XX

In diesen zwei Wochen wird er sich fragen, warum er sie nie betrogen hat. Gab es keine Gelegenheit? Das, was sie ihm manchmal als Rigidität vorgeworfen hatte, war in wohlwollender Weise als Treue zu interpretieren. In Krisenzeiten – und die gab es früh, lange vor ihrer Hochzeit und auch danach – begann er manchmal zu träumen. Bevor er an ihrer Seite einschlief, versuchte er sich dann vorzustellen, wie es wäre, wenn er seine erste Liebe oder seine erste Partnerin wiederträfe. Er stellte sich ein schüchternes Abtasten vor – auf einer Parkbank, in einem Cafe – , ein langes Erzählen der eigenen Schicksale „seither“ und einer sich daran anschließenden Liebesnacht, die voller Zärtlichkeit aber ohne vollzogenen Geschlechtsakt blieb. Denn er war treu.
Treu bis zur Selbstaufgabe.
Sogar in seinen Träumen.
Später, als sie in Strasbourg war, lernte er in der Straßenbahn eine neu eingestellte Universitätsbedienstete kennen – sie hätte seine Tochter sein können. Sie hatte sich einige Male in der Straßenbahn gesehen, auf dem selben Weg zur Straßenbahn einander überholt. Eines Tages lächelte man mit einem Gesicht des Erkennens. Er hatte sie nie angesprochen, obwohl er es gerne getan hätte.
Soviel gestand er sich zu.
Sie war – wie er später erfuhr – die Nachfolgerin einer in Pension gegangenen Bediensteten, mit der er als EDV-Beauftragter der Abteilung häufig Kontakt gehabt hatte. Er war erstaunt, die „schöne Unbekannte“ – sie hatte hüftlanges rotblondes Haar, das beim Fahrradfahren wie eine Flamme hinter ihr leuchtete – statt der Kollegin zu anzutreffen. Sie lachten und fanden es einen schönen Zufall. Das „schön“ dachte er hinzu. Sie konnten gut miteinander reden, denn sie war offen und fühlte wohl, dass man sich einem Psychologen anvertrauen konnte. Sie hatte eine Trennung eben hinter sich gebracht und lebte mit ihrem Sohn allein, wobei dieser zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens große Lernprobleme hatte. Darüber haben sie dann dem Weg zur Universität einige Male gesprochen. Sein berufliches Spezialgebiet war Lern- und Unterrichtspsychologie. Er gab ihr gute Tipps für ihren Sohn mit und freute sich, wenn diese Erfolge zeitigten. Er hatte den Sohn einige Male in der Straßenbahn – wenn er etwas zu spät dran war, fuhr er mit ihr – kurz kennengelernt, fand allerdings keinen Kontakt zu ihm. Er suchte ihn auch nicht.
Sie war es, die ihm später, als er seine Radikalkur zur Gewichtsreduktion machte, den Tipp gab, wie sie manchmal die letzten drei Stationen zur Universität zu Fuß zu gehen. Das machte er auch bis zu den zwei Wochen und wird es auch darüber hinaus tun.
Später fuhr sie mit dem Fahrrad, hier gab es keine Treffpunkte mehr und sie blieb nur manchmal stehen, wenn sie einander schon nahe der Uni begegneten. Sie stieg ab und schob dann das Rad neben ihm her. Da die beiden dabei einige Male von einer Sekretärin beobachtet worden waren, wurde das Gerücht ausgestreut, dass er in sie verliebt wäre. Er lächelte und schwieg, als er davon hörte. Und es geschah, dass er es sich durchaus vorstellen könnte. Sie plauderten über Filme, die sie gesehen hatten. Als seine Frau in Wien arbeitete, hatte er einmal kurz überlegt, sie ins Kino einzuladen. Sie trug den selben Namen wie sie, was für ein Verhältnis wohl praktisch gewesen wäre. Bei ihren Gesprächen ertappte er sich immer häufiger, dass er nur von seiner Frau sprach und sie sagte, er könne stolz darauf sein, was diese täte. Als seine Frau später nach Wien ging – trafen sie sich auf Grund verschiedener Arbeitsrhythmen nur mehr selten und zufällig – war diese Kollegin dafür verantwortlich, dass er die Trennung auch als positiv erleben konnte. Von dieser Kollegin kopierte er aus dem Internet ihr Foto, druckte es aus und steckte es in das Geheimfach seiner Brieftasche. Er hoffte, seine Frau würde es vielleicht eines Tages zufällig entdecken und eifersüchtig werden … Wer nicht liebt, kann auch nicht eifersüchtig werden. Auch nach den zwei Wochen wird dieses Bild – inzwischen zerrissen und zerfleddert – noch immer in seiner Brieftasche stecken. Die beiden Frauen trafen sogar einmal bei einem Fest im Murpark aufeinander – er stellte die beiden einander vor und die Frauen redeten miteinander. Er konnte sich in diesem Augenblick vorstellen, dass sie Freundinnen hätten sein können. Allerdings mochte sie keine Frauen mit Kindern, denn die hätte nach ihrer Erfahrung nur ein Thema.
Er erzählte seiner Frau nachher, wie er diese Kollegin kennengelernt hatte. Er spürte keinen Funken Eifersucht bei ihr. Er war darüber traurig, denn er glaubte daran, dass Liebe auch Eifersucht bedingen muss. Oder war er enttäuscht, dass sie ihm keine so junge attraktive Beziehung zutraute? War sein Stolz verletzt. Nach den zwei Wochen fand er diese Episode nur mehr lächerlich.