VII Wider.Sprüche

Widerspruch war sein Lebenselixier.
Als Kind nannten ihn seine Eltern zuerst trotzig, später einen Oppositionsgeist. Schon in der Volksschule hatte er es mit Pfeifen versucht, während der Lehrer vortrug – er wurde angepasst. Blieb es lange – das trug ihm den Beinamen „Christkind“ ein. Er dachte: Er ließ sich anpassen. Spielte Anpassung. Seine Umgebung war zufrieden, denn er machte auf alle den Eindruck, angepasst zu sein. Er spielte manchmal Überanpassung. Er war beinahe ein Engel. Erst später nach der Pubertät – in ihr hatte er es verstanden, die von allen erwarteten Widersprüche dieses Alters zur eigenen Erbauung nicht zu artikulieren – besann er sich auf seine Bestimmung. So hatte er es selber einmal bezeichnet.
Sein Widerspruch wurde allmählich zwanghaft, brachte ihm immer wieder Schwierigkeiten ein. Sein starkes Beharrungsvermögen ließ ihn unhaltbare Standpunkte – er wusste das – oft bis zur Selbstvernichtung einnehmen. Er wollte seinen Ideen treu bleiben, auch wenn er erkannte, dass sie in eine Sackgasse führten. Er fühlte sich in der Enge seiner Gedanken als Sieger. Besonders wenn andere kopfschüttelnd aufhörten zu Argumentieren.
Sieger sind einsam.
War das ein Grund, dass er Leben und Lieben auch als Kampf sah?
In seiner Beziehung zu ihr war der Widerspruch am Beginn nicht so offensichtlich, denn er hatte nichts zu verteidigen. Sein Widerspruch ereignete sich eher spielerisch – er lernte früh, ihn für Kreatives zu nutzen. Warum nicht einmal den gegenteiligen Standpunkt einnehmen? Eine Dialektik der Beziehung?
Widerspruch kann auch Wege öffnen, aus Sackgassen herauszukommen. Er kann aber auch zur Unzeit daherkommen wie damals, als sie in ihrem Beruf gemobbt wurde – diesen Begriff hat sie erst viel später gebraucht. Hier glaubte er ihr helfen zu können, indem er andere Sichtweisen vertrat, wenn sie sich wieder einmal von Vorgesetzten oder Kolleginnen verletzt und gedemütigt fand. Sie erlebte es, als würde er sich in den Kreis der Verletzer und Demütiger einreihen. Und das verletzte und demütigte sie mehr als die der anderen.
Hätte er das nicht spüren müssen?
Widerspruch regte sich in ihm vor allem dann, wenn jemand breit und überzeugend auftrat. Das war im wissenschaftlichen Bereich zwar innovativ aber zugleich der Grund seines Scheiterns. Seine erste Habilitation fand keine Anerkennung, da sie auch nach einem Jahr beim „Habilitationsvater“ noch ungelesen lag, weil der Druck zu klein war, seine zweite reichte er gegen den Willen des „Habilitationsvaters“ ein. Man war zwar gezwungen, eine Kommission einzurichten, wählte aber eine Zusammensetzung, die ihm keine Chance ließ. Man schickte einen Juristen vor, der ihm nahe legte, seinen Antrag zurückzuziehen. Er tat es, da er wusste, man würde ihm zwar die Habilitation in Graz verweigern, aber man musste ihn pragmatisieren, da er einfach zu gut war. Sie hätten ihr Gesicht und ihren Ruf verloren, wenn sie das nicht getan hätten.
Nachdem er sich einen anderen „Habilitationsvater“ in Wien gesucht und gefunden hatte, geschah dies gegen die dort etablierten Kleingeister. Diese Kleingeister verhinderten es, weil er ihnen in seiner Arbeit den Boden unter den Füßen wegzog, wie es ein Freund einmal nannte. Kann man geliebt werden, wenn man den anderen den Boden unter den Füßen wegzieht? Hatte er manchmal auch ihr den Boden unter den Füßen weggezogen? Damals, als sie bloß Trost und Verständnis wollte? Hat er ihr damals die vielleicht schon kränkelnde Liebe auch noch entzogen?
In jener Zeit – als sie um ihre berufliche Existenz kämpfte – hatte auch er schlaflose Nächte, denn er wusste nicht, wie er an sie herankommen konnte.
Er dachte viel, oft viel zu viel!
Wie in den zwei Wochen.
In diesen zwei Wochen hatte er sie eines Abends gebeten, sich zu ihm zu setzen und nur zuzuhören. Er wollte ihr von dem stets erlebten inneren Widerspruch zu den eigenen Gedanken und Gefühlen, von jenem Zweifel erzählen, der ihn stets begleitet hatte, seit er Beziehungen zu Frauen eingegangen war.
Seine Zweifel galten der Art seiner Liebe. Ob es für ihn eher Liebe wäre, zu lieben oder eher wichtig war, geliebt zu werden. Zwischen diesen beiden Polen sei er Zeit seines Lebens geschwankt und hatte früh an seiner generellen Liebesfähigkeit zu zweifeln begonnen. In einem Augenblick, in welchem er sicher war, zu lieben, erschien ihm seine Sehnsucht, geliebt zu werden, noch viel größer.
Er begann damals, sich selber in seinen Beziehungen zu beobachten. Es war ihm, als stünde er manchmal neben sich, und sähe zu, wie er lebte und liebte. Voyeuristisch und ängstlich zugleich. Er wollte eine Antwort auf die Frage finden, was für ihn Liebe bedeutet. Auch in den zwei Wochen hatte er das Gefühl, dass er immer wieder von außen miterlebte, was mit ihm geschah.
Sie nannte es anschließend an seinen Monolog „einfach krank“.
Aus dieser Krankheit heraus begann er, Zeichen zu setzen. Markierungen, die ihm beweisen konnten, dass er doch liebte, lieben konnte. In diesen zwei Wochen wird er zum Friseur gehen und anlässlich der dreiunddreiunddreißigsten Wiederkehr des Kennenlerntages sich eine lila Strähne in sein schütteres Haar machen lassen – sie nannte es einfach Glatze.
Er schickte ihr SMS – genau abgezählt nach den maximal möglichen Zeichen -, in denen er ihr wieder die Hand reichte, was ihm im realen Leben wohl nur nach einer Bitte um Verzeihung möglich sein würde.
Wie lange würde er nach den zwei Wochen auf diese Worte warten müssen?
Aus seinen Zweifeln heraus überforderte er sie, denn er erwartete in gleichem Ausmaß Zeichen, etwa als er einen äußerst ungenehmen Zahnarzttermin hatte – auch er hatte eines Tages begonnen, sich zu renovieren – und hoffte, sie würde in dieser Zeit an ihn denken und ihm knapp davor eine SMS schicken. Er phantasierte: So wie sie wohl „ihm“ in einem solchen Fall eine geschickt hätte. Er wird im Wartezimmer sitzen und auf eine SMS warten, sie wird keine SMS schicken und er wird abermals enttäuscht sein, seine Zweifel werden wieder ein Stück größer werden.
Wurde er geliebt? Nein, sie hatte es gesagt: sie liebe ihn schon lange nicht mehr. Würde ihn diese Gewissheit beruhigen? Jemand, den man nicht liebt, dem schickt man keine SMS. Er wird selber ein Zeichen setzen und während der Behandlung den Ehering festhalten und drehen. Glaubte er an Magie?
Den Ehering wird er wie sie nach ihrer Strasbourgvisite abnehmen. Sie hat ihn irgendwo verwahrt – nicht in die Ill geworfen, wie er vermutete -, er wird ihn an seine Halskette mit dem Schutzengel – der hatte hier wohl wieder einmal versagt – hängen, so wie es viele Männer tun, die nicht zu ihrer Beziehung stehen. Schutzengel und Ring werden in diesen Tagen immer wieder aneinander stoßen, während des Gehens, während des Schlafs, während des Wasserlassens, während der Vorlesung.
Das leise Klingeln wird ihn an seine Lage erinnern. War es nicht klüger, ihr den Ring zu geben, damit sie ihn zum anderen lege?
Einmal rief er sie nach einem Klingeln an seinem Hals an, allein um ihre Stimme zu hören, die Stimme jener Frau, die ihm diesen Ring vor dreiunddreißig Jahren in der Verlobungsnacht zum ersten Mal an die Hand gesteckt hatte. Sie hatte diesen Ring, der längst seine feine Ziselierung verloren hatte, bei der Hochzeit vor fünfundzwanzig Jahren zum zweiten Mal, dieses Mal an die rechte, Hand gesteckt. Einmal hatte er den Ring weiter machen lassen müssen, da er ihn nicht mehr vom Finger bekam und schon das Blut abschnürte. Einmal hat er seinen Ring verloren – er war einfach vom Finger gerutscht. Das war, während sie in Strasbourg arbeitete, nach seiner Abmagerungskur. Er dachte zuerst, dass er in ihn im Murpark verloren hätte und suchte mit einer Taschenlampe den Weg ab, den er gegangen war. Er suchte in der Wohnung, bis ihm die rettende Idee kam. Der Ring war beim Duschen von seinem Finger gerutscht und im Abfluss der Badewanne gelandet. Dort konnte er ihn mit Hilfe eines Drahtes, mitten in ihren Haaren, die sie beim Haarewaschen regelmäßig verlor und immer wieder den Abfluss verstopft hatten, ertasten und endlich bergen. Das war unmittelbar vor einem Wochenende, an dem sie ihn besucht hatte. Er empfand diesen Verlust und die Art des Wiederfindens ihres Ringes als schicksalhaft.
Sein Glücksgefühl nach dem Wiederfinden des Ringes war unbeschreiblich. Sie kommentierte seine Erzählung: wäre nicht so schlimm gewesen, beim Juwelier kann man ihn nachmachen lassen. Diese lapidare Einstellung wird ihn verletzen, denn der Ring an seiner Hand hatte durch das Weiten und Verengen einen unverwechselbaren Charakter bekommen.
Er wird nach der völlig schmerzfreien Behandlung beim Zahnarzt – sie hatte einige Jahre zuvor eine vergleichbare, aber schmerzvolle – im Cafe Meier sitzen und sie anrufen. Er wird auf ihre Mobilbox sprechen. Sie wird ihn zurückrufen – nein, sie wird nur anklingeln, denn er hat den günstigeren Tarif und er wird sie selber anrufen.
Kann man das Zeichen nennen?