XXIII

In der Zeit in Strasbourg rief er sie kein einziges Mal an – das hatte er versprochen und das würde er halten. Täglich eine SMS hatte er sich zugestanden, in der er nur ein Lebenszeichen geben wollte, da ihr Blick beim Abschied auch ein wenig Angst verspüren ließ, die sie um ihn hatte. Und diese Angst war berechtigt. Zum ersten Mal in seinem Leben wäre ihm der Tod nicht schrecklich erschienen, wäre er eine denkbare Lösung gewesen. Früher hatte er oft mit dem Selbstmord gedroht – eine seiner Stiche in ihr Herz, die in ihrer Beziehung tiefe Wunden hinterließen – und hatte das mit allem rationalen Kalkül eingesetzt. Er hasste sich jetzt dafür und flehte innerlich um die Chance, dieses zerstochene Herz, das nicht mehr für ihn schlug, in seine Hände zu nehmen und es streicheln zu können. Diese Chance musste sie ihm einfach geben. Gerade jetzt, wo sie zum ersten Mal das Messer in sein Herz gebohrt hatte – er erschrak über die Banalität seiner Metaphern -, sollte sie dieses eine Wort sprechen, um das er flehte: Verzeih. Er würde ihr verzeihen, das wusste er und er würde versuchen, ihren Betrug zu verstehen, der für ihr Überleben notwendig war. Was war jetzt für sein Überleben notwendig?
In den schlaflosen Nächten der Strasbourg-Zeit, in denen er nicht aus ihrer Gegenwart einen winzigen Funken Hoffnung schöpfen konnte, bemerkte er seine Fixierung auf ihn. Sie verschwand in diesen Tagen aus seinen Gedanken und er fokussierte auf ihn, den Empfänger der Brieflein. Wieviele Brieflein hat sie ihm bis jetzt schon aus Strasbourg gesandt. Wieviele er an sie? Wollte er mit seinen zu ihm in Konkurrenz treten? Ein SMS-Wettkampf um ihr Herz?
Der Kampf um sie war einem Kampf gegen ihn gewichen, der einem Kampf gegen ein Phantom glich. Das Phantom sollte endlich ein Gesicht bekommen. An diesem Tag fand er auf Grund der Telefonnummer – diese hatte er früher schon öfter auf dem Display des Festnetztelefons gesehen, aber immer war die Verbindung nach dem Abheben unterbrochen worden – eine sehr gesprächige Mitarbeiterin. Er hatte zwar schon einmal die Hauptnummer dieses Telefonnetzwerkes angerufen und vom Chef persönlich Auskunft über das Aufgabengebiet erhalten, aber er hatte das nicht weiter verfolgt. Jetzt hatte er einen Firmennamen, nach einem Blick in das Firmenbuch den Namen eines Gesellschafters, den er kannte – eine Jugendliebe seiner Frau. Er überprüfte zwar alle Namensträger in Österreich, hatte aber zuvor seine Schwiegermutter angerufen und sie nach dem Namen gefragt. Von ihr erhielt er neben anderen Informationen auch einen Wohnort in der Nähe von Graz. Ein Anruf bei der Frau des Betreffenden bestätigte die Konnektion des Namensträgers mit dieser Firma, aus deren Telefonnetzwerk der Anruf an sie gekommen war. Er begründete seinen Anruf nicht, sondern legte nach der Verifizierung einfach auf. Sollte er sich an sie wenden? Sollte er einfach sagen: Ihr Mann betrügt sie mit meiner Frau. Davor schreckte er zurück. Sollte er in deren Beziehung genauso eindringen wie er in seine?
Das Phantom der schlaflosen Nacht bekam für ihn nun nicht nur ein Gesicht und eine Geschichte, die schon lange vor seiner Zeit in ihrer Kindheit als Schwarm begonnen hatte – ob es ihre erste Liebe war? –, sondern auch ein tragisches Schicksal, das ihn einen Sohn bei einer Herztransplantation verlieren ließ – dunkel erinnerte er sich daran, dass sie ihm damals als Psychologin beigestanden war – hatte sie es ihm erzählt oder hatte er es von jemand anderem erfahren? Und diese Beziehung war wohl niemals ganz abgerissen. Er begann, ein gewisses Verständnis für den anderen zu entwickeln, nicht dass er ihn nun gemocht hätte, aber es regte sich in ihm so etwas wie Mitleid mit ihr. Er wusste, dass eine erste Liebe immer eine erste Liebe bleibt. Er verstand nun auch, warum sie dieses Wort, mit dem er ihn bedacht hatte, so verletzt hatte. Diese erste Liebe kann man dem anderen niemals wegnehmen, also auch nicht den Menschen, dem sie zugeeignet war. Man kann danach nur versuchen, eine reifere Liebe zu entwickeln, eine, die nicht bloß auf Hormonen basiert, der ersten Sehnsucht oder der ersten Gelegenheit. Es gab in seinem Leben mit ihr einige Momente, in denen er sicher war, dass ihre Liebe stärker war. Diese Momente lagen lange zurück. Doch jetzt, nachdem er wieder unter solchen Umständen einen Blick in ihre Seele getan hatte, fühlte er erneut, dass seine Liebe stärker sein wird. Ihm war auch klar, dass sie einen Schritt auf ihn zugehen musste, denn es war ein Bruch des Vertrauens. Vielleicht konnte diese Zeit jene Öffnung in ihr ermöglichen, die ihr bisher nie möglich gewesen war. Er begann wie in den ersten Tagen nach der Entdeckung Gedichte zu schreiben, in denen er diese Hoffnung beschwor, in denen er sich selber Mut machte.
Um nicht passiv die Tristesse über sich ergehen zu lassen, begann er mit seinem Sohn das schon einmal versprochene Zimmer in der Wohnung für sie einzurichten, in denen sie vor ihm geschützt war. Diesen Rückzugsraum würde er respektieren, dessen war er sich sicher. Er wusste, dass sie für ihn da sein würde, wenn er sie brauchte. Was brauchte er denn? Er wollte sein Leben zurück, das er so ausschließlich auf sie ausgerichtet hatte. Nur mit einem eigenen Leben sah er eine Chance, sie wieder zu erreichen.
Ihm wurde klar, dass einer der Gründe, warum ihre Liebe zu ihm erloschen war, wohl auch darin begründet lag, dass er einfach aufgehört hatte, als eigenständiges Lebewesen zu existieren. Irgendwann war er nur mehr ein Geschöpf, das allein von ihren Launen und Vorstellungen abhing, das nichts Eigenständiges mehr hatte. Es war ein Klon in ihrem Gehirn, äußerlich identisch, nur während er bloß mehr die Hülle darstellte, war diese in ihrem Kopf gefüllt mit all dem Schmutz, der sich in einem langen gemeinsamen Leben angesammmelt hatte. Sie hatte irgendwann aufgehört, ihn wahrzunehmen.
Er ließ ein Türschild anfertigen, auf dem er ihren Mädchennamen eingravieren ließ und darunter die Berufsbezeichnung Schriftstellerin. Dieses würde er an der Wohnzimmertür – dieser Raum war der größte, den er ihr überlassen wollte – anbringen und als eine Art Garconniere wie ihre Wiener Wohnung damals einrichten, mit einem Schlafbereich, einem Wohnbereich und einem Arbeitsbereich als Autorin. Es waren zwar die alten Möbel, aber er würde die Bilder aufhängen, die sie in der Wiener Wohnung hängen hatte und so für sie einen Bereich schaffen, in dem sie auf Distanz zu ihm leben konnte. Zum ersten Mal in seinem Leben verstand er, dass in ihr solch ein unermesslicher Drang nach Unabhängigkeit vorhanden war, immer schon vorhanden gewesen war, dass ihm allmählich dämmerte, was es für sie bedeutet hatte, sich in die Fesseln einer Beziehung und Ehe zu begeben.
Wie sehr musste sie ihn geliebt haben.
Mehr, so sagte er sich, könne er nicht tun, um ihren Drang nach Unabhängigkeit zu erfüllen, ohne seine eigene Existenz zu zerstören, die zu diesem Zeitpunkt in diesem ihrem Raum mit ihr leben würde. Er würde versuchen, in den nächsten Monaten von ihr nach und nach sich selber zurück zu fordern.
Er würde diese Wohnung mit Blumen schmücken und sie nach ihrer Rückkehr bitten, sich von ihm mit geschlossenen Augen zu der Zimmertür führen zu lassen. Wenn er damit nicht an ihr Herz herankomme, dann wäre alles zu Ende. Das fühlte er mit aller Angst, sodass der Gedanke eines „zu spät“ sein Herz immer wieder rasen ließ.
War die Wärme der Umarmung beim Abschied nicht ein Unterpfand für das „Versuchen wir’s“? Hatte sie in Strasbourg nicht auf Distanz wieder einen Blick auf das dennoch Mögliche geworfen?
Es nicht zu wissen, ließ ihn ruhelos umherwandern.
Nach der Strasbourgvisite war in Graz das alljährlich sich wiederholende Feuerwerk an der Mur, das sie früher häufig gemeinsam am Fenster im Wohnzimmer, von welchem aus sie ein großes Stück des Himmels sehen konnten, beobachtet hatten. Er erinnerte sich, dass sie sich früher sehr oft an ihn, der er schon am Fenster stand, anschmiegte, die körperliche Nähe suchte. Immer wieder hatte er diese Nähe als Beengung empfunden, die ihm den Atem nahm, ohne zu wissen warum. Was bedrohte sie damals? Wie musste es sie verletzt haben, dass er sie in diesen Augenblicken zurückwies, dass er sich von ihr löste, einen Schritt zum anderen Fenster machte. Nun stand sie am Fenster und er trat hinter sie, ohne sie zu berühren. Einige Male beugte er sich vor und sog den Duft ihres Haares ein, in dem noch ein Hauch ihres Parfums hing. Wie liebte er dieses Haar. Auch wenn er sie nicht berührte, fühlte sie seine Nähe und jetzt war sie es, die ans andere Fenster trat. Er wagte nicht, ihr zu folgen. Nach dem Feuerwerk saß er lange in seinem Arbeitszimmer und versank in ein gedankenloses Nachfühlen, in dem er den versäumten Momenten nachspürte, in welchen sie ihm ihre Liebe gezeigt hatte. Wie sehr schmerzte es ihn, dass er ihre Liebe damals nicht an sich herangelassen hatte.
Da war doch die Antwort auf all seine Fragen.
Sie hatte ihn unendlich geliebt.
Als sie ihm vor dem Schlafengehen eine gute Nacht wünschte und ihn seit langem – wenn auch bewusst, da er sie darum gebeten hatte; welch ein Zeichen! – mit dem Vornamen ansprach, bat er sie um Verzeihung für die früheren Zurückweisungen, denn erst jetzt erkenne er, wie groß ihre Liebe damals gewesen sein musste. Das wäre alles Vergangenheit, das wäre vorbei, war ihre Antwort. Und er suchte in ihrem Blick eine Spur der Trauer, er fand aber nur Müdigkeit und Enttäuschung.
Er wird sie am nächsten Tag noch einmal darauf ansprechen. Er wird sie beschwören, dass eine einmal gefühlte Liebe für immer bestehen bleibt, dass es nur Hindernisse sind, die das Leben im Laufe der Zeit davorgeschoben hat, dass aber solche Momente der Liebe eingebrannt bleiben wie all die Wunden der Verletzungen. Dass es aber keine Waage gäbe, die versäumte Liebe gegen die Schmerzen abzuwägen, dass es kein Nullsummenspiel sei, bei dem sich Einsatz und Gewinn aufheben. Liebe ist kein Spiel und kein rationales Kalkül, das sich in Zahlen bemessen lasse. Liebe sei immer maßlos. Er glaube fest daran, dass auch in ihm diese Augenblicke bis heute fortleben, nur verschüttet seien unter Lieblosigkeiten und Enttäuschungen. Liebe selber aber sei unzerstörbar. Warum sonst wäre gestern die Erinnerung in beiden so mächtig gewesen, kraftvoll und brennend wie damals, als er ihre Liebe zurückgewiesen hatte? Er könne die Zeit nicht zurückdrehen, aber er könne heute ihre Liebe von damals spüren, er hätte sie all die Jahre in sich aufbewahrt und ihr zurückgeben. Er glaube daran, dass sie nur bereit sein müsse, die ihr gestohlenen Gefühle zurückzunehmen. Nicht um ihn erneut zu lieben, sondern um sich jenes Leben zurückzuholen, das er ihr in seinem Unverstand genommen hatte.
Wie sehr musste sie ihn geliebt haben.