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Er hatte in der Nacht danach zum ersten Mal wieder Schlaf gefunden. Keinen tröstlichen, keinen der die Gedanken beruhigt hätte. Die Gedanken waren auf seltsame Weise eingeschlafen und gönnten seinem Körper Ruhe.
Als er – in Routinen war er gut, die beherrschte er auch in Krisenzeiten – am Morgen das Frühstück bereitete während sie im Bad war, fühlte er, dass jetzt alles zu Ende war.
Er wird später keine Erinnerung mehr an das Frühstück haben, was sie gegessen haben, was sie gesprochen haben.
Er wird sich nicht mehr erinnern, dass sie sagte, eine schreckliche Nacht gehabt zu haben. Und dass sie sich entschieden habe, zurückzukehren und die Affäre zu beenden.
Sie hatte es sicher nicht so genannt, denn sie fühlte sich auf eine gewisse Weise nicht schuldig. Er wird sich später unscharf daran erinnern, dass sie anfügte, dass sie jetzt nicht wisse, ob es die richtige Entscheidung war, eine Entscheidung für die tristere Alternative.
Sie wusste in diesem Augenblick, dass es noch nicht vorbei war. Dass es noch Szenen geben würde, dass sie erneut drohen würde, ihn zu verlassen, wie sie es in der Auszeit schon einmal getan hatte.
Wie sie es ganz früh in ihrer Beziehung mehrmals getan hatte, einmal als er gegen ihren Willen zu einem Fußballspiel seines Wiener Vereins, für den er in seiner Jugend selber gespielt hatte, hier in Graz gegangen war. Damals war er nach dem Spiel nach Hause gekommen und hatte die gemeinsam eingerichtete Wohnung verlassen vorgefunden. Sie hatte damals noch studiert und schrieb an ihrer Dissertation, die er methodisch unterstützte, indem er ihre Daten auswertete.
Heute würde sie sagen, er hat auch das an sich gerissen.
Er hatte sich an jenem Abend sofort ins Auto gesetzt und war mit allem, was der Wagen hergab, und das waren an die 190 km/h – damals gab es keine Geschwindigkeitsbeschränkungen.
Er war zu ihrer Studentenwohnung in der Burggasse gefahren und fand sie auch dort nicht vor. In dieser Wohnung hatten sie ihre ersten Liebesnächte verbracht. Jeden Tag kam er am Abend zu ihr und blieb bis nach Mitternacht. Gemeinsam hörten sie „Musik zum Träumen“, wenn sie nach dem Geschlechtsverkehr ermattet und glücklich im Messingbett lagen. War die Kennmelodie „Last Date“ von Duane Eddy, die ihre gemeinsamen Abende beschloss, ein schicksalhafter Titel? Er wird nach Strasbourg auf ihrer Homepage eine Seite einrichten, auf der über YouTube diese Kennmelodie in verschiedenen Varianten zu hören ist. Er würde sie am 26. Oktober, am Tag ihrer Verlobung vor dreiunddreißig Jahren bitten, den Laptop einzuschalten und auf ihre Homepage zu gehen. Im Lebenslauf soll sie auf den Link „Wien“ klicken. Wird sie in der Erinnerung an diese Zeit – in der Beschwörung, denkt er – bereit sein, sich noch einmal auf einen gemeinsamen Weg zu machen?
Sie wird am Verlobungstag nach den zwei Wochen wegen des verlängerten Wochenendes einen Trip nach Mallorca machen. Später auf ihrem Amtscomputer werden die YouTube-Videos gesperrt sein. Sie wird die Signation nie mehr hören.
Bei der Schlusssignation der Sendung zog er sich damals in der Anfangszeit an und ließ sich von ihr bis zur Türe begleiten. In dieser Garconniere hatten sie sich verlobt, auf sein Drängen hin. Am Nationalfeiertag, damit sie stets an diesem Tag nicht in die Arbeit mussten. Ein Kalkül, das auch für den Hochzeitstag galt: 1. Mai.
Sie ließ es rückblickend aus Liebe mit sich geschehen. War die telegrafische Reaktion ihres Vaters – beide hatten an jenem Abend vom Westbahnhof aus ein Telegramm an die beiden Familien geschickt – Programm, denn er schrieb, dass sie endlich zur Ruhe kommen könne. Sie waren die Nacht beisammen geblieben, nicht zum ersten Mal. Als seine Mutter es einmal gemerkt hatte, dass er erst am frühen Morgen zurückkam, warf sie ihm vor, „ein Verhältnis zu haben“. Hier reagierte sein Vater nicht wie früher, als er sich meist die Vorwürfe verstärkend auf ihre Seite geschlagen hatte, sondern lapidar. „Er ist alt genug“.
Ja, er war mit siebenundzwanzig Jahren alt genug.
Alt genug für ein Verhältnis.
Da ihre Wohnung im Verbund mit anderen Studentenwohnungen im ersten Stock eines Gründerzeithauses oberhalb einer Fleischhauerei lag – der Besitzer war übrigens der Vermieter, dem sie einmal im Monat die Miete in Bar bringen musste; heute befindet sich dort eine Pizzeria -, gelang es ihm, in die Wohneinheit zu gelangen, da die Tür nur langsam ins Schloss fiel, als einer der Studenten seine Wohnung verließ – war es der Chinese?
Er saß an die zwei Stunden vor ihrer Zimmertür und wartete. Sie kam nicht. Er schrieb eine Nachricht und setzte sich in das Auto und fuhr nach Graz zurück.
Er hätte beinahe einen Unfall gehabt, da er für einen Fuchs, der mitten auf der Fahrbahn saß, bei hundertneunzig Stundenkilometer den Wagen verriss und ihn erst am Pannenstreifen wieder unter Kontrolle brachte, knapp bevor dieser wegen eines engen Brücke endete.
Es war nicht das erste Mal, dass sie nach Wien geflüchtet war. Das erste Mal war er mit dem Wagen sogar vor ihr bei ihrer Wohnung. Beim ersten Mal nahm er sie mit und sie ließ es geschehen.
Beim zweiten Mal kam sie freiwillig zurück. Später hat sie sich oft daran erinnert und nährte ihre Zweifel, ob sie damals die richtige Entscheidung getroffen hatte. So wie an diesem Tag in den zwei Wochen.
Sie wird auch nach Strasbourg zweifeln und in seinem Bemühen, alles richtig zu machen, jene alten Muster erkennen, die sie so verabscheute. Wie oft hatte er sie in seinem Leben wegen eines konkreten Verhaltens kritisiert und zurechtgewiesen, oft auch ungerechtfertigt. Oft empfand sie schon eine einfache Frage wie „War das Mineralwasser schon leer?“, während sie gerade eine Flasche aus der Küche in den Abstellraum trug, als Provokation.
Wenn er aber sah, wie sie nach einer solchen Lappalie unter seiner „Zurechtweisung“ litt und wie verletzt sie war, entschuldigte er sich für gewöhnlich bei ihr. Dieses Muster – sie nannte es „Erst hinpecken und dann entschuldigen“ – würde sie sich ab nun – nach Strasbourg – nicht mehr gefallen länger lassen. Sie begann permanent damit zu drohen, ihn sofort zu verlassen.
Dieses kritisierte Verhaltenmuster hatte allerdings ein Komplement: Da er sich für Kritik entschuldigte, die seiner Meinung nach gerecht war – er hatte sie seiner Erinnerung nach nie bewusst aus Bosheit kritisiert -, blieb das Dilemma, einen Fehler begangen zu haben, an ihm hängen, sodass im Zurücknehmen seine Kritik zurückgewiesen oder noch verstärkt wurde und er erneut einen Anlauf nahm, um seine Frustration über ihr Verhalten los zu werden.
Hätte er sich nicht entschuldigt, wären diese Situationen vermutlich nicht eskaliert. Es hätte zwar eine Verstimmung gegeben, aber es wäre vorbei gewesen und es wäre nicht der Rest geblieben, der dann zu einer Eskalation führen musste.
Besonders irritierte ihn in dieser letzten Zeit, dass sie nach einer Kritik an seinem Verhalten ein Ende der Diskussion postulierte, sich die von ihm geforderte Erklärung zwar anhörte, aber nicht darauf reagierte. Es wäre wohl kein Problem gewesen, wenn sie diese Erklärung als für sie nicht zutreffend zurückgewiesen hätte, aber sie schwieg. Sie war wie ein tiefer Brunnen, in den man einen Stein fallen ließ, man aber das Auftreffen auf der Wasseroberfläche nicht hörte und so im Ungewissen war, ob man getroffen hatte.
Konnte er nach den zwei Wochen aus dieser nun nüchternen Analyse eine Lehre ziehen und sein Verhalten ändern? Er zweifelte wie immer, wollte es aber versuchen. Wie oft hatte er schon versucht … Zuletzt doch nach ihrer Rückkehr aus Wien, in die sich ein anderer gedrängt hatte. Wie konnte er etwas richtig machen, wenn der andere von vorneherein schon richtiger war?
Wie der stieg in ihm der Zweifel an die Möglichkeit, doch einen gemeinsamen Weg zu finden hoch. Der Zweifel machte Angst.
Und die Angst ließ ihn zweifeln.
Es war ein Teufelskreis.
Der Zweifel war auch der Begleiter ihres Lebens.
Daher suchte sie rastlos nach immer Neuem.
Stets auf der Suche nach einer Gewissheit.
Noch etwas, woran sie sich festhalten konnte.
Aber was sie auch suchte, sie fand immer nur sich selbst, ihre Sehnsucht und ihre Angst.
Warum konnten sie beide ihre Ängste nicht in einem gemeinsamen Gefäß des Vertrauens einschließen?