XXVI Aus.Sprache

Sie werden sich, nachdem sie sich abermals ins Kloster geflüchtet hat – Auslöser ein Missverständnis oder eine Lappalie wie immer – keiner wird es später genau wissen -, zu einem ersten Gespräch nach ihrer SMS „Ich habe endlich den Mut, dich zu verlassen. Ich werde alleine leben. Bitte respektiere das. C.“ und seiner Antwort, sich zu treffen, um mit Anstand auseinander zugehen, in einem Lokal namens Agathon zusammenkommen und zwei grässliche, fette Hauptspeisen essen, die zur Qualität ihres Gespräches passten.
Das Zustandekommen dieses Treffen war typisch für ihre Beziehung, denn er hatte ihr angeboten, dass sie nach dem ersten Tag im Kloster und dem Besuch ihrer Eltern in Spitz ins Gästezimmer zurückkommen und danach über die Trennung gesprochen werden sollte, doch sie hatte schon bis zum Ende der Woche im Kloster reserviert, jedoch am Telefon zugesagt, dass sie nach dieser Woche in ihre gemeinsame Wohnung ins Gästezimmer käme.
Am Tag davor teilte sie ihm in einer SMS mit, dass sie doch im Kloster bleiben könne und sie sich allein in dem besagten Lokal Agathon treffen könnten, um zu reden.
Er hatte in dieser Woche eine Psychotherapie bei einer erfahrenen Therapeutin begonnen und auch in einem Arbeitskollegen einen unerwarteten Freund entdeckt, der ihm in stundenlangen Gesprächen hilfreich zur Seite stand. Und in dieser Woche hatte er sich darauf vorbereitet, mit ihr einige Tage einfach nur zu leben, um von dem quälenden Erregungslevel herunterzukommen und nach dieser Zeit behutsam an die Trennung heranzugehen. Daher war diese abrupte Absage ein Schlag in sein von der Therapeutin und ihm selber mühsam aufgebauten Selbstbewusstsein, mit ihr in Ruhe über die Trennung zu sprechen, sodass er nach dieser SMS zusammenbrach – wie damals, als er vom anderen erfahren hatte und den Boden unter den Füßen verlor.
Seinem Freund gelang es in langen Gesprächen abermals, einige positive Aspekte dieser neuen Situation zu finden. Eine für beide unbekannte Umgebung sei doch ein Zeichen für einen Neubeginn, ein Zeichen, nicht wieder im alten Fahrwasser aufeinander zuprallen. Er wollte also trotz der Absage der zeitweiligen Rückkehr positiv gestimmt hingehen. Er wollte – der Name Agathon bedeutet in der Aristotelischen Ethik „das Gute“ – nur über gute Dinge in ihrer Beziehung reden, keinesfalls aber am ersten Tag gleich über die Trennung sprechen. Er dachte auf Grund des Namens, es handelte sich um ein griechisches Lokal, und brachte Erinnerungen aus ihren gemeinsamen Urlauben in Griechenland mit.
Diese blieben unbesprochen.
Er war knapp nach ihr zum Lokal gekommen, wo sie gerade vor dem Eingang stand, um die Speisekarte zu lesen. „Nun, was gibt es Gutes zu essen?“ Dabei ging er auf sie zu und wollte sie küssen. Sie wich zurück und warf ihm jenen abweisenden Blick zu, unter dem er in den letzten Jahren so gelitten hatte und alle seine Versuche, freundlich zu sein, konterkarierten. Ihr Blick tötete nicht, ihr Blick hinterließ das Nichts.
„Warum schaust du denn so finster?“
„Ich lasse mich von dir nicht mehr auf den Mund küssen!“
Sie gab ihm kopfschüttelnd einen Kuss auf die Wange. Sie traten ins überhitzte Lokal, in der es manchmal auch unerträglich laut war, sodass ihre Kommunikation in einer für den Inhalt viel zu lauten Tonlage ablief, immer wieder an der Unverständlichkeit einzelner Wörter litt, da sie im Lärm einer großen Gruppe von Studentinnen untergingen, die am Nebentisch saßen.
Für sie kämen nur mehr Gespräche in einer geschützten Öffentlichkeit in Frage, keine mehr unter vier Augen. Er erlebte diese Situation nicht als Schutz, sondern einfach bloß als störend, da er pausenlos das Gefühl hatte, dass das daneben sitzende Paar immer wieder ihr Gespräch unterbrache, um ihnen zuzuhören. Der joviale Wirt mit einer künstlichen Fröhlichkeit trug das seine dazu bei, dass er nicht einmal in Ansätzen jenen Ton anschlagen konnte, den er sich vorgenommen hatte. Einen warmen und ihre Entscheidung akzeptierenden, einen den er in einem kleinen Monolog in sein Weblog gestellt hatte:
Die Stimme des Angenommen-Seins
Als wir heute am Telefon darüber sprachen, wie wir uns in nächster Zeit mit Anstand trennen könnten und du über mein Angebot sprachst, eine Woche in unserem Gästezimmer bei mir zu wohnen, da bekam und hatte deine Stimme einen Tonfall, den ich schon lange nicht mehr bei dir gehört habe. Während des Gespräches habe ich deiner Stimme nur nachgefühlt und empfand eine innere Ruhe in mir, die auch danach noch lange anhielt.
Ich habe danach immer wieder darüber nachgedacht und immer wieder in der Erinnerung in deine Stimme hineingelauscht, bis ich plötzlich begriffen habe, was der Unterschied zur Stimme deiner letzten Jahre war: ich fühlte mich von dieser deiner Stimme angenommen, als Mensch verstanden, eingehüllt in menschliche Wärme.
Wenn du aber in den letzten Jahren mit mir sprachst, lag in deiner Stimme ein Ton der Gleichgültigkeit, manchmal des Spottes, manchmal – selten zwar – auch der Feindseligkeit.
Ich habe auch in den Tonfall meiner eigenen Stimme der letzten Jahre hineingehört und fand darin die Härte der Enttäuschung, den Wunsch nach Kampf, den Geist des Widerspruchs, das Aufsteigen der Angst vor Verlust.
Unsere Stimmen waren so der Spiegel unserer Gedanken und unserer Gefühle.
Könnten unsere Gedanken und Gefühle nicht auch ein Spiegel unserer Stimmen sein? Könnten wir nicht in gegenseitigem Respekt diesen Tonfall erlernen und üben, bis unsere Gedanken und Gefühle nur eines wollen: den anderen annehmen, so wie er ist? Die Worte des anderen auf einem warmen Polster der Einfühlung landen lassen und nicht an einer glatten Mauer der Kälte abprallen lassen?

Diese lärmende, seine Worte erstickende Öffentlichkeit erregte ihn und ließ ihn von Anbeginn an keinen klaren Gedanken fassen. Warum – so wird er sich später fragen – warum hatte er einfach nicht nur geschwiegen? Das hatte er früher doch auch getan? Warum sagte er nicht einfach, dass er sich hier für ein solches Gespräch nicht im Stande fühlte? Aber er saß in der Falle, in der ihn seine Emotionen so oft tappen ließen.
Die Öffentlichkeit war für sie hingegen ein Schutz vor Übergriffen, wie etwa jenem, den sie vor einer Woche zum Anlass genommen hatte, ihn endgültig zu verlassen. Er hatte sie im Schlafzimmer festgehalten, als sie wieder einmal vor einem konkreten Gespräch flüchten wollte. Das war wieder sein Klammern gewesen, das sie so sehr an ihm hasste. Er wusste es noch in dem Augenblick, als er neben ihr am Bettrand saß und konnte doch nicht anders. Wie kann man an einen Menschen herankommen, wenn er ständig auf der Flucht ist? War er zu keinen Worten mehr fähig, die sie gehalten hätten? Wollte sie sich von seinen Worten nicht mehr halten lassen, denn zu oft waren diese Schall und Rauch gewesen?
Er wird sie im Agathon einladen, am kommenden Dienstag mit ihm zur Psychotherapeutin zu gehen, um im Beisein einer Dritten zu Klärungen zu kommen. Klärungen, die nichts an der Trennung ändern konnten, sie beiden aber erleichtern könnten. Sie zeigte sich erstaunt, dass er Hilfe gesucht hatte und das war der einzige Moment in ihrem Gespräch, in dem er fühlte, dass er an sie herangekommen war.
Hatte sie jemanden, mit dem sie sprechen konnte? Sie war eine Einzelkämpferin, eine Charakteristik, die sie häufig ihm zugeschrieben hatte. Immer wieder wird sie an diesem Abend auf ihrem Entschluss beharren und es damit begründen, dass es ihr seither immer besser gehe. Sie wird jene beharrlichen Wiederholungen machen, die sie ihm stets vorgeworfen hatte, sie sei kein Kind und würde es schon beim ersten Mal verstehen.
Sie würden nach dem Agathon auf seinen Vorschlag hin noch in eine Bar wechseln, die er in der Zeit ihrer Abwesenheit in Strasbourg kennengelernt hatte, zögernd eingehen. Auf dem Weg dorthin wird sie sein Angebot, doch hie und da miteinander etwas zu unternehmen, sehr abwehren und ihm vorhalten, dass er im Frühjahr das Angebot, mit ihr Tennis zu spielen, abgelehnt hatte.
Wären solche Trivialitäten geeignet gewesen, die Trennung zu verhindern? Verzögert hätten sie sie bestimmt, denn der gemeinsame Sport hatte früher einfach die Zeit begrenzt, in der man streiten konnte. That′s it!
Er wird ihr in der Bar den Vorschlag machen, für sie gemeinsam eine Wohnung zu kaufen, in der sie alleine leben könnte – das war von den von ihm vorher durchgedachten Trennungsszenarien bereits das äußerste, das er sich vorstellen konnte. Sie hatte aber schon einen Vorvertrag für eine eigene Wohnung unterschrieben – genau das, was ihm sein Kollege am Vortag vorhergesagt hatte: Sie wird Zeichen setzen, um nicht abermals nachzugeben zu können. Sie wird in ihrer Verzweiflung, die aus ihrer Erfahrung kam, ihr Handeln selber unter Druck setzen. Zu oft hatte sie nachgegeben, hatte sie es noch einmal versucht, um abermals enttäuscht zu werden. Auch ohne Liebe, aus Pflicht und Anstand. Warum konnte er nicht das an ihr schätzen? Warum hat er es ihr nicht mit Dank vergolten? Warum musste es seine unersättliche, verschlingende Liebe sein?
Mietverträge könne man kündigen, auf gekauften Wohnungen bleibt man oft sitzen, hatte sein Freund optimistisch noch hinzugefügt. Was tat er nicht alles, um ihn nicht in einem tiefen Loch versinken zu lassen.

An ihrem Gesprächsstil änderte sich auch im neuen Lokal wenig. Nur beim Abschied an der Straßenecke werden sie gemeinsam über ein Paar Damenschuhe lachen, die neben einer Abfalltonne auf der Straße lagen. Er wird sie umarmen, unter Tränen, die er bisher in diesem Treffen unterdrückt hatte. Sie wird die Umarmung geschehen lassen.
Umarmungen und Berührungen waren in den letzten Jahren selten geworden – früher waren sie immer einseitig gewesen. Er hatte sie berührt, er hatte sie umarmt. Niemals war es umgekehrt. Sie mied und verweigerte ostentativ Berührungen in der Öffentlichkeit, fand sie später ihrem Alter nicht entsprechend. Ein Jahr nach der Trennung wird er eine Szene anlässlich einer Lesung aus ihrem inzwischen veröffentlichten Roman beobachten, die ihn wieder an diese Abwehr erinnern wird, schmerzlich. Nach der Lesung in einem Jazzlokal sprach sie vor ihm stehend mit einem viel jüngeren Mann, den sie erst seit etwas mehr als einer Woche anlässlich eines Seminars kennengelernt hatt. Dabei griff sie nach dessen Arm und streichelte ihn zwei-, dreimal. Wieder schossen ihm die Tränen in die Augen, denn er erlebte nach einem Jahr abermals jene Enttäuschung, die ihn durch dreiunddreißig Jahre begleitet hatte. Wie oft hatte er in ihrer Gegenwart andere Paare beobachtet, die einander berührten, die Hand dem anderen auf die Schulter oder den Arm legte, den Kopf streichelte … Wie sehr hatte er die dreiunddreißig Jahre auf ein solches Zeichen der Nähe, des Vertrautseins, der Zuneigung gehofft … Wie oft hatte er es selber getan, in der Hoffnung, dass sie es eines Tages vielleicht erwidern würde. Die Hand auf seine zu legen und damit zum Ausdruck zu bringen, ihm nahe zu sein. Nach einem Jahr der Trennung sieht er diese Geste – beiläufig und wie selbstverständlich – bei einem anderen Mann. War sie eine andere geworden? In einem Jahr des Alleinlebens. Hatte sie vielleicht spät erkannt, wie wichtig Berührungen im Umgang mit andern Menschen auch in der Öffentlichkeit sind. Diese Zeichen der Vetrautheit. War er ihr nie vertraut?
Bei diesem Abschied hatte sie die Umarmung geschehen lassen, nicht erwidert. Er wird fühlen, dass dieser Abschied anders war. Auch wenn sie darüber gesprochen hatte, nach einiger Zeit vielleicht eine Freundschaftsbeziehung mit gemeinsamen Unternehmungen zu ermöglichen, so spürte er, dass die Chance zu gering war, um ihn zu trösten, dass es im Augenblick keinen Sinn machte, irgendeine Hoffnung daran zu knüpfen.
Hoffnung, sein großes Lebensprinzip.
Hoffnung? Blindheit vor der Realität.
Er machte in dieser Nacht kein Auge zu, denn ihm war endgültig klar geworden, dass es kein Zurück gab, dass das Bett neben ihm für immer leer bleiben würde, dass er nie wieder mit ihr schlafen würde, dass sie nie mehr zärtlich zu ihm sein würde.
Für die nächste Nacht wird er Schlaftabletten kaufen – nicht jene, die ihm seine Schwiegermutter in den letzten Wochen immer wieder empfohlen hatte – und ihr einige davon mitbringen, denn er fühlte, dass auch sie noch lange nicht zur Ruhe gekommen war. In dieser Nacht des Abschieds wird er zweimal aufstehen und auf ihre Mailbox sprechen. Das erste Mal mit der Bitte, ihm doch sein Leben zurückzugeben, damit er sie hassen könnte. Das hatte ihm sein Verstand eingegeben. Und das zweite Mal, um sie anzuflehen, doch wieder zurückzukommen. Das war wieder seine überquellende Emotion. Diese Bitte war auch das, was ihm sein Sohn immer wieder empfohlen hatte – ihr doch einfach zu sagen, dass er sie brauche. Darum ginge es ihm doch letztlich. Er hatte diesen Vorschlag bisher stets für aus der jugendlichen Naivität geboren gehalten, dachte in diesem Augenblick aber, dass ihr Leben wohl anders verlaufen wäre, hätten sie ihre Bedürfnisse direkter und offener angesprochen.
Drei Minuten lang wird er das flehentlich auf ihre Mailbox sprechen. Die für ihn vermeintliche Selbsterniedrigung – in Wahrheit war er längst auf diesem untersten Niveau der Selbstachtung angekommen – hatte in seinem Leben den Höhepunkt oder besser Tiefpunkt erreicht. Er war jetzt um 4 Uhr und 12 Minuten in jenem Tal, in das kein Funken Licht mehr fallen würde, wäre nicht ohnehin Nacht gewesen. Der Sarkasmus dieser Anmerkung war ihm voll bewusst.
Bis zum Aufstehen um 7 Uhr wird er weiter keinen Schlaf finden, aber jene Antwort, nach der er seit Beginn der zwei Wochen und danach vergeblich gesucht hatte: Warum sie ihn verlässt.
Und er wird sie um 9 Uhr anrufen und sie um ein Treffen bitten, um ihr sein Warum zu sagen. Sie werden sich verabreden, zuvor aber gemeinsam einen Film – einen Film über die Rache einer Frau an einer anderen, die ihre Karriere zerstört hatte – anzusehen, und danach miteinander reden.
Er wird ihr nach einem kurzen Gespräch über den Film sagen, dass er ihr Warum kenne, das sei einfach das „Ich liebe dich nicht mehr“.
Sein Warum sei dazu immer komplementär gewesen.
Sein Warum ist die Liebe, die er ihr seit Anbeginn entgegengebracht hatte. Sein idealisierter Entwurf einer absoluten Liebe, die den anderen so völlig in sich umschließt, dass diesem kein Platz mehr bleibt. Ein völliges Aufgehen im anderen, die absolute Synthese ohne Dialektik, ohne Weiterentwicklung, ohne Chance auf Überleben.
Eine vor allem in Krisensituationen erstickende, Atem beraubende Liebe. Und diese Liebe brauchte keine Anlässe für Krisen, sie schuf sie sich selber durch Eifersucht und dem immer drängenderen Wunsch nach Mehr.
Seine Liebe war unendlich und ihre endlich, ihre war irgendwann einmal aufgebraucht. Ihre Liebe war eine wunderbare, ursprüngliche, direkt das Herz anrührende gewesen, die ihn damals vor dreiunddreißig Jahren vom ersten Augenblick an gefangen hatte. Und er hatte vom ersten Tag an begonnen, diese zarte Liebe im Käfig seiner für das Leben geplanten Liebe einzusperren. Langsam und allmählich, damit sie es nicht gleich merkte. Diese Pläne beruhten teilweise auf Enttäuschungen, die er erlebt hatte. Nach dreiunddreißig Jahren wird er erkennen, dass das Objekt seiner Liebe einer anderen Liebe bedurft hätte. Dass seine Liebe die falsche gewesen war. Wäre er heute zur richtigen im Stande?
Er hatte sie wie das letzte Stück eines Puzzle schließlich so in den Lebensentwurf mit seiner Liebe eingepasst. Ab diesem Augenblick war nun jene Vollkommenheit erreicht, die in ihrer Perfektion nur noch abstoßend und hässlich ist, wie das absolut Schöne den Betrachter ebenfalls zurückweichen lässt.
Diese seine Liebe war von Anbeginn an sowohl von physischer als auch psychischer Nähe besessen, die im Lebensalltag nicht zu realisieren war – es sei denn, sie wären auf eine einsame Insel gezogen und hätten dort auf den Tod gewartet -, sodass alles, was er ihr in den dreiunddreißig Jahren nach und nach angetan hatte, von der ausschließlichen – und sie auch ausschließenden – Idee getragen war, sie mit seiner Liebe immer und überall im Griff zu haben.
Und es war ihm gelungen.
Bis vor den zwei Wochen.
So perfekt gelungen, dass er gar nicht gemerkt hatte, dass sie sich immer mehr umklammert und eingeengt fühlte, dass es keine Liebe mehr war, die sie mit ihm erlebte, sondern ein gewaltsames Festhalten, ein Besitzergreifen von ihrem Körper und ihrer Seele.
Wenn es ihm einmal nicht gelungen war, sie fest zu halten, sondern sie ausgebrochen war – häufig nicht wegen ihm; doch es war ein Merkmal seiner Liebe, alles auf sich und diese Liebe zu beziehen -, dann war ihm jedes Mittel Recht, seine absurden Vorstellungen einer Illusion von Liebe durchzusetzen. Mittel, die in einer Liebe – warum hatte er sich das nie gefragt? – nichts zu suchen hatten, sondern nur den Hass verkörperten, den er auf sich selber zu entwickeln begann, als er sah, mit seinem Lebensentwurf einer Liebe zu scheitern.
Er begann sie zu belügen und zu täuschen, denn in seinen Augen war sein zerstörerisches Verhalten durch das hohe Ziel der absoluten Liebe gerechtfertigt. Ihr Tränen deutete er lange noch als Liebe, obwohl sie doch für sie nur Zeichen der Trauer über den Verlust ihrer Liebe, seiner Liebe, ihrer gemeinsamen Liebe waren. Sie zog sich immer mehr in ihr Schneckenhaus zurück, aus dem sie allmählich gekommen war. Hatte ihn das gestört? Sah er sie nach einiger Zeit nicht am liebsten immer dort eingesperrt, konnte er sich ihrer doch nur dort sicher sein, gab es von dort kein Entrinnen vor seiner Besitzgier?
Lange hatte sie es still ertragen, jene Verletzungen, die sie nicht verstehen konnte, waren sie doch so absurd, dass man an seinem Verstand zu zweifeln begann, wenn man sie erklären wollte. Und diese Schizophrenie, die er sie zu leben zwang, die sie schmerzlich fühlte, aber erst spät artikulieren konnte, zerstörte alles an Gefühlen in ihr, die sie für ihn empfunden hatte. Und auch die Erinnerung an die schönen Augenblicke in ihrem Leben wurden zerstört, denn allzu tief war die Waagschale des Negativen in der lebenserstickenden Gegenwart gesunken.
Sie hatte ihn geliebt.
Seine Liebe hatte ihre zerstört.
Er hat sie nie geliebt.