IV Stör.Fallen

Die nächste Nacht verbrachte sie wie üblich im Wohnzimmer, wo sie zwei alten Matratzen aufeinander liegend zu einem bequemen Bett für Gäste eingerichtet hatten. Da er an Montagen nicht an seinem Arbeitsplatz an der Universität arbeiten musste, schlief sie dort, ließ sie ihn morgens schlafen und nahm das Frühstück in einer nahe gelegenen Bäckerei.
Seine Nacht war schlaflos.
Er zählte alle Viertelstunden die Schläge der Repetieruhr im Esszimmer.
Eins, zwei – eins, zwei – halb vier.
Eins, zwei – eins, zwei, drei – dreiviertel vier.
Er stand auf und ging ins Wohnzimmer. Er setzte sich neben sie auf den Boden.
Um vier Uhr vermutete er durch ihr unregelmäßiges Atmen und mehrere Bewegungen ein Wachsein und flüsterte nach einigen Minuten des Abwartens, ob er etwas sagen könne.
Er wusste zwar nicht, was er hätte sprechen sollen, aber er wollte aus dem Karussell seiner Vermutungen, Ahnungen, Befürchtungen ausbrechen.
Ein Wort von ihr hätte vielleicht genügt. Sie stellte sich schlafend, davon war er überzeugt – wie so oft in letzter Zeit, wenn sie gemeinsam im Ehebett schliefen. Da er meist einmal in der Nacht Wasser lassen musste und er dabei hörte, wie sie wach war oder wurde und einen Schluck aus dem Glas nahm, das neben ihrem Bett stand, wusste er, dass sie nicht schlief.
Wenn das nahe der Aufstehenszeit war, machte er ihr dann manchmal den Vorschlag zum Kuscheln – meist lehnte sie ab, aber einmal war sie vor einiger Zeit doch in seinem Arm eingeschlafen.
Jetzt hoffte er an ihrem Bett sitzend auf eine Reaktion. Vielleicht könnte er seine Gedanken durch eine Berührung zum Verstummen bringen. Er legte die Hand auf ihren Rücken. Sie reagierte nicht.
Sie schwieg wie immer. Wollte schweigen. Verschlossen.
Er konnte sie nicht fragen.
Nach einer halben Stunde erhob er sich und ging leise, um ihren Schlaf nicht zu stören – der Schlaf war ihr in den letzten Jahren immer heiliger geworden – zurück ins Schlafzimmer.
Da waren sie wieder, alle die Gedanken, die Stimmen.
Er stand noch vor ihrer üblichen Weckzeit auf und wusch in der Küche das Geschirr vom Vortag. Als sie dann ins Bad kam, eröffnete er ihr, dass er heute ausnahmsweise nicht liegen bleiben wollte, da er einen Kaffee brauche und sie praktischerweise gleich mittrinken könne.
Er war überhaupt sehr praktisch veranlagt. Auch etwas, das sie an ihm allmählich zu hassen begonnen hatte. Er organisierte alles, perfektionierte die Abläufe und verlangte von ihr, das auch zu tun. Indirekt gab er ihr manchmal zu verstehen, dass man für den Abwasch am Sonntag Vormittag nicht eine halbe Stunde braucht, sondern dass das in fünf Minuten zu erledigen wäre. Und er erledigte es in drei. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sie sich absichtlich so lange Zeit ließ, sich in der Küche einfach auf den Stuhl setzte und Radio hörte. Sie täuschte Haushaltsarbeit vor.
Um nicht mit ihm zusammenzutreffen?
In der ersten Zeit ihres Zusammenlebens hatte er sie morgendlich mit klassischer Musik und seinen Kenntnissen dazu beinahe vergewaltigt – sie empfand es zumindest so. Ihr widerstrebte es, beim Musikhören geprüft zu werden. Sie wusste, dass die klassische Musik aus seiner Zeit mit seiner ersten Liebe stammte. Seit ihrer Zeit in Strasbourg nützte sie die Musik, um ein Gespräch zu vermeiden. Eine ihrer ersten Handlungen am Morgen war das Einschalten der Musik. Sie duschte mit Musik. Sie schrieb ihre Erzählungen bei Musik. Sie verwendete Musik als Schutzschild gegen seine Stimme. Gegen ihn.
Schon vor den zwei Wochen hatte er begonnen, selber am Morgen die Musik in der Küche und im Esszimmer, in dem sie gemeinsam das Frühstück einnahmen, anzuschalten. Klassische Musik, die sie in Wien durch Radio Stephansdom lieben gelernt hatte. In Strasbourg war es noch die U-Musik aus ihrer Jugendzeit gewesen – Radio Nostalgie.
Er hoffte, durch das Aufdrehen der Musik, die sie schätzte, ihr wieder näher zu kommen. Musik war doch jetzt etwas, das sie verband.
Nachdem sie die Wohnung verlassen hatte, erledigte er seine übliche Computerarbeit. Routinetätigkeiten gingen ihm leicht von der Hand.
Heute würde er es tun, würde er die Konfrontation suchen. „Bis Montag“ hatte die Stimme gesagt. Heute war Montag. Sie würde wissen, dass er heute hinter ihr hinterher spionieren würde. Sie würde ein geplantes Treffen mit „ihm“ in der Mittagspause absagen.
Sie wusste, dass er wusste. Sie hatte es in seinem Blick gesehen. In seinem Blick, der ihr in all den Jahren immer mehr Angst gemacht hatte, den sie bedrohlich fand. Auch dann, wenn er liebevoll war. Seine Liebe war eine Bedrohung. Eine Bedrohung für das, was sie in den letzten Jahren erkämpft hatte – hatte sie es erkämpft oder war es einfach geschehen? War ihr die Beziehung mit dem anderen Mann nicht auch nur einfach passiert?
Als er um halb zwölf mit Blumen an ihrem Arbeitsplatz auftauchte – früher, als sie noch in der Nähe der Wohnung in der Altstadt gearbeitet hatte, brachte er ihr einmal in der Woche Blumen vorbei, oft nur an die Klinke gesteckt. Wie ein Briefbote war er wieder verschwunden.
Auch in der letzten Zeit vor diesen zwei Wochen und nach ihrer Auszeit im Frühjahr – sie war nach einem Streit für einen Monat in ein Kloster gegangen – hatte er diesen Brauch wieder aufgenommen.
Heute hatte sie damit gerechnet.
Als er eintrat – er lauschte nicht an der Tür – hatte sie mit „ihm“ telefoniert, brach aber das Gespräch genauso sachlich ab wie jenes von vor zwei Tagen. Sie hatte Routine.
Sie musste diese Gespräche nicht nur vor ihm verbergen, sondern auch bei der Arbeit.
Er schlug ihr vor, gemeinsam Mittagessen zu gehen.
Sie wusste, sie konnte nicht ablehnen.
Er setzte sich nach gequältem Smalltalk an den Tisch einer Kollegin, die hier mit ihr das Büro teilte und heute wie fast jeden Montag auf Außendienst war.
Nach kurzer Zeit klingelte das Telefon und als sie zögernd abhob, hörte er deutlich seine Stimme „Geht es jetzt?“
Er hätte schreien mögen: „Nein! Er ist noch da!“
Aber ihm versagte die Stimme, es wurde schwarz vor seinen Augen und sein Puls raste, er atmete schwer wie gestern, als er die Stimme in der Mailbox gehört hatte.
Sie blieb kühl und antworte – was hörte er nicht mehr.
Der Puls dröhnte in seinen Ohren.
Später konnte er sich nur noch daran erinnern, dass sie ihm zweimal Wasser brachte. Und dass er sie anflehte – ohne Tränen, denn in ihm war auch der Schmerz gestorben -, mit dem anderen Schluss zu machen.
Erst später erinnerte er sich daran, dass sie ihm gesagt hatte, dass sie ihn nicht so betrogen hätte, wie er dächte.
In den zwei Wochen würde sie es abermals bekräftigen.
Wollte sie „ihn“ schützen?
Wollte sie ihn schonen?
Wollte sie sich schützen?
Sie, die ihn bisher immer ohne Schuldgefühle belogen hatte, sollte darin die Wahrheit sagen? Er betete abends – das hatte er seit seiner Kindheit nicht aufgegeben – , dass er ihr wieder vertrauen könne. Wie sollte das Leben sonst weitergehen.
Das Mittagessen gemeinsam war schweigend.
Das war kein Thema, mit dem man in der Öffentlichkeit, und war es auch nur ein Schanigarten, auftrat. Hereinspaziert, hier wird ihnen etwas geboten! Hier erleben Sie die tragische Geschichte einer Frau, die nicht lieben kann und eines Mannes, der nichts als Liebe will. Beide lebten glücklich zusammen, bis ein Nebenbuhler auf den Plan trat. Sie werden ein Gemetzel erleben, in dem kein Stückchen Fleisch auf den Knochen zurückbleibt.
Am Nachmittag rief er die Nummer, die noch immer in seinem Gehirn eingebrannt war, an, denn er wollte mit „ihm“ reden. Er wollte mit ihm eine Lösung finden. Aber „er“ hatte sein Mobiltelefon auf Mailbox umgestellt. „Er“ kannte wohl die Nummer. Er bot ein Gespräch an, auch eines unter Beisein der Betrüger und der Betrogenen. Er nahm an, dass auch „er“ verheiratet war. Welche Quartett würde das ergeben. Eintritt sollte man wohl verlangen dürfen.
Später würde er erfahren, dass dieser Telefonanschluss dem größeren Netz einer IT-Firma zuzuordnen war, wobei die Nummern nicht alle fest einzelnen Personen zugeordnet werden. Der Liebhaber seiner Frau würde danach die Nummer wechseln und bei einem Anruf der Nummer eine Sekretärin abheben.
Via Email informierte er sie im Büro von diesem Anruf. Aus Fairness, wie er sagte. Er tat es aber auch, um ihr klar zu machen, dass jetzt eine Entscheidung fallen müsse. Sie müsse sich entscheiden. Diese Lügen müssten ein Ende haben. Und er war sich dessen ganz kühl bewusst, dass er es auch für sie tat. Nicht aus Liebe.
Weil er plötzlich erkannte, wie sehr sie in den letzten Jahren gelitten haben musste, um diese Flucht zu versuchen. Diese Flucht vor ihm und seiner quälenden Einengung. Seiner Gegenwart.
Nach diesem Anruf tat sich vor ihm eine Leere auf, wie er sie noch niemals zuvor gespürt hatte.
Es war ihm, als wäre er überhaupt nicht vorhanden.
Und er konnte sich bei dieser Nichtexistenz beobachten.
Leere, einfach Leere.