XVI Entfernungs.Messer

Schon lange vor den zwei Wochen war ihm ihr Blick aufgefallen. Wenn er den ihren suchte, war oft ein kurzes fragendes Erstaunen in ihren Augen, als ob sie es seltsam fände, von ihm betrachtet zu werden. Er versuchte sich zurück zu erinnern, wann ihm das Unstete in ihrem Blick zum ersten Mal aufgefallen war. Sie hatte es wohl schon seit dem Beginn ihrer Beziehung. Angesprochen hatte er es einmal, als er sie beim Lesen beobachtete. Immer wieder sprangen ihre Augen vom Text in den Raum, wie um etwas zu suchen. Das war unabhängig davon, ob es eine Zeitung war oder ein Buch. Nach wenigen Zeilen irrte ihr Blick einmal in die eine, einmal in die andere Richtung. Es war wie beim Autofahren, wenn der Blick für einige Sekunden dem Rückspiegel gilt. Er meinte damals, dass das doch anstrengend sein müsste. Ihr war es aber gar nicht bewusst. Er hatte seither einige Male darüber spekuliert, was der Grund für diese Marotte sein konnte. Wollte sie eine allfällige Bedrohung von hinten erkennen? Jetzt in diesen zwei Wochen schien er eine Erklärung gefunden zu haben, die auch zu ihrem nach eigenen Worten angestrebten Lebensstil passte. Sie war ständig auf der Hut.
So wie jemand, der auf der Jagd oder auf der Flucht ist. Wovor war sie auf der Flucht? Vor ihm? Vor den Menschen? Sie hatte ihm erst in diesen zwei Wochen gestanden, dass sie Angst vor großen, dichten Menschenmassen habe.
Während der Zeit in Strasbourg aber auch der in Wien, als sie für das Außenministerium gearbeitet hatte, hatte sie es immer von einem Ereignis zum Nächsten getrieben. Sensation seeking. Die Gier nach Neuem, nach Abwechslung ließ sie offensichtlich ihre Scheu vor Menschen verlieren, auch wenn sie am liebsten als distanzierte Beobachterin unterwegs war. Sie ging auf Menschen zu, um ihre Neugier zu befriedigen. Die neuen Freundinnen in Strasbourg oder die in Wien dienten ihr weniger zur Befriedigung eines Nähebedürfnisses, sondern in der Hauptsache, möglichst viel über sie und ihr Schicksal zu erfahren.
Aus Strasbourg – oder war es ihm vorher einfach nie aufgefallen – hatte sie eine eigene Form der Nörgelei mitgebracht, die sie wohl nicht als solche wahrnahm.
Das Nörgeln an anderen – besonders vertrauten – Menschen war ihm verhasst, denn es erinnerte ihn an den Tratsch der Frauen an der Bassena, die er als Kind mit anhören musste. Wenn eine der Frauen gegangen war, mit der sie zuerst noch freundlich geredet hatten, wurde diese zum Gesprächsthema.
Wie sie wohl über ihn redete?
Er tröstete sich allerdings damit, dass sie dieses Kritisieren anderer fast auf alle Menschen in ihrer Umgebung übertrug – mag es nun eine Freundin oder Arbeitskollegin sein, ein Kellner in einem Lokal oder sogar auf das Essen.
Nichts war perfekt.
Es gab Ausnahmen, vermutlich nur bei Menschen, die sie zu kurz kannte, um etwas Kritisierenswertes zu entdecken. Das war in ihrem langen Berufsleben als Psychologen häufig die Fragestellung, in einem Familiensystem mit Problemen die Schwachstellen zu entdecken, an denen man ansetzten konnte.
War ihm das früher bloß nicht aufgefallen? Oder hatte sich hier tatsächlich ihre Einstellung der Welt gegenüber verändert? Hatte sie in Strasbourg die Welt in Freund und Feind einzuteilen gelernt? Hatte sie einen emotionalen Extremismus entwickelt, der ihr das Überleben in der Welt einfacher machte? Es war dann nicht mehr notwendig, die vielen Schattierungen der Menschen auszuloten, sondern sie steckte sie einfach in die rechte oder die linke Lade. Abgelegt wie Akten, mit denen sie Zeit ihres Arbeitslebens zu tun hatte. Sie musste in ihrem Beruf für andere Entscheidungen vorbereiten und teilweise dadurch indirekt auch treffen. Begann sie nun, das auch auf ihr eigenes Leben zu übertragen?
Sie hatte ihn in die Lade mit dem großen Minus davor gesteckt.
Einfach so, ohne ihn lange zu fragen.
Mister Minus.
Paradoxerweise wird sie ihm später das als einen seiner Fehler vorhalten, immer negativ eingestellt zu sein, immer ein Miesmacher gewesen zu sein in diesen dreiunddreißig Jahren. Dabei war er es, der ihr in ihrem Negativismus anderen gegenüber immer widersprochen hatte. Er mochte Menschen und scheute sich, auch hinter ihrem Rücken über sie Negatives zu besprechen.
Es störte ihn schließlich immer mehr, dass sie minutenlang über ihre Freundinnen reden konnte, wobei fast ausschließlich negative Ereignisse und auch Eigenschaften im Vordergrund standen, sodass er sich manchmal fragte, warum sie dann noch immer Kontakt zu ihnen pflegte. Die eine bekam ihre Beziehungen nicht auf die Reihe, die andere war immer arrogant. Die eine ließ sich in ihrem Beruf immer mit Kettenverträgen abspeisen, weil sie sich vor einer Prüfung fürchtet, die andere hatte ihr Englisch als mangelhaft beurteilt, obwohl sie selber ein völlig unverständliches Englisch sprach. Sie fühlte sich häufig von ihren Vorgesetzten – noch dazu Frauen – unter ihrem Wert behandelt zu werden, etwa indem man ihr Aufgaben übertrug, die doch eigentlich auch eine Sekretärin hätte erledigen könnte. Sie versuchte, unkonventionelle Methoden einzuführen und war enttäuscht, dass die anderen nicht mit fliegenden Fahnen die Überlegenheit ihrer Art der Gesprächsführung übernahmen, sondern sie geradezu ignorierten.
Doch auch bei Erzählungen aus dem Alltag dominierten die negativen Erlebnisse. Nach den zwei Wochen werden sie bei in einem Kaffeehaus in der Sonne sitzen und sie wird ein in der Straßenbahn erlauschtes Gespräch mit einem Mobiltelefon einer dicken, ungepflegten Frau berichten, die mit einer ungehobelten Sprache offensichtlich ihrem Mann von einem Vorstellungsgespräch berichtete, das nicht zu ihrer Zufriedenheit verlaufen war. Besonders alterierte sie sich abermals über das Dicksein und die Verantwortung, die jeder Mensch dafür trage. Sie verabscheute dicke Menschen – sie hatte ihn damals, als er weit über hundert Kilogramm wog, auch verabscheut, auch wenn sie das niemals so explizit zum Ausdruck brachte.
Einige ihrer Freundinnen hatten recht komplizierte Beziehungen zu Männern und lebten beinahe alle allein. Deren Lebensform wurde für sie allmählich zum angestrebten Lebensstil, auch wenn viele dieser Freundinnen ein solches Leben nicht angestrebt hatten, sondern durch die Umstände, die eben nicht so waren, darin gelandet waren. Sie sah nur deren Leben, wenn sie mit ihnen beisammen war, nicht aber die Wochenenden, in denen man auf einen Anruf hofft, die dunklen Abende des Herbstes, die die Einsamkeit der Nacht ankündigten. Er hatte bei seinem Besuch damals in Strasbourg einige dieser Freundinnen kennen gelernt und in den Zwischentönen der Erzählungen und manchmal auch direkt angesprochen deren stumme Trauer und deren Schmerz gefühlt. Sie fand diese Schicksale interessant.
Wollte sie auch ein solches?
Sie schwärmte ihm nach der Zeit in Strasbourg vor, wie sehr sie zum ersten Mal in ihrem Leben Frauenfreundschaften genossen hätte. Sie verstieg sich zu der Behauptung, dass ein Mann eine Frau niemals so verstehen könnte wie eine Frau, mit ihnen könne man über alles reden. Er hatte dem – teilweise aus Verbitterung, dass sie sich ihm nie vertrauensvoll geöffnet hatte – widersprochen, da er einen sehr starken weiblichen Part in sich fühlte und dachte, dass er sie sehr wohl gut verstünde und sich auch in sie hineinversetzen könne.
Es endete wie immer mit einem Streit, damals in den zwei Wochen.
Als sie später nach der Trennung dieses Thema wieder ins Gespräch brachte, wird er ihr nicht widersprechen – nicht, weil er es nicht gekonnt hätte, sondern weil er merkte, dass sie davon überzeugt war. Überzeugungen kann man anderen nicht ausreden. Argumente drangen gegen den mit Vorurteilen gepanzerten Kern der Überzeugung nie durch.
Was musste sie verteidigen?
In den zwei Wochen und auch noch ein Jahr danach wird sie seine Nähe als bedrohlich empfinden. Sie wird seine Aufmerksamkeit, ihr in den Mantel zu helfen, ihr bei den Alltäglichkeiten an die Hand zu gehen, als übertrieben zurückweisen.
Und sie wird ihn zurückweisen, wenn er sie mehr als ein Jahr später zur Vorführung eines Films, in welchem er eine kleine Rolle gespielt haben wird, zu sich einladen wird. Wovor wird sie auch dann noch Angst haben? Vor dem Gefühl, ihm Unrecht getan zu haben? Ihre Entschuldigung am Jahrestag des Verlassens für die Art und Weise des Verlassens wird vor allem für sie wichtig sein und nicht für ihn. Wird er dann etwas erkennen können, was in ihr vorgeht?
Sie will Distanz.
Sie genießt es, zweimal in der Woche alleine im Wohnzimmer ohne ihn zu schlafen. „Achte Grenzen“ hatte sie ihm einmal als Tagesthema vorgegeben, als er sie darum bat. Er hatte ihr daraufhin in einer SMS geantwortet: „Grenzen gaukeln bloß Schutz vor. Grenzen machen unverwundbar, unberührbar. Liebe ist unsere unendliche Sehnsucht nach Grenzenlosigkeit“. Er dachte, ihr damit ein Zeichen zu setzen, dass er zwar ihre Grenzen achte, dass aber Grenzen auch trennen.
Sie beide trennen.
Sie erlebte es als Widerspruch.
Es waren die zahllosen Zurückweisungen und Verletzungen in ihrem Leben, die sie immer wieder in ihr sicheres Schneckenhaus zurücktrieben, die sie aber auch nie lernen ließen, was denn nun die richtige Distanz zu anderen Menschen für sie wäre. War es Distanzlosigkeit, dass sie andere Menschen durch ihr Verhalten Versprechungen machte, die sie dann nicht einhalten wollte oder konnte.
In den zwei Wochen hatte es sie es ihm mehrmals gesagt: „Ich weiß nicht, ob ich zurückkommen will“.
Aber sie war da. Das zählte für ihn, machte es aber auch unendlich schwierig, den Abstand zu ihr zu halten, den sie wünschte und er brauchte. Immer wieder pendelte er zwischen seinem Wunsch nach Nähe und seiner Notwendigkeit nach Distanz.
Nun war er es, der nicht wusste, was möglich und was notwendig war.
Mehrmals nahm er sie in den zwei Wochen an den Händen, um mit ihr zu sprechen, um die ständige Flucht vor seinen Fragen und ihren Antworten zu verhindern. Er wusste, dass er hier eine Grenze verletzte, auch wenn dies nie mit Gewalt geschah.
Sie sei kein Kind mehr.
Hier war wieder ihre Angst, wie ein Kind behandelt zu werden. Eine Angst, die im Widerstreit stand mit ihrer Sehnsucht nach dem Kindbleiben. Sie sehnte sich zurück nach der unschuldigen Liebe ihrer Kindheit. Er wusste wenig von ihrer ersten Liebe, die für sie so prägend war. Sie war nicht erfüllt worden. Darunter litt sie bis heute. Sie sprach nie mit ihm über ihren Schmerz damals. Sie wusste, diese Liebe konnte ihr niemand wegnehmen, diese Träume und Sehnsüchte, diese Erinnerungen und Wunden. Und es war eine Wunde, die sie auch nach so vielen Jahren noch mit sich herumtrug, für niemanden sichtbar. Manchmal stolz.
Du stolzes Herz, du hast es ja gewollt!
Du wolltest glücklich sein, unendlich glücklich,
Oder unendlich elend, stolzes Herz,
Und jetzo bist du elend.
Trafen diese Verse Heines nicht eher für sie zu als für ihn, der in diesen zwei Wochen all seinen Stolz und seine Selbstachtung verloren hatte.
Was war seine Wunde?