgehalten, als sie wieder einmal vor einem konkreten Gespräch flüchten wollte. Das war wieder sein Klammern gewesen, das sie so sehr an ihm hasste. Er wusste es noch in dem Augenblick, als er neben ihr am Bettrand saß und konnte doch nicht anders. Wie kann man an einen Menschen herankommen, wenn er ständig auf der Flucht ist? War er zu keinen Worten mehr fähig, die sie gehalten hätten? Wollte sie sich von seinen Worten nicht mehr halten lassen, denn zu oft waren diese Schall und Rauch gewesen?
    Er wird sie im Agathon einladen, am kommenden Dienstag mit ihm zur Psychotherapeutin zu gehen, um im Beisein einer Dritten zu Klärungen zu kommen. Klärungen, die nichts an der Trennung ändern konnten, sie beiden aber erleichtern könnten. Sie zeigte sich erstaunt, dass er Hilfe gesucht hatte und das war der einzige Moment in ihrem Gespräch, in dem er fühlte, dass er an sie herangekommen war.
    Hatte sie jemanden, mit dem sie sprechen konnte? Sie war eine Einzelkämpferin, eine Charakteristik, die sie häufig ihm zugeschrieben hatte. Immer wieder wird sie an diesem Abend auf ihrem Entschluss beharren und es damit begründen, dass es ihr seither immer besser gehe. Sie wird jene beharrlichen Wiederholungen machen, die sie ihm stets vorgeworfen hatte, sie sei kein Kind und würde es schon beim ersten Mal verstehen.
    Sie würden nach dem Agathon auf seinen Vorschlag hin noch in eine Bar wechseln, die er in der Zeit ihrer Abwesenheit in Strasbourg kennengelernt hatte, zögernd eingehen. Auf dem Weg dorthin wird sie sein Angebot, doch hie und da miteinander etwas zu unternehmen, sehr abwehren und ihm vorhalten, dass er im Frühjahr das Angebot, mit ihr Tennis zu spielen, abgelehnt hatte.
    Wären solche Trivialitäten geeignet gewesen, die Trennung zu verhindern? Verzögert hätten sie sie bestimmt, denn der gemeinsame Sport hatte früher einfach die Zeit begrenzt, in der man streiten konnte. That′s it!
    Er wird ihr in der Bar den Vorschlag machen, für sie gemeinsam eine Wohnung zu kaufen, in der sie alleine leben könnte – das war von den von ihm vorher durchgedachten Trennungsszenarien bereits das äußerste, das er sich vorstellen konnte. Sie hatte aber schon einen Vorvertrag für eine eigene Wohnung unterschrieben – genau das, was ihm sein Kollege am Vortag vorhergesagt hatte: Sie wird Zeichen setzen, um nicht abermals nachzugeben zu können. Sie wird in ihrer Verzweiflung, die aus ihrer Erfahrung kam, ihr Handeln selber unter Druck setzen. Zu oft hatte sie nachgegeben, hatte sie es noch einmal versucht, um abermals enttäuscht zu werden. Auch ohne Liebe, aus Pflicht und Anstand. Warum konnte er nicht das an ihr schätzen? Warum hat er es ihr nicht mit Dank vergolten? Warum musste es seine unersättliche, verschlingende Liebe sein?
    Mietverträge könne man kündigen, auf gekauften Wohnungen bleibt man oft sitzen, hatte sein Freund optimistisch noch hinzugefügt. Was tat er nicht alles, um ihn nicht in einem tiefen Loch versinken zu lassen.

    An ihrem Gesprächsstil änderte sich auch im neuen Lokal wenig. Nur beim Abschied an der Straßenecke werden sie gemeinsam über ein Paar Damenschuhe lachen, die neben einer Abfalltonne auf der Straße lagen. Er wird sie umarmen, unter Tränen, die er bisher in diesem Treffen unterdrückt hatte. Sie wird die Umarmung geschehen lassen.
    Umarmungen und Berührungen waren in den letzten Jahren selten geworden – früher waren sie immer einseitig gewesen. Er hatte sie berührt, er hatte sie umarmt. Niemals war es umgekehrt. Sie mied und verweigerte ostentativ Berührungen in der Öffentlichkeit, fand sie später ihrem Alter nicht entsprechend. Ein Jahr nach der Trennung wird er eine Szene anlässlich einer Lesung aus ihrem inzwischen veröffentlichten Roman beobachten, die ihn wieder an diese Abwehr erinnern wird, schmerzlich. Nach der Lesung in einem Jazzlokal sprach sie vor ihm stehend mit einem viel jüngeren Mann, den sie erst seit etwas mehr als einer Woche anlässlich eines Seminars kennengelernt hatt. Dabei griff sie nach dessen Arm und streichelte ihn zwei-, dreimal. Wieder schossen ihm die Tränen in die Augen, denn er erlebte nach einem Jahr abermals jene Enttäuschung, die ihn durch dreiunddreißig Jahre begleitet hatte. Wie oft hatte er in ihrer Gegenwart andere Paare beobachtet, die einander berührten, die Hand dem anderen auf die Schulter oder den Arm legte, den Kopf streichelte … Wie sehr hatte er die dreiunddreißig Jahre auf ein solches Zeichen der Nähe, des Vertrautseins, der Zuneigung gehofft … Wie oft hatte er es selber getan, in der Hoffnung, dass sie es eines Tages vielleicht erwidern würde. Die Hand auf seine zu legen und damit zum Ausdruck zu bringen, ihm nahe zu sein. Nach einem Jahr der Trennung sieht er diese Geste – beiläufig und wie selbstverständlich – bei einem anderen Mann. War sie eine andere geworden? In einem Jahr des Alleinlebens. Hatte sie vielleicht spät erkannt, wie wichtig Berührungen im Umgang mit andern Menschen auch in der Öffentlichkeit sind. Diese Zeichen der Vetrautheit. War er ihr nie vertraut?
    Bei diesem Abschied hatte sie die Umarmung geschehen lassen, nicht erwidert. Er wird fühlen, dass dieser Abschied anders war. Auch wenn sie darüber gesprochen hatte, nach einiger Zeit vielleicht eine Freundschaftsbeziehung mit gemeinsamen Unternehmungen zu ermöglichen, so spürte er, dass die Chance zu gering war, um ihn zu trösten, dass es im Augenblick keinen Sinn machte, irgendeine Hoffnung daran zu knüpfen.
    Hoffnung, sein großes Lebensprinzip.
    Hoffnung? Blindheit vor der Realität.
    Er machte in dieser Nacht kein Auge zu, denn ihm war endgültig klar geworden, dass es kein Zurück gab, dass das Bett neben ihm für immer leer bleiben würde, dass er nie wieder mit ihr schlafen würde, dass sie nie mehr zärtlich zu ihm sein würde.
    Für die nächste Nacht wird er Schlaftabletten kaufen – nicht jene, die ihm seine Schwiegermutter in den letzten Wochen immer wieder empfohlen hatte – und ihr einige davon mitbringen, denn er fühlte, dass auch sie noch lange nicht zur Ruhe gekommen war. In dieser Nacht des Abschieds wird er zweimal aufstehen und auf ihre Mailbox sprechen. Das erste Mal mit der Bitte, ihm doch sein Leben zurückzugeben, damit er sie hassen könnte. Das hatte ihm sein Verstand eingegeben. Und das zweite Mal, um sie anzuflehen, doch wieder zurückzukommen. Das war wieder seine überquellende Emotion. Diese Bitte war auch das, was ihm sein Sohn immer wieder empfohlen hatte – ihr doch einfach zu sagen, dass er sie brauche. Darum ginge es ihm doch letztlich. Er hatte diesen Vorschlag bisher stets für aus der jugendlichen Naivität geboren gehalten, dachte in diesem Augenblick aber, dass ihr Leben wohl anders verlaufen wäre, hätten sie ihre Bedürfnisse direkter und offener angesprochen.
    Drei Minuten lang wird er das flehentlich auf ihre Mailbox sprechen. Die für ihn vermeintliche Selbsterniedrigung – in Wahrheit war er längst auf diesem untersten Niveau der Selbstachtung angekommen – hatte in seinem Leben den Höhepunkt oder besser Tiefpunkt erreicht. Er war jetzt um 4 Uhr und 12 Minuten in jenem Tal, in das kein Funken Licht mehr fallen würde, wäre nicht ohnehin Nacht gewesen. Der Sarkasmus dieser Anmerkung war ihm voll bewusst.
    Bis zum Aufstehen um 7 Uhr wird er weiter keinen Schlaf finden, aber jene Antwort, nach der er seit Beginn der zwei Wochen und danach vergeblich gesucht hatte: Warum sie ihn verlässt.
    Und er wird sie um 9 Uhr anrufen und sie um ein Treffen bitten, um ihr sein Warum zu sagen. Sie werden sich verabreden, zuvor aber gemeinsam einen Film – einen Film über die Rache einer Frau an einer anderen, die ihre Karriere zerstört hatte – anzusehen, und danach miteinander reden.
    Er wird ihr nach einem kurzen Gespräch über den Film sagen, dass er ihr Warum kenne, das sei einfach das „Ich liebe dich nicht mehr“.
    Sein Warum sei dazu immer komplementär gewesen.
    Sein Warum ist die Liebe, die er ihr seit Anbeginn entgegengebracht hatte. Sein idealisierter Entwurf einer absoluten Liebe, die den anderen so völlig in sich umschließt, dass diesem kein Platz mehr bleibt. Ein völliges Aufgehen im anderen, die absolute Synthese ohne Dialektik, ohne Weiterentwicklung, ohne Chance auf Überleben.
    Eine vor allem in Krisensituationen erstickende, Atem beraubende Liebe. Und diese Liebe brauchte keine Anlässe für Krisen, sie schuf sie sich selber durch Eifersucht und dem immer drängenderen Wunsch nach Mehr.
    Seine Liebe war unendlich und ihre endlich, ihre war irgendwann einmal aufgebraucht. Ihre Liebe war eine wunderbare, ursprüngliche, direkt das Herz anrührende gewesen, die ihn damals vor dreiunddreißig Jahren vom ersten Augenblick an gefangen hatte. Und er hatte vom ersten Tag an begonnen, diese zarte Liebe im Käfig seiner für das Leben geplanten Liebe einzusperren. Langsam und allmählich, damit sie es nicht gleich merkte. Diese Pläne beruhten teilweise auf Enttäuschungen, die er erlebt hatte. Nach dreiunddreißig Jahren wird er erkennen, dass das Objekt seiner Liebe einer anderen Liebe bedurft hätte. Dass seine Liebe die falsche gewesen war. Wäre er heute zur richtigen im Stande?
    Er hatte sie wie das letzte Stück eines Puzzle schließlich so in den Lebensentwurf mit seiner Liebe eingepasst. Ab diesem Augenblick war nun jene Vollkommenheit erreicht, die in ihrer Perfektion nur noch abstoßend und hässlich ist, wie das absolut Schöne den Betrachter ebenfalls zurückweichen lässt.
    Diese seine Liebe war von Anbeginn an sowohl von physischer als auch psychischer Nähe besessen, die im Lebensalltag nicht zu realisieren war – es sei denn, sie wären auf eine einsame Insel gezogen und hätten dort auf den Tod gewartet -, sodass alles, was er ihr in den dreiunddreißig Jahren nach und nach angetan hatte, von der ausschließlichen – und sie auch ausschließenden – Idee getragen war, sie mit seiner Liebe immer und überall im Griff zu haben.
    Und es war ihm gelungen.
    Bis vor den zwei Wochen.
    So perfekt gelungen, dass er gar nicht gemerkt hatte, dass sie sich immer mehr umklammert und eingeengt fühlte, dass es keine Liebe mehr war, die sie mit ihm erlebte, sondern ein gewaltsames Festhalten, ein Besitzergreifen von ihrem Körper und ihrer Seele.
    Wenn es ihm einmal nicht gelungen war, sie fest zu halten, sondern sie ausgebrochen war – häufig nicht wegen ihm; doch es war ein Merkmal seiner Liebe, alles auf sich und diese Liebe zu beziehen -, dann war ihm jedes Mittel Recht, seine absurden Vorstellungen einer Illusion von Liebe durchzusetzen. Mittel, die in einer Liebe – warum hatte er sich das nie gefragt? – nichts zu suchen hatten, sondern nur den Hass verkörperten, den er auf sich selber zu entwickeln begann, als er sah, mit seinem Lebensentwurf einer Liebe zu scheitern.
    Er begann sie zu belügen und zu täuschen, denn in seinen Augen war sein zerstörerisches Verhalten durch das hohe Ziel der absoluten Liebe gerechtfertigt. Ihr Tränen deutete er lange noch als Liebe, obwohl sie doch für sie nur Zeichen der Trauer über den Verlust ihrer Liebe, seiner Liebe, ihrer gemeinsamen Liebe waren. Sie zog sich immer mehr in ihr Schneckenhaus zurück, aus dem sie allmählich gekommen war. Hatte ihn das gestört? Sah er sie nach einiger Zeit nicht am liebsten immer dort eingesperrt, konnte er sich ihrer doch nur dort sicher sein, gab es von dort kein Entrinnen vor seiner Besitzgier?
    Lange hatte sie es still ertragen, jene Verletzungen, die sie nicht verstehen konnte, waren sie doch so absurd, dass man an seinem Verstand zu zweifeln begann, wenn man sie erklären wollte. Und diese Schizophrenie, die er sie zu leben zwang, die sie schmerzlich fühlte, aber erst spät artikulieren konnte, zerstörte alles an Gefühlen in ihr, die sie für ihn empfunden hatte. Und auch die Erinnerung an die schönen Augenblicke in ihrem Leben wurden zerstört, denn allzu tief war die Waagschale des Negativen in der lebenserstickenden Gegenwart gesunken.
    Sie hatte ihn geliebt.
    Seine Liebe hatte ihre zerstört.
    Er hat sie nie geliebt.

  • Epilog

    Er wird ihr nach einigen Wochen und einigen unerfreulichen Kontakten und einem Gespräch mit einer guten Freundin, die trocken konstatiert hatte, dass sie eben nicht beziehungsfähig wäre, folgende Email unter dem Titel „Übersiedlung“ schicken:
    Liebe C.,
    nachdem Du mir gestern all Deinen Hass und Deine Kälte gezeigt hat, zu denen ich Dich nie für fähig gehalten hätte, bin ich in unsere Wohnung zurückgekehrt, in der Du mich mit einem Anflug an Sadismus vor Wochen einfach zurückgelassen hast, um ein neues Leben anzufangen. Da ich aber kein Masochist bin und mir täglich unsere Vergangenheit um die Ohren schlagen lassen möchte, ersuche ich Dich dringend, bis Ende des Monats November alle Deine Habseligkeiten abtransportieren zu lassen. Nach meiner Schätzung wirst Du an die 30-50 Übersiedlungskisten benötigen, wobei dazu noch die Möbelstücke und Deine Sachen, die sich am Dachboden und im Abstellraum befinden, hinzukommen.
    Ich hatte bisher diese ambivalente Situation ertragen, da ich noch immer die Hoffnung hatte, dass wir in einiger Zeit (ein paar Monate, ein halbes Jahr) ein Arrangement bezüglich eines für beide befriedigenden Zusammenlebens finden könnten. Ich hatte gehofft, dass Du irgendwann erkennen würdest, dass ich mich schon sehr lange zum Positiven verändert hatte, dass Du wieder ein Gefühl für mich entwickeln könntest. Aber Du hast Dir aus den Bruchstücken einer äußerst einseitigen Erinnerung einen Werner konstruiert, gegen den ich einfach nicht ankommen kann. Ich resigniere jetzt, da ich seit gestern weiß, dass es völlig gleichgültig ist, was ich tue, Du wirst mir immer einen Strick daraus drehen. Du hast nie in Deinem Leben eine einmal gefasste Meinung geändert, nie einen Irrtum zugegeben. Mein Irrtum war, Dich zu lieben. Und diesen Irrtum erkenne ich jetzt, auch wenn es unheimlich weh tut. Ich habe Dir mehr als mein halbes Leben gegeben, Du hast es genommen und jetzt wirfst Du es weg. Du wirst damit leben müssen, genauso wie ich.
    Ich habe mich gefragt, was jetzt wäre, wenn ich nicht hinter Deinen Betrug gekommen wäre. Vermutlich wären wir noch beisammen und Du würdest Dein Doppelleben weiter führen. Wahrscheinlich ist das Leben insgesamt eine Lüge, wobei diese Lügen austauschbar sind. Viel Spaß mit Deiner neuen Lüge – soviel Sarkasmus muss sein.
    Ich habe entgegen dem Rat aller Menschen in meiner Umgebung – wozu auch Deine Familie gehörte – versucht, Dir meine Hand zu reichen. Ich sehe, ich bin damit gescheitert.
    Seit gestern empfinde ich tiefes Mitleid mit Dir, vor allem deshalb, weil es Dir in den kommenden Monaten nicht erspart bleiben wird, Dich mir dem, was Du jetzt getan hast, existenziell auseinanderzusetzen. Aber Du hast ja so viele Freunde und Freundinnen, dass das ganz leicht sein wird.
    Zum Abschluss noch: Ich hatte mich gestern wirklich gefreut, Dich wieder zu sehen, weil ich nach dem Abschied eine Woche lang die Hoffnung hatte, es gibt in Dir noch einen Rest von Wärme und Emotion. Aber Dir geht es offensichtlich so gut, dass das gar nicht nötig ist. Jemand, der wie Du ständig auf der Flucht vor sich selber ist, braucht keine Emotionen sondern einfach einen langen Atem. Ich laufe Dir ab nun nicht mehr hinterher, denn ich bin am Ende mit meiner Kraft. Du sprichst vom Mut mich endlich verlassen zu haben – ich wünsche Dir den Mut, dass Du Dich eines Tages Dir selber stellen kannst und dass Du dabei etwas findest, was ich einmal so unendlich geliebt hatte. Noch immer liebe.
    Immer lieben werde. Ich wünsche Dir, dass Du dann nicht erkennen musst, dass das, was Dein Leben ausgemacht hat, nicht bloß meine Liebe zu Dir war.
    W*

    Falls meine SMS (7 Teile) gestern bruchstückhaft angekommen ist, hier nochmals der vollständige Text:
    Liebe C., Deine Argumentationsumkehr zum Verzeihen macht mich sehr traurig, denn das heißt, Du hast mich nie geliebt. Daher brauchtest Du nie damit anfangen! Ich dachte immer, nur die letzten 7-8 Jahre wären ohne Liebe gewesen, nun weiß ich, dass es 33 Jahre waren. Mehr als mein und Dein halbes Leben! Danke für diese Lebenslüge – Strindberg ist dagegen ein Lercherl. Nun weiß ich, dass Du unser heutiges Gespräch bewusst scheitern lassen wolltest – es ist Dir gelungen. Offensichtlich suchst Du in der Zwischenzeit unserer Begegnungen Anlässe, die Du mir an den Kopf schmeißen kannst, um Deine Lebenslügen aufrecht zu erhalten, egal, ob sie stimmen oder nicht. Vermutlich bin ich der einzige Mensch auf der Welt, der Dich überhaupt liebt. Objektiv betrachtet verdienst Du es nicht, aber ich bin halt nicht objektiv. Dein nützlicher Idiot, den Du wieder einmal perfekt zum Spielen Deines Lebens missbraucht hast. Könnte ich Dich doch hassen! Könnte ich doch Hassgedichte schreiben statt solche der Hoffnung. Ich kann es nicht! Versuch mir nur einmal eine Winzigkeit zu verzeihen! Gute Nacht! W*, todtraurig.