XII Welt.Schmerz

Er hatte in der Nacht nach den Versen gesucht, die als Lebensmotto sein Leben und vor allem sein Lieben bestimmt hatten. Neben der katholischen Scheiße, die ihm vormals eingetrichtert worden war. Das sechste Gebot. Es hatte seine Jugend ruiniert, hatte ihn zum Sklaven der in diesem Alter natürlichen Triebhaftigkeit gemacht.
In den zwei Wochen wird er erkennen, dass der in der Jugendzeit so heiß ersehnte körperliche Kontakt mit einer Frau ohne sexuellen Part eine Illusion war.
Küsse auf den Körper einer imaginierten Geliebten und ihre Küsse auf dem seinen sollten frei von jedem Begehren sein, reine Liebe, reines seelisches Verlangen.
Ein Jahr nach den zwei Wochen wird er in einer leidenschaftlichen Beziehung zu einer verheirateten Frau ganz nahe dieser reinen, kindlichen Liebe sein, so nahe wie nie zuvor in seinem Leben. Aber diese Liebe wird zugleich schmerzlich sein in ihrer Unmöglichkeit, in ihrer Ausweglosigkeit. Und dennoch süß wie die wiedergewonnene Jugend.
Das war der Auswuchs der katholischen Vorschriften, keinen vorehelichen Verkehr zu haben. Rein zu sein und sich für die oder den einen aufzuheben.
Er hatte nie im Leben eine Jungfrau geliebt – sein großer Lebenstraum war nie in Erfüllung gegangen. Nachdem er zum ersten Mal mit einer Frau geschlafen hatte, war dieser Wunsch ohnehin obsolet, denn wenn, dann hätten beide unberührt sein müssen.
Seine Initiation geschah unspektakulär und von seiner Partnerin unbemerkt, vielmehr erhielt er nachher sogar das Lob, von allen ihren bisherigen Liebhabern der beste gewesen zu sein. Er wird es ihr am Ende ihrer Beziehung gestehen, dass sie seine erste Frau war, aber sie wird es ihm nicht glauben.
Es sollte ihm zu Gute gehalten werden, dass er nach solchen Wachträumen von einer reinen Begegnung mit einem Mädchen nie onanierte – was er in dieser Zeit mehrmals am Tag tat -, sondern gerade die Reinheit eines solchen Beisammenseins als unendliches Glücksgefühl imaginierte. Diese Reinheit wollte er später auch in seiner Sexualität leben, dass ihm nicht der Orgasmus das Wesentliche war, sondern der seelische Gleichklang.
Sie hatte es nie verstanden, wenn er davon sprach.
Sie erlebte später nur seine Triebhaftigkeit, von der sie niemals wusste, wie kontrolliert diese war, wenn er bei ihr zu Werke ging. Sie sollte es schön haben, er selber zählte nicht. Das war das Erbteil jener pubertären Vorstellungen. Nicht selber zählt man, sondern nur das, was der andere fühlte. Dabei fühlte er sich rein, auch wenn er nachher zur Ejakulation kam.
Nicht selten hatte er auf seinen Orgasmus verzichtet und war zufrieden, dass sie einen Höhepunkt hatte. Das lag häufig daran, dass er durch die Länge des Vorspiels und seiner kontrollierten Aktivität die Erektion verloren hatte und in ihrer auf Grund des eingehenden Vorspiels schon fließenden Vagina keinen Widerstand mehr fand, an dem er sich hätte mechanisch erregen können. Sie glaubte, sie hätten Sex miteinander, er zelebrierte ein Hochamt der Reinheit.
Welch Schwachsinn.
Stets, wenn er von den Gefühlen der Kindheit und Jugend – Schuldgefühlen in der Mehrzahl – erzählt hatte, zeigte sie Unverständnis. Sie war eine Evangelische, die keine Beichte und keinen Katechismus kannte, den man einmal in der Woche abarbeiten musste, um seine Sünden anzukreuzen. Der Katechismus war eine Form von einem Fragebogen, wie er ihn später in seinem Beruf für seine Forschungstätigkeiten entwickeln musste.
Frage für Frage wurde durchgegangen – wobei er Vater und Mutter ehrte, auch wenn er sie manchmal nicht liebte, wobei er niemanden tötete, hie und da eine Fliege, aber das war nicht zu beichten.
Und als Ministrant musste man beichten. Man stand dann neben dem Beichtvater in der stillen Frühmesse um 6:00, die zehn, zwanzig alte Weiber besuchten und betete mit ihm das „Introibo ad altare Dei …“.
Gemeinsam mit jemandem feierte man die heilige katholische Messe, der von einem aus der Beichte wusste, dass man auch an diesem Tag in seiner natürlichen Sexualität seinen Schwanz in der Nacht gerieben oder auch nur zwischen den Beinen eingeklemmt hatte und ein dadurch ein kümmerliches Ejakulat produzierte, das man danach mit lauwarmem Wasser beseitigen musste. Vermutlich geilte sich der Zelebrant an dieser Vorstellung auf, denn der Leiter der Ministranten und Fakulanten war selber kein Kostverächter und wurde deshalb versetzt. Nein, ihn hatte er sich nie genähert.
Die auswendig und durch Repetieren unverstanden gelernten Texte der Liturgie waren bis auf einige Fragmente lange vergessen.
Nicht vergessen hatte er das Gedicht, das er während seiner Militärzeit als eines seiner Lieblingsgedichte auswendig gelernt hatte, und dass er in jener Nacht nach und nach aus seinem Gedächtnis rekonstruierte. Den Titel „Erinnerung“ und den Autor Franz Grillparzer wird er erst nachträglich durch googeln herausfinden, ebenso den korrekten wörtlichen Beginn der zweiten Strophe.

Hab‘ ich mich nicht losgerissen,
Nicht mein Herz von ihr gewandt,
Weil ich sie verachten müssen,
Weil ich wertlos sie erkannt?

Warum steht in holdem Bangen
Sie denn immer noch vor mir?
Woher dieses Glutverlangen,
Das mich jetzt noch zieht zu ihr?

Tausend alte Bilder kommen,
Ach! und jedes, jedes spricht:
Ist der Pfeil auch weggenommen,
Ist’s darum die Wunde nicht.

Er schrieb das Gedicht in seiner nächtlichen Erinnerung noch Heine zu – sie spottete oft darüber, wenn er in seiner mit dem Alter nachlassenden Erinnerung einmal irrte und kommentierte den Irrtum nachträglich mit einem „es ist sinnlos, dir zu widersprechen“. Er verwechselte es in dieser Nacht mit dem „Atlas“, ein Gedicht, dass er ebenfalls in dieser Zeit bei Wachdiensten auswendig gelernt hatte, um sich die Zeit zu vertreiben. Dieses Gedicht Heines charakterisierte weniger seine Beziehungen zu Menschen sondern jene zur Welt im Allgemeinen. Damals hatte er in sternklaren Nächten mitten auf einem Truppenübungsgelände, auf dem er die Munitionsbunker bewachen sollte, Allmachtsphantasien und weltumspannende Phantasien.

Ich unglücksel’ger Atlas! Eine Welt,
Die ganze Welt der Schmerzen muss ich tragen,
Ich trage Unerträgliches, und brechen
Will mir das Herz im Leibe.

Du stolzes Herz, du hast es ja gewollt!
Du wolltest glücklich sein, unendlich glücklich,
Oder unendlich elend, stolzes Herz,
Und jetzo bist du elend.

Dieses Leiden am Leben wie an der Liebe nährte früh seine pubertären romantischen Vorstellungen davon, wie beide im Idealfall beschaffen sein sollten. Sie begründeten eine intime Irrationalität in allem, was er dachte und fühlte.
Er genoss es, wenn ihn niemand verstand oder jemand ihn falsch verstand, denn diese Position des Leidens an den anderen beflügelte seine Phantasie.
Wenn er gläubiger gewesen wäre, hätte er sich nur am Kreuz wohl gefühlt.
Aus dieser Lust am Schmerz glaubte er bis zu diesen zwei Wochen, dass es Liebe wäre, wenn man leidet. Dass es Liebe wäre, wenn man den anderen erträgt, obwohl er unerträglich war, immer unerträglicher wurde.
Sie war schon lange unerträglich in ihrer Gier nach Selbstverwirklichung, die in seinen Augen eine Flucht vor sich selber war, die manifestierte, dass sie noch nie in ihrem Leben eine Entscheidung hatte treffen müssen, sondern immer über sie entschieden wurde.
Auch als sie sich nach acht Jahren des Zusammenlebens für die Ehe mit ihm entschieden hatte war es eigentlich nicht ihre Entscheidung. Sie hatte einfach die Fragen satt, wann denn endlich … Sie hatte es satt, nur eine Lebensgefährtin zu sein. Und sie wusste, dass er es wollte. Sie glaubte damals, sie täte es aus Liebe. Sie war überzeugt davon, dass sie endlich Frieden finden würde vor ihrer Sehnsucht, die in ihr wohnte. Sie wollte lieben, lieben, lieben … Und sie liebte.
Mit dieser Liebe zu ihm zerbrach in ihr auch der komplementäre Traum nach grenzenloser Freiheit, den sie wohl in ihrer Jugend mit dem Gefühl der Liebe verbunden hatte. Freiheit und Liebe, gingen diese beiden nicht zusammen?
War denn Liebe nicht Freiheit?
Damals, als sie plötzlich begann, von Ehe und Hochzeit zu sprechen, war er überrascht – er hatte es nach der langen Zeit des Zusammenseins und -lebens nicht mehr zu hoffen gewagt. Er zweifelte im ersten Augenblick auch, ob sie es ernst meinte, ob sie mit ihrem Unabhängigkeitsdrang sich diese Fessel auferlegen könnte. Er erlebte sie wie einen Vogel, der im Käfig unglücklich war. Und eine Ehe war bis zu einem gewissen Grad ein Käfig, da konnte man noch soviel herumintellektualisieren wie man wollte. Er wusste das und frage sich ernsthaft, ob er sie aus Liebe vor diesem Schritt, den sie nun zu wollen schien, bewahren sollte. Denn er hatte bis zu diesem Zeitpunkt gelernt, mit ihrem Freiheitswillen zu leben, obwohl er sich innerlich nach der Verbindung sehnte.
Er schob die kurz auftauchenden Bedenken, sie in solchen Fesseln zu sehen, dennoch beiseite, vor allem, weil er die Kommentare ihrer Umgebung von „wilder Ehe“ nicht mehr hören konnte, und auch den Wunsch nach einem gemeinsamen Kind hegte, der wohl auch für sie ausschlaggebend war – zumal sie in einem Alter war, in welchem man in der Regel schon ausgewachsene Schulkinder hatte -, und machte sich mit ihr auf den Weg.
Fünfundzwanzig Jahre vor diesen zwei Wochen.