XV Augen.Blicke

Sie hasste es, längere Zeit mit offenem Blick betrachtet zu werden. „Was starrst du mich so an! Es ist unangenehm!“ Er war ins Wohnzimmer gekommen, in dem sie auf dem Zweisitzer lag und an einem Manuskript arbeitete. Da sie offensichtlich mitten in einem Satz war, blieb er einfach hinter ihr stehen und wartete, bis sie ihn registrierte. Sie wandte sich längere Zeit nicht um, wie sie das sonst tat, wenn er den Raum betreten hatte, sondern setzte nur zwei-dreimal kurz ab, um weiter zu schreiben.
Er trat tiefer in den Raum, dass sie ihn sehen konnte. Hatte sie ihn bisher noch gar nicht bemerkt. „Es ist unerträglich, so angestarrt zu werden!“ Die Erklärung, dass er sie nicht unterbrechen wollte, fiel bei ihr wie fast alle Erklärungen in diesen zwei Wochen auf unfruchtbaren Boden, die sie mit dem Sturm ihres Zorns einfach hinwegfegte.
Worauf war sie zornig? Auf ihn, da er sie wegen des Betruges nicht zur Rede stellte? Weil er schwieg und wartete, dass sie sich erklärt?
Seit wann hasste sie, dass er sie ansah? Dieses Feature war nicht ganz neu. Schon früh in ihrer Beziehung liebte sie es nicht, wenn er die Brille abnahm, denn dann wirkten seine Augen größer. Augen, die damals wohl liebevoller blickten, jünger waren und voll Sehnsucht.
Ein halbes Jahr danach wird er sich an diese frühe Zurückweisung und Verletzung erinnern, wenn ihm eine der Frauen, die er in der Zeit nach ihr lieben wird, sagen wird, wie sehr sie sich von seinem Blick angezogen fühle. Ich kann in deinen Augen versinken, wird sie sagen und ihn näher zu sich ziehen, lass mich darin ertrinken. Und sie wird ihm sagen, dass sie noch nie Augen so zärtlich angesehen hätten wie seine.
Erst nach Jahren wird er eine Erklärung für ihr Verhalten finden: es war ihre Angst vor Nähe, vor dem erkannt werden, vor dem in Besitz genommen werden. Wer hatte sich ihr in ihrer Kindheit so sehr genähert, dass sie später davor zurückschreckte? Vor einem Menschen, von dem sie wissen musste, dass er sie liebte? War es damals auch ein Mensch gewesen, der sie geliebt hatte und diese Nähe dann missbraucht hatte?
Wenn sie miteinander schliefen, liebte sie stets das Dunkel. Er hätte gerne die Schönheit ihres Körpers nicht nur gefühlt sondern auch gesehen, wenn er sie liebte. Er hatte es mit durch Tücher abgedunkelten Lampen im Hintergrund versucht, aber er verzichtete allmählich darauf, denn sie schien dann beim Akt abwesend zu sein, selbst wenn sie dabei immer die Augen geschlossen hielt. Das Halbdunkel, in dem erst allmählich die Gegenstände zu erkennen waren, blieb das Äußerste an Sichtbarkeit bei ihrem Beisammensein.
Er hatte früher in diesem Halbdunkel ihr Gesicht betrachtet, während sie ihren Höhepunkt hatte. Da er beinahe immer die Kontrolle über den Beischlaf hatte – so wie sie es in ihrer selbst definierten passiven Frauenrolle wohl wünschte – und er immer nach ihr ejakulierte – die gemeinsamen Höhepunkte hatte es nur ganz früh in ihrer Beziehung gegeben -, konnte er ihrem Mienenspiel folgen, was ihm ermöglichte, jenen Rhythmus aufzunehmen, der sie am meisten erregte. Sie war außerdem im Stande, nach dem ersten Orgasmus einen zweiten, seltener einen dritten, dadurch zu erleben, dass er mit seinem schon halb erschlafften Glied festen Druck auf ihren Kitzler ausübte. Dabei kam sie meist sehr rasch und er spürte das Zucken in ihrer Vagina, beinahe heftiger als bei ihrer ersten Klimax.
Er hatte nie jene Erzählungen verstanden, wie manche Frauen einen Orgasmus vorspiegeln konnten und der Mann von dieser Täuschung nichts bemerkt. Wie kann man einen weiblichen Orgasmus nicht fühlen?
Einige Male hatte sie damals, als sie ihren Sohn zeugen wollten und es auf Grund der Unregelmäßigkeiten ihrer Periode nur sehr schwer war, den richtigen Zeitpunkt zu finden, bei den alltäglichen Pflichtübungen auch das eine oder andere Mal einen Orgasmus vorgetäuscht, aber es diente einem guten Zweck, wie er sich sagte, und verstand diese Hilfe, die sie ihm damit geben wollte. Auch dafür liebte er sie.
Durch die Beobachtungen ihres Gesichtes während des Aktes und durch die Heftigkeit ihrer Orgasmen war er auch überzeugt, ein guter Beischläfer zu sein. Etwas, das er sich vorwiegend aus Büchern und Pornofilmen angeeignet hatte. Seine erste – vor ihr einzige – körperliche sexuelle Beziehung war trotz der zwei Jahre, die diese gedauert hatte, dafür wenig relevant, da er mit dieser Frau nur unter sehr erschwerten Bedingungen beisammen sein konnte – am häufigsten in einer Mulde am Rande des Lainzer Tiergartens. Die Akte in einem Bett damals konnte man an einer Hand abzählen.
Das erste Mal – sein erstes Mal, denn auch seine erste Geliebte war längst nicht mehr unberührt – geschah nach dem Wiener Universitätsball, den sie um Mitternacht verließen, um mit einem Taxi in seine Wohnung zu fahren. Das Haus betraten sie im Abstand von einigen Minuten, damit seine Eltern, die ihre Wohnung in diesem Haus hatten, nichts bemerkten. Es war ein geplanter Akt, er hatte auf der Bahnhofstoilette ein Päckchen Kondome besorgt, das Klappbett, auf dem er schlief, hatte er vorsorglich frisch überzogen. Er trat nach dem Vorspiel – sie war darin sehr zärtlich – hinter den Vorhang, der einen Teil seiner Wohnung abtrennte und schob das Kondom über seinen erigierten Schwanz. Sie führte sein Glied in ihre Scheide ein.
Nein, sie hatte das nie getan. Sie hatte ihren Schwanz nie in ihre Scheide eingeführt. Er hatte immer die Kontrolle und er allein war es, der sein Glied in ihre Scheide schob. Manchmal war ihre Scheide trotz langem Vorspiel trocken, sodass es beinahe zum Ritual geworden war, dass er sie so lange leckte, bis sie feucht war, dass er ohne ihr Schmerzen zu bereiten, eindringen konnte.
Mochte sie sein Glied nicht berühren?
Einmal hatte sie erzählt, dass sie Schwänze hässlich fände. Hing es damit zusammen? Sein Glied war nicht hässlich, das wusste er aus frühen Vergleichen aus der Pubertät und von pornographischen Bildern, es war lange, gerade und besaß eine wohlgeformte Eichel. Er beherrschte die Fähigkeit, seinen Schwanz bewusst in ihrer Vagina allein durch Muskelkontraktion zu bewegen. Diese Fähigkeit war früher wegen der häufigen Trockenheit ihrer Vagina hilfreich. Seine erste Sexualpartnerin hatte die vergleichbare Fähigkeit besessen, ihn durch Muskelanspannung und -entspannung ihrer Vagina bis zum Orgasmus zu bringen. Wie ihm ein Studienkollege einmal versicherte, die beinahe schönste Art für einen Mann, in völliger Passivität zum Höhepunkt zu kommen. Sein Kollege war damals mit einer Balletttänzerin zusammen. Turnerinnen sollten darin noch besser sein. Einmal kannte er eine Turnerin und dachte auch daran mit ihr zu schlafen, doch es war ihnen keine Zeit gegeben.
Mochte sie es nicht sein, die den abschließenden Akt ihres Liebespiels einleitet?
Hatte das mit der ihr sich selber zugeschriebenen Passivitätsrolle in einer Liebesbeziehung zu tun?
Konnte sie zwar lieben und fordern, nehmen musste der andere?
Seit sie ihm gesagt hatte, dass sie schon lange keine körperlichen und sexuellen Bedürfnisse mehr verspüre, war bei den schon seltenen Kopulationen eine beinahe paradoxe Veränderung aufgetreten: Sie war schon durch geringe äußere Stimluation durch sein Glied, indem er es außen an den Schamlippen mit seiner Hand entlang führte, leichten Druck damit ausübte und danach seinen Daumen in ihre Vagina steckte, um sie zu öffnen, so feucht, dass er ohne ihr Schmerzen zu bereiten, auch mit einem voll erigierten Glied, bei dem die Eichel freilag und der Durchmesser dementsprechend groß war, eindringen konnte.
Früher hatte dieser erst nach langer Zeit des Vorspiels erreichte Zustand häufig dazu geführt, dass, wenn er kaum Widerstand und Reibung verspürte, bei entsprechend langem Zuwarten sein Glied die Erektion wieder verlor. Jetzt im Status ihrer völligen Libidolosigkeit – dieser Begriff war ihm erst in den zwei Wochen klar geworden – war die Feuchtigkeit gerade richtig, um innerhalb einiger Minuten zum Orgasmus zu kommen. Anfangs hatte er auch dann noch gehofft, dass sich in ihr etwas regen könnte, doch mit der Zeit lernte er, sich nur noch auf sich selber zu konzentrieren und mit gezielten Bewegungen zum Höhepunkt zu kommen. Diesen erlebte er allerdings in den letzten Jahren nicht mehr so intensiv, denn wenn sie es ihm mit der Hand besorgte, was ihr immer besser gelang und nach ihren eigenen Worten einfach nur mehr eine eheliche Pflichtübung – von Pflichterfüllung konnte man in diesem Fall wohl kaum sprechen – war, konnte er die passive Rolle einnehmen, die er wohl seit Beginn ihrer Beziehung häufiger gewünscht hätte.
Sie hatte ihn auch nur selten geritten.
Drei bis fünf Mal in dreiunddreißig Jahren.