IX Zweifel.Los

Wo zwei sind, da ist auch schon der Zweifel.
Samuel Beckett

Warum gelang es ihm seit jener Entdeckung nicht mehr, ihr zu vertrauen? War er ob seiner Naivität, Arglosigkeit, Sorglosigkeit, Selbstgefälligkeit, Erstarrung in den letzten Jahren so schwer getroffen? War seine Phantasie nun so allmächtig, dass sie ihn hinter jeder Minute der Trennung einen neuerlichen Verrat befürchten ließ?
An einem Tag nach den zwei Wochen wird sie das Auto nehmen, damit sie zu einer Feier anlässlich der Renovierung eines Jugendwohnheimes als Vertreterin der Jugendwohlfahrt, in der sie in der Stabsstelle arbeitete, fahren kann. Sie würde ihm wie immer bei solchen Gelegenheiten abends beim Abendessen vom reichlichen Buffet dort erzählen, dass sie deshalb keinen Hunger habe. Sie wird die üblichen Abläufe erzählen, die bei einer solchen Eröffnung Standard sind. Von den Reden der Politiker, ihrer Abscheu gegenüber deren Floskeln – jahrelang ist sie über einen Politiker, dessen Partei er nahe stand und den er wegen seiner schmallippigen Art zwar nicht mochte, aber objektiv gesehen bewunderte, fast täglich bei der Zeitungslektüre hergezogen, fast schien es, nur um ihn zu provozieren. Und er wird ihrer Erzählung von der Heimeröffnung zuhören und … zweifeln. Hat sie sich wieder mit ihm getroffen?
Das Misstrauen war in den Alltag eingekehrt.
Woher sollte neues Vertrauen kommen?
Wie könnte sie ihm beweisen, dass sie es Ernst mit der Entscheidung meinte, dass sie trotz der tristen Aussichten – wie sie es nannte – weiter mit ihm zusammenleben wird.
Erscheint es ihm so unglaubwürdig, dass sie sich für ihn entscheidet?
Projizierte er seine Selbstzweifel in sie?
Wie weh tat es ihm, wenn sie von seinem Alter sprach, nichts mehr fand sie an ihm, was schön und attraktiv wäre. Er merkte, dass sie sich um so viele Jahre jünger fühlte, dass sie im Gegensatz zu ihm noch jugendlich wäre. Und sie ließ es ihn bei jeder Gelegenheit fühlen. Was nützte es ihm, in den letzten Jahren so viel für sein Aussehen getan zu haben, nachdem sie ihm einmal resignierend gesagt hatte, dass sie es aufgegeben hätte, etwas zu seinem Aussehen zu sagen. Am Ende ihres Jahres in Strasbourg hatte er in einer Gewaltaktion innerhalb von drei Monaten siebenundzwanzig Kilogramm abgehungert, um für sie attraktiver zu werden.
Nach diesen zwei Wochen wird er drei Jahre später genau jenes Gewicht wieder haben. Am Beginn der zwei Wochen brachte er jene vier Kilogramm mehr auf die Waage, die er in diesem Sommer während des gemeinsamen Urlaubs – war dieser nicht harmonisch verlaufen? – zugelegt hatte. Zynisch wird er schließlich denken: Auch eine Methode.
Er hatte sich nach seiner Radikalkur neue Bekleidung gekauft, Kleidung, die jugendlicher war. Doch ihre Reaktion darauf war enttäuschend, denn sie würdigte zwar die Kleidung, befand aber seine hager gewordenen Gesichtszüge als hässlich.
Schon vor den zwei Wochen hatte er begonnen, hie und da Kosmetika zu verwenden, die seine Falten auffüllten. Sie verwendete solche schon lange, wenn auch mit mäßigem Erfolg. Wenn er sich im Spiegel betrachtete und mit ihr verglich – er hatte erst in den letzten Jahren damit begonnen -, wirkten seine Gesichtshaut und auch die Haut seines Körpers wesentlich jünger als ihre. Die Haut ihres Gesichtes und des Halses bis zum Brustansatz war durch ihr exzessives Sonnenbaden irreparabel geschädigt – sie war zeitlebens süchtig nach Sonne, obwohl ihre Augen gegen grelles Licht äußerst empfindlich waren. Sie wusste das, hielt in sich aber immer noch die Illusion aufrecht, jugendlicher als er zu wirken. Wenn sie ihrer beiden Hände verglich, musste sie sich diese Lüge eingestehen. Jugendlich war an ihr ihr gefärbtes Haar, deren natürlichen und jugendlichen Locken sie immer wieder durch Chemie und Brennstäbe vom Friseur auf glatt und somit auf alt deformieren ließ. Er hatte es ihr zwar manchmal gesagt, dass sie dadurch den unzähligen ältlichen Frauen glich, die damit modischen Chic demonstrieren wollen, in Wahrheit aber eine Maske aufsetzten, unter der man ein noch höheres Alter vermutete, als es tatsächlich vorlag.
In diesen zwei Wochen erlebte er eine radikale Wende in seiner Wahrnehmung. Plötzlich sah er nur mehr die Falten im Gesicht und an den Händen, ihre schlaffen und welken Arme, die etwas zu kurz geratenen Finger, die wie die einer Siebzigjährigen wirkten – seine Hände wären übrigens das Schönste an ihm, hatte sie einmal festgestellt -, den verbrannten Hals und das Kinn wie faltiges, abgenutztes Leder. Vor den zwei Wochen waren beide in seiner Wahrnehmung im Einklang gealtert und er hatte immer wieder gedacht und selten auch gesagt, dass sie trotz der Falten schön sei und dass sie sich auch nicht die Haare färben müsste, denn vermutlich wäre ihr das langsam ergrauende wesentlich besser gestanden als das Einheitsblond.
Während der fast zwei Jahre ihrer Berufstätigkeit in Wien – er erlebte es als Fortsetzung Strasbourgs, auch wenn eine Wochenendbeziehung daraus wurde, eine lästige Pflicht für sie, an beinahe allen Wochenenden mit ihm schlafen zu müssen – entdeckte sie plötzlich Pünktchen und Flecken an ihrem Körper. Sie ließ sich einen völlig unscheinbaren winzigen Punkt, den man für eine Sommersprosse halten konnte und der auf den Fotos des letzten Sommers kaum sichtbar war – im Gesicht entfernen, einige Blutschwämmchen am Oberkörper und auch einen kleinen warzenförmigen Auswuchs neben ihrer Scheide, der früher unter ihrem dichten Schamhaar verborgen gewesen war und den nur seine Zunge kannte und liebte. Nachdem sie begonnen hatte, auch ihr Schamhaar zu trimmen, war dieser Makel offensichtlich geworden. Er musste beseitigt werden.
In den zwei Wochen wird er denken, dass sie es nicht für sich oder gar für ihn, sondern allein für „ihn“ getan hätte. Er fühlte den Hass auf den Nebenbuhler, der sich in ihrem Kopf und in ihrem Herzen eingenistet hatte und der sie nun herrichtete wie eine Schaufensterpuppe oder für den sie sich eine uncharakteristische glatte Oberfläche zulegen wollte. War er nicht auch so ein austauschbarer Businessman ohne herausragendes Merkmal? Als er seine Schwiegermutter nach einer Beschreibung fragte – er hatte ihn sich bis zu diesem Zeitpunkt als zwar älteren aber doch recht attraktiven, eleganten, großgewachsenen, eher hageren Typ mit vollem dunklen Haar vorgestellt, von denen er in all den Jahren gemerkt hatte, dass sie diese oft aus den Augenwinkeln beobachtete -, konnte sie sich an keine charakteristische Einzelheit seines Äußeren erinnern, obwohl sie ihn vor nicht allzu langer Zeit getroffen hatte und ihm die Jahre hindurch immer wieder begegnet war. Völlig unauffällig, meinte sie.
Für diesen Mann wurden nun alle Kleinigkeiten, die sie charakteristisch und für ihn auch liebenswert machten, wurden getilgt.
Hatte er ihr denn je vermittelt, dass sie nicht vollkommen wäre?
Hatte er sich in den letzten Jahren nie gefragt, warum sie eine andere sein wollte?
Trauerte sie in allem einem verschwendeten Leben, einer verschwendeten Liebe nach?
Er trug in seiner Brieftasche noch immer ein Bild von ihr aus den ersten Tagen bei sich. Im Büro standen zwei Bilder, eines aus der frühen Zeit, eines aus der Kindheit Fabians, in welchem sie sich beide fröhlich anlachen. Wie sehr hatte er allein ihr Gesicht geliebt – sie war stolz auf ihre hoch stehenden Wangenknochen, die angeblich bis ins hohe Alter erhalten bleiben und stets jünger machen sollten.
Alles war dahin.
Er sah nur mehr die herabhängenden Hamsterbacken und die Tränensäcke unter den Augen, die wie ineinander verschlungene Würmer herabhingen, wenn sie sich über ihn beugte. Selten genug tat sie das. Vor einem Jahr hatte sie beklagt, dass ihre schlaffen Augenlider – ein Charakteristikum ihrer Familie – hässlich wären und auch korrigiert werden müssen.
Fand sie, dass sie für „ihn“ nicht jung genug wirkte?
Kam sie sich als ältliche Geliebte lächerlich vor?
Er hatte es bald aufgegeben, sie davon abzuhalten, sondern hatte sogar ein oder zweimal nachgefragt, wann es denn nun soweit wäre mit der Operation. Ein Jahr danach wird er sie bei einem Treffen genau betrachten, nach Spuren von solchen kosmetischen Korrekturen suchen, und konstatieren, dass sie offenbar darauf verzichtet hatte. Hatte sie resigniert?
Und ein Paradox wurde ihm bewusst: Ein Merkmal ihres Gesichts waren einige etwas schräg gestellte Zähne, die ihrem Lächeln einen besonderen, einen unverwechselbaren Touch verliehen. Vor wenigen Jahren hatte sie eine radikale Korrektur machen lassen, so dass sie jetzt ein uniformes, glattes Lächeln besaß wie viele Menschen in diesem Alter. Wenn sie sprach, wirkte es danach auf ihn wie ein künstliches Gebiss, denn der Ausdruck ihres Gesichtes war geprägt vom Produkt eines Zahntechnikers.
Das war nicht mehr sie, der er einst begegnet war, und die sich an seiner Seite langsam verändert hatte, so langsam, dass man es gar nicht wahrnahm.
War er endlich aufgewacht aus dieser Illusion, dass Liebe ewig dauern kann, dass sie immer dieselbe sein würde, wie damals …