XIX Schlag.Worte

An den häufigen Eifersuchtsszenen der frühen Zeit war jener insistierende Tonfall schuld, den sie in Gegenwart von anderen Männern oft anschlug und den er so gut aus seiner Kindheit kannte. Eifersucht, sie war eine Begleiterin seiner frühesten Kindheit gewesen.
Er saß neben seiner weinenden Mutter am Bett ihrer Zimmer-Küche-Wohnung und tröstete sie, als sie wieder einmal erfahren musste, dass die „Überstunden“ seines Vaters einem Besuch bei einer seiner wechselnden Geliebten – Huren nannte sie seine Mutter – galten.
Es gab auch echte Überstunden.
Doch zeitlebens ist für ihn das Wort Überstunden mit der Bedeutung versehen, dass in dieser Zeit Unrechtes geschehen kann. Gleichwohl sein Vater echte Überstunden machte, um den Lebensstandard der Familie zu heben – „Du sollst es einmal besser haben!“ war das Schlagwort der Nachkriegsgeneration, mit der man seine Kinder schlug. Ja, er war Akademiker geworden, Universitätsprofessor sogar – höher geht’s wohl kaum hinauf. Arzt vielleicht, aber er konnte kein Blut sehen und ihn interessierte mehr die Seele als der Körper – wohl auch ein katholisches Erbteil. Zeitlebens kämpfte seine Seele mit dem Körper. Hatte auch sein Vater gekämpft? Hatte sein Körper gesiegt?
Oder die Kuren, die er später alljährlich absolvierte. Auch das Wort Kur hatte für ihn eine eindeutige Besetzung. Kur und Kurschatten waren eins.
Nicht weil sein Vater krank war, fuhr dieser in den letzten Arbeitsjahren auf Kur, sondern weil ein befreundeter Arzt Gefälligkeitsgutachten schrieb. Auf einer seiner Kuren hatte sein Vater dann auch seine zweite Frau, die er nach dem Tod seiner Mutter kirchlich heiratete – damit die Leute im Dorf nichts Schlechtes sagen können – kennen gelernt. Er glaubte nicht, dass er sie jemals geliebt hat, denn sein Vater konnte nicht lieben.
Konnte er lieben? War seine Fixierung auf die Reinheit der Liebe mit gleichzeitiger Unterdrückung seiner Körperlichkeit nicht daran schuld, dass er sich nun nach dreißig Ehejahren endlich befreien wollte, endlich seinen Körper sprechen lassen wollte? In den letzten Monaten hatte er im Sommer endlich begonnen, nackt zu schlafen. Etwas das er sich nie zuvor getraut hatte – auch sie schlief an besonders heißen Tagen nackt. Aber er begann, sich auch nackt in der Wohnung zu bewegen, zeigte ihr seinen noch immer stattlichen Körper, drängte ihn im Bad manchmal an den ihren. Sie ließ es oft nur widerwillig geschehen. War der Körper des anderen schöner, fragte er sich nun in den zwei Wochen. War der nackte Körper eine Bedrohung ihres Verhältnisses? War ihre Libidolosigkeit – sie nannte es früh einmal Frigidität – nur ein Schutzschild gegen ihn? War das Begehren in ihr wirklich verloschen? Wie kann man einen anderen lieben ohne Körper, fragte er sich nun, nachdem er die katholische Verlogenheit endlich abgelegt hatte. Wenn die Pausen des Beisammenseins zu lang waren, dann onanierte er mit Hilfe eines Pornofilmes. Und er hatte kein schlechtes Gewissen mehr. Er brauchte niemandem zu beichten. Sich und seinen Körper zu fühlen war natürlich und keine Sünde.
Sein Vater hatte sich immer zur Sünde bekannt. Er entdeckte noch in seiner Pubertät pornographische Texte im Schreibtisch seines Vaters, die er heimlich mit seiner Schreibmaschine abschrieb. Auch der Vater hatte seine pornographischen Bilder, die er von einem Freund erhalten hatte, in seiner damaligen Wohnung entdeckt, während er in der Schule war. Er merkte es daran, dass einige der Bilder fehlten. Er fand sie Jahre später im Werkzeugschuppen des Vaters in einer Ritze hinter einem Balken. War deshalb der Vater vor und in seiner Pension oft so lange „zum Basteln“ in diesem Schuppen gewesen? Hatte er diese seine Bilder genutzt, um seine Triebhaftigkeit los zu werden?
Das Schweigen über dieses Thema war beiden gemeinsam. Sie wussten, dass der andere wusste und schwiegen. Einverständnis ist noch keine Beziehung, schon gar keine Liebe.
In der Rekonstruktion seiner Kindheit hatte er nie einen liebenden Vater entdeckt. Er kannte nur die Hand seines Vaters, den Stock und die Angst. Als Stock diente ein Teppichklopfer aus dünnen Gerten geflochten, der biegsam im Schlag ein Geräusch machte wie ein aufkommender Sturm. Ein Geräusch, das ihn später immer wieder zusammenzucken ließ, wenn er es hörte.
Und da war die Hand. Vor allem war es die Hand. Die zuschlagende Hand.
An dieser Hand seines Vaters hatte er sich in seiner Not einmal so fest geklammert, dass dieser wenigstens mit einer nicht mehr zuschlagen konnte. Sein Vater war darob so wütend geworden, dass er ihn – daran erinnerte er sich immer wieder in seinem Leben, wenn er später seinem Vater gegenüberstand – schließlich mit dem von Metallringen zusammengehaltenen Stiel des Teppichklopfers so lange und so heftig auf den Hinterkopf schlug, dass er irgendwann vor Schmerz die Hand seines Vaters losließ. Er verkroch sich flüchtend wie immer unter dem Bett der Mutter, doch es half nichts. Immer wieder schlug der Vater auf ihn ein, auf ihn, der sich zusammenkauerte und nur jene Stellen seines Körpers den Schlägen bot, die am wenigsten schmerzen würden.
Nur nicht das Gesicht, nicht in das Gesicht!
Nicht die Augen, nicht die Augen!
Zusammengerollt wie im Bauch seiner Mutter vor seiner Geburt ertrug er lautlos – er hatte früh gelernt, keinen Schmerz zu zeigen, dem Quäler nicht den Triumph seines Schmerzes zu gewähren – die von der Hand seines Vaters blind unter das Bett geführten Schläge. Warum brachen die Gerten nicht? Hatten sie kein Mitleid mit ihm? Kannte sie keine Gnade?
Die darauf folgende Nacht verbrachte er schlaflos unter dem Bett seiner Mutter, über und über mit Striemen bedeckt, an vielen Stellen blutend, ein Körper voll Schmerz und ohne Tränen.
Als er am nächsten Tag als Vorbereitung auf den Sechs-Uhr-Gottesdienst nach der Beichte die aufgetragenen Vaterunser vor dem Kreuz in der Seitenkapelle beten sollte – er hatte in der Beichte nichts von seinem körperlichen Schmerz gezeigt, obwohl er kaum knien konnte – ließ er trotzig die Vaterunser Vaterunser sein und schaute nur in das Gesicht des Gekreuzigten über ihm. Und es schien ihm, als sagte der zu ihm, dass daran nichts Unrechtes wäre. Seine Sünden hätte er gestern gebüßt. So wie er für die der Menschen gebüßt hatte.
Irgendwann hatte er begonnen zurückzuschlagen – spät und ein einziges Mal. Ab diesem Tag wagte es sein Vater nicht mehr, die Hand gegen ihn zu erheben.
Gab es da nicht auch den großen Daumen seines Vaters, an dem er sich einmal an einem jener Tage, an denen ihn die Hand, auf dem auch dieser Daumen war, geschlagen hatte, beim Einschlafen festhielt? So als ob er dort Halt finden wollte. Halt bei seinem Quäler?
Das Halten dieser schon lange nicht mehr zuschlagenden Hand seines Vaters war auch der letzte Kontakt, den er an seinem mehrwöchigen Sterbebett hatte. Die Hand sah noch genau so fest aus wie damals, als sie ihn schlug. Die Augen des Vaters sagten: „Nimm meine Hand!“ Er hob die Hand seines Vaters und legte sie auf seinen Kopf. Da war ein hilfloses Streicheln zu fühlen, ein Lächeln in den schon zerfallenden Augen. Hatte er ihn im Sterben zum ersten Mal geliebt? War die Hand, die sanft auf seinem Kopf lag die Entschuldigung für die tausenden Schläge? Seine Bitte um Verzeihung vor seinem letzten Weg?
Gibt es ein geheimnisvolles Band zwischen Opfer und Täter, das sie aneinander fesselt?
War nicht auch sein Vater ein Opfer?
Auch die Mutter schlug ihn, aber ihr Schlagen war eines der Angst, des in die Enge getrieben Seins. Er fühlte häufig in sich jenes Erbteil.
Vom Vater hatte er wenig geerbt – vielleicht die Triebhaftigkeit, die sie ihm immer wieder unterstellte, später in ihrer Beziehung, am Ende ihrer Beziehung. Zu Beginn ihrer Beziehung war diese Triebhaftigkeit kein Problem für sie. Jeden Tag hatte er sie in ihrem kleinen Studentenzimmer besucht und jeden Tag waren sie beisammen, häufig auch mehrmals.
Er war ein guter Liebhaber.
Hat sie es ihm jemals gesagt?
Der männerumspinnende Tonfall in ihrer Stimme war auch einer der Gründe, warum es ihnen in den Jahren ihres Beisammenlebens und der späteren Ehe zu anderen Ehepaaren keine dauerhaften gemeinsamen Freundschaftsbeziehungen zu knüpfen gelang. Die Frau eines Schaupielers – dieser hatte in einem seiner Theaterstücke eine Hauptrolle gespielt – sagte es ihm ohne Umschweife, als er wegen einer neuerlichen gemeinsamen Unternehmung angerufen hatte. Nach allen möglichen Gründen wie Proben, Reisen, die diese zunächst vorschob, benannte sie das seltsame Verhalten ihres Mannes in Gegenwart seiner Frau. „Er ist ohnehin schon von genug Weibern umgeben, die ihm nachstellen!“
Und seine Stimme?
Hatte er von seinem Vater nicht vielleicht auch diesen Tonfall geerbt, diesen Tonfall, in den sein Vater verfiel, wenn er mit einer anderen Frau sprach? Jenes ölig-samtig-verbindliche in seiner Stimme klang ihm auch heute noch im Ohr.
Nein, seine Stimme war weicher, weiblicher, die Stimme seiner Mutter. In dieser Stimme klang immer die Besorgtheit, die Angst vor dem Leben und vor Enttäuschungen mit. Er hatte eine ängstliche Stimme, wenn er mit ihr sprach.
In den letzten Jahren war seine Angst größer geworden, auch die Angst in seiner Stimme.
War es diese Ängste, die sie aggressiv werden ließ? Die sie zornig machte auf jenen Mann, von dem sie sich selber Hilfe und Stärke gewünscht hätte? Konnte eine Stimme Geborgenheit geben, die selber vor dem Leben Angst hatte?
Wünschte sie sich ein Raubtier und keinen Angsthasen?
Es schien ihm früher, als würde diese Stimme seines Vaters die Frauen wie ein Raubtier sein Opfer umkreisen, um sie in seinen Bann zu ziehen, ihnen die Ausweglosigkeit der Situation klar zu machen. An Flucht war dann nicht mehr zu denken.
Sein Vater war bis ins hohe Alter trotz fehlender Haare und Kriegsverletzung am Kopf, die aber kaum sichtbar war oder ihn noch interessanter machte, ein stattlicher Mensch. Er war, so würde man heute sagen, ein Womanizer. Hauptsächlich lag es aber an der Stimme seines Vaters, denn er konnte als Kind und Jugendlicher immer wieder die Blicke jener Frauen beobachten, die diese seinem Vater zuwarfen, wenn seine Stimme – häufig sogar in Gegenwart seiner Mutter und sogar in der Gegenwart des Partners der Frau – einen werbenden Unterton bekam. Er sah die manchmal auch fordernden Blicke dieser Frauen, er sah aber auch das plötzlich alt und leer werdende Gesicht seiner Mutter, und er fühlte Wut und Hass in sich aufsteigen.
Er hasste seinen Vater von Anbeginn.
Mehrmals nahm er in solchen Situationen den Kampf für seine Mutter auf, indem er plötzlich wie besessen auf irgendetwas einschlug – war es im Freien, dann köpfte er mit einem Stock oder Ast die Wiesenblumen, dass diese der beisammen stehenden Erwachsenengruppe um die Ohren flogen. Fand diese Verführungsszene in einem Raum statt, dann begann er mit seinen Füßen gegen ein Möbelstück zu treten oder begann laut zu pfeifen.
Immer hatte er von seinem Vater dafür danach Schläge bekommen, Schläge die er ohne zu Schreien erduldete, Schläge, die ihn triumphieren ließen, denn er hatte für seine Mutter eine Schlacht geschlagen und einen Sieg errungen, hatte seiner Mutter Tränen erspart. Sie weinte selten, wenn er geschlagen wurde.
Dennoch liebte er seine Mutter.
Er verstand ihre Angst.
Diese Angst lebte in ihm selber, bis zum heutigen Tag.
Den verführerischen Tonfall seines Vaters fand er in ihrer Stimme wieder, wenn sie mit anderen Männern sprach. Sie tat es – nachträglich wurde ihm das manchmal bewusst – ebenso wie sein Vater ohne Absicht, denn der Drang Herauszufordern war in ihr wie in seinem Vater. Hatte sie jemals so in seiner Gegenwart um ihn mit dieser Stimme geworben?
Dieser Tonfall einer fordernden Vertraulichkeit klang ihm auch von „ihm“ im Ohr, als er in ihrer Mailbox gelandet war.
War das die Stimme der Verführung?
Hatte er selber jemals so gesprochen?
Erkennt das nur der andere, niemals man selber?
Als Erwachsener konnte er keine Blumen köpfen oder gegen Möbelstücke schlagen, einmal trat er absichtlich unter dem Tisch einen Umworbenen und entschuldigte das Versehen. Die Irritation auf allen Seiten bestätigte seine Eifersucht. Oft gab es danach Streit zwischen ihnen, in einem nannte er sie in seiner eifersüchtigen Hilflosigkeit eine „läufige Hündin“. Diese Bezeichnung hatte seine Mutter einer besonders dreisten Geliebten meines Vaters an den Kopf geworfen, als diese in der Einfahrt des Hauses auf seinen Vater wartete.
Diese Kränkung der „läufigen Hündin“ trug sie bis zu diesen zwei Wochen und darüber hinaus mit sich. Dafür gab es keine Entschuldigung. Das fühlte er. Diese Wunde würde nie vernarben.
Wie viele Wunden hatte er ihr in all den Jahren geschlagen?
Wie kann das Versprechen, keine Wunden mehr zu schlagen, ein zerschnittenes und nur mehr schwach schlagendes Herz beruhigen, das diesem Schwur so oft geglaubt hatte und immer enttäuscht wurde?
War nun der Punkt erreicht, an welchem das Herz zum Überleben fliehen musste vor seinen Beteuerungen, seinen Schwüren und seiner Sehnsucht?